Verwaltungsrecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag gegen Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt: Wegen Scheidung kein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht erworben, Ausweisungsinteresse zu bejahen wegen Schwere der begangenen Straftaten

Aktenzeichen  10 ZB 18.2453

Datum:
10.1.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 213
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
FreizügG/EU § 3 Abs. 5 Nr. 1, Nr. 4, § 5 Abs. 4
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1 In einer Vereinbarung, wonach die Ehefrau „grundsätzlich bereit ist, nach der Haftentlassung des Klägers an Gesprächen mit dem Jugendamt teilzunehmen, die einer Umgangsanbahnung dienen“ ist keine Vereinbarung im Sinne des § 3 Abs. 5 S. 1 Nr. 4 FreizügG/EU zu sehen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei der spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BayVGH BeckRS 2017, 133203). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 18.6 2018-06-28 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. Dezember 2017 weiter, mit dem festgestellt wird, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf vier bzw. sechs Jahre befristet und seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht wird.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Zur Begründung seiner klageabweisenden Entscheidung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung sei § 5 Abs. 4 FreizügG/EU. Nach der Ehescheidung sei der Kläger kein Familienangehöriger eines Unionsbürgers mehr. Ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht habe er nicht erworben, da die Ehe bis zur Einreichung des Scheidungsantrags keine drei Jahre bestanden habe (§ 3 Abs. 5 Nr. 1 FreizügG/EU). Das persönliche Verhalten des Klägers stelle gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Sein Verhalten in der Vergangenheit lege eine hohe Rückfallgefahr nahe. Er sei innerhalb eines Jahres gegenüber seiner Ehefrau mehrfach gewalttätig geworden und habe sie mehrmals verletzt. Es sei nicht davon auszugehen, dass es sich um eine einmalige Beziehungstat gehandelt habe, die sich in Zukunft nicht wiederholen könne. Zudem sei die Gewaltproblematik des Klägers noch nicht hinreichend behandelt. Das während der Haft gezeigte Wohlverhalten habe nur bedingte Aussagekraft, da er unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens stehe. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse. Der Kläger halte sich erst seit Ende 2013 im Bundesgebiet auf. Seine Eltern und Geschwister lebten noch in der Türkei. Der Kläger habe aktuell keine durch Art. 6 GG geschützte Beziehung mit seiner Tochter. Selbst wenn er eine solche hätte, würde wegen der Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der Wiederholungsgefahr das Ausweisungsinteresse überwiegen.
Der Kläger bringt demgegenüber vor, er habe weiterhin ein Recht auf Einreise und Aufenthalt. Er habe zwar das alleinige Sorgerecht auf die Mutter übertragen, aber eine Vereinbarung mit seiner Ehefrau geschlossen, dass diese nach seiner Haftentlassung an gemeinsamen Gesprächen mit dem Jugendamt teilnehme und eine Umgangsanbahnung fördere. Inzwischen habe er über das Jugendamt bereits mehrere begleitete Umgangskontakte vereinbart. Gegenwärtig gehe von ihm nicht mehr die Gefahr der Begehung von Straftaten aus. Die Straftaten hätten sich während der Ehe ereignet. Er habe einen Täter-Opfer-Ausgleich geleistet. In der Haft habe er sich vorbildlich verhalten. Auch nach der Haftentlassung habe er sofort wieder einen Arbeitsplatz gefunden. Er zahle auch Kindesunterhalt.
Damit hat der Kläger die Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedoch nicht ernsthaft im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für das Recht des Klägers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU entfallen sind. Mit der Auflösung der Ehe am 14. April 2017 ist er nicht mehr Familienangehöriger eines Unionsbürgers nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Er hat sein Aufenthaltsrecht auch nicht nach § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 oder Nr. 4 FreizügG/EU behalten, weil die Ehe bis zur Einleitung des Scheidungsverfahrens am 19. April 2016 noch keine drei Jahre bestanden hatte und keine Vereinbarung der Ehegatten vorliegt, dass das Recht zum persönlichen Umgang mit der Tochter nur im Bundesgebiet eingeräumt wird. Der Kläger hat im Rahmen des Ehescheidungsverfahrens lediglich eine Vereinbarung abgeschlossen, wonach die Ehefrau „grundsätzlich bereit ist, nach der Haftentlassung des Klägers an Gesprächen mit dem Jugendamt teilzunehmen, die einer Umgangsanbahnung dienen“. Eine Vereinbarung im Sinne des § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 FreizügG/EU ist darin nicht zu sehen, weil sie weder dem Kläger ein Umgangsrecht einräumt noch Aussagen dazu trifft, welchen Beschränkungen die Ausübung eines etwaigen Umgangsrechts unterliege. Dass derzeit faktisch ein begleiteter Umgang des Klägers mit seiner Tochter vorbereitet wird, genügt der tatbestandlichen Voraussetzung einer entsprechenden rechtsverbindlichen Vereinbarung nicht.
Auch bezüglich der von ihm ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer Straftaten hat der Kläger die Prognose des Verwaltungsgerichts nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 f.; B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn. 14) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt.
Zu Lasten des Klägers fällt bei Berücksichtigung dieser Kriterien insbesondere ins Gewicht, dass er die Straftaten gegen seine Ehefrau wiederholt und über einen längeren Zeitraum begangen hat (sieben Übergriffe von April 2015 bis April 2016). Es handelt sich also nicht um einen einmaligen „Ausrutscher“ in einer sonst makellosen Biografie. Der Kläger hat eine Neigung zur Gewaltdelinquenz. Er hat deshalb in der Justizvollzugsanstalt an einem Anti-Gewalt-Training teilgenommen. Allerdings ist laut den Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt vom 13. April 2018 und 8. Juni 2018 die Gewaltproblematik noch nicht hinreichend behandelt und es bedarf einer therapeutischen Nachsorge bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten nach Haftentlassung. Von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr kann daher – auch mangels Nachweises des erfolgreichen Abschlusses der für erforderlich gehaltenen Psychotherapie – noch nicht ausgegangen werden. Der seit der Haftentlassung vergangene Zeitraum von fünf Monaten ist nicht ausreichend, um eine belastbare Aussage darüber zu treffen, ob der Kläger auch ohne die Kontrolle des Strafvollzugs und den Druck des Ausweisungsverfahrens in der Lage ist, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Die gelungene Reintegration in den Arbeitsmarkt ist keine Garantie dafür, dass er künftig keine (Gewalt-)Straftaten mehr begehen wird. Auch in der Vergangenheit war der Kläger erfolgreich berufstätig; dies hat ihn jedoch nicht von den wiederholten Straftaten gegenüber seiner Ehefrau abgehalten. Den zu seinen Gunsten angeführten Täter-Opfer-Ausgleich und das umfassende Geständnis hat bereits das Landgericht München I in seinem Urteil vom 18. August 2017 strafmildernd berücksichtigt und die ursprünglich vom Amtsgericht verhängte Freiheitsstrafe reduziert. Dass der Kläger für seine Tochter Unterhaltszahlungen leistet, sagt nichts über die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten aus. Bedeutung hat dies lediglich für die Bewertung des Eltern-Kind-Verhältnisses und die Abwägungsentscheidung.
Auch wenn die vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 28. Juni 2018 reduziert sein mag, weil er bislang seit der Haftentlassung keine Straftaten begangen hat, überwiegt dennoch das öffentliche Ausweisungsinteresse sein Bleibeinteresse. Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG besteht nicht mehr, weil er mit seiner Tochter, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, nicht mehr in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Seit seiner Inhaftierung besteht kein persönlicher Kontakt mehr, er hat kein Sorgerecht und keinen Umgang mit ihr. Zwar ist in die Abwägungsentscheidung einzustellen, dass der Kläger seit seiner Haftentlassung wieder einen persönlichen Kontakt zu seiner Tochter herstellen will. Diese Kontaktanbahnung bzw. ein beabsichtigter gelegentlicher begleiteter Umgang haben gegenüber dem Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft ein bedeutend geringeres Gewicht. Zudem hält sich der Kläger erst seit Ende 2013 im Bundesgebiet auf und hat während seines relativ kurzen Aufenthalts zwei Jahre und vier Monate in Haft verbracht. Nachhaltige wirtschaftliche Beziehungen im Bundesgebiet hat er nicht aufgebaut. Da er bis zu seinem 22. Lebensjahr in der Türkei gelebt hat und seine Familie dort lebt, wird ihm eine „Reintegration“ in der Türkei nicht schwer fallen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 39 Abs. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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