Verwaltungsrecht

Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Afghanistans

Aktenzeichen  Au 8 K 17.33445

Datum:
29.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 39104
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3 Abs. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 Bei der Feststellung eines national begründeten Abschiebungsverbots handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Streitgegenstand. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2 Für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige ist angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot führen würde.  (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3 Wegen der hohen Zahl der Rückkehrer aus Pakistan hat sich die Situation für Rückkehrer insgesamt verschlechtert. Dies betrifft alle Bereiche wie Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Trinkwasserversorgung, sanitäre Infrastruktur, Bildung und Erwerbsmöglichkeiten. Ohne ein starkes soziales Netzwerk oder familiäre Unterstützung ist das Leben für Jugendliche ohne bisherige selbständige Lebensführung sehr schwierig. (Rn. 29 – 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage gegen die Ziffern 1. und 3. des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2017 zurückgenommen worden ist.
II. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. Mai 2017 wird in den Ziffern 4. mit 6. aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, beim Kläger das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans festzustellen.
III. Der Kläger trägt 2/3 der Kosten des Verfahrens, die Beklagte trägt 1/3 der Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Das Gericht konnte nach § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 29. Juni 2018 entscheiden, ohne dass ein Vertreter der Beklagten daran teilgenommen hat. Die Beklagte wurde auf diese Möglichkeit mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung hingewiesen.
1. Soweit die Klage hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung und der Feststellung des subsidiären Schutzstatus in der mündlichen Verhandlung vom 29. Juni 2018 vom Kläger zurückgenommen worden ist, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO analog einzustellen (vgl. BVerwG, B.v. 7.8.1999 – 4 B 75/98 – NVwZ-RR 1999, 407).
2. Die im Übrigen zulässig erhobene Klage hat in Bezug auf die noch streitgegenständliche Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots Erfolg.
Dem Kläger steht ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Afghanistan zu. Der diesen Anspruch ablehnende Bescheid der Beklagten vom 31. Mai 2017 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14/10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 f.).
a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Die zu erwartenden schlechten allgemeinen Lebensbedingungen und die daraus resultierenden Gefährdungen weisen vorliegend eine Intensität auf, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 30285/14 – InfAuslR 2015, 212 = juris Rn. 17 ff.).
b) Gemessen hieran liegen diese besonders strengen Voraussetzungen vor.
aa) Der Kläger ist als junger Erwachsener ohne ausreichende familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan in einer besonderen Situation, die die Sicherung seines Lebensunterhalts bei einer Rückkehr nicht gewährleistet.
In der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot führen würde (BayVGH, B.v. 4.1.2018 – 13a ZB 17.31652 – juris Rn. 6). Der Verwaltungsgerichtshof geht insoweit davon aus, dass ein arbeitsfähiger, gesunder Mann, der mangels familiärer Bindungen keine Unterhaltslasten zu tragen hat, im Regelfall auch ohne nennenswertes Vermögen im Fall einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland Afghanistan in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten in seiner Heimatregion oder jedenfalls in Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
Ob von dieser als Regelfall anzusehenden Situation wegen im Einzelfall besonderer individueller Umstände des Ausländers eine abweichend zu beurteilende Ausnahmesituation vorliegt, lässt sich nicht allgemein beantworten. Es ist vielmehr eine Frage der konkreten Umstände in denen sich der Asylbewerber befindet.
Dabei ist vorliegend zum einen der Entwicklungsrückstand des Klägers zu berücksichtigen. Der Kläger ist im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG) zwar bereits volljährig. Allerdings sind dem Kläger trotz dieses Alters weiter Leistungen der Erziehungsbeistandschaft gewährt, er ist in einer sozial betreuten Einrichtung untergebracht. Auch nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung vom 29. Juni 2018 hat der Einzelrichter aufgrund des Verhaltens des Klägers die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger zu einem selbstverantwortlichen Leben nicht in vollem Umfang in der Lage ist. Auch wenn er zwischenzeitlich volljährig geworden ist, ist zu berücksichtigen, dass er weder in der Vergangenheit, als er als Minderjähriger mit der Familie zusammenlebte, noch derzeit eine allein auf sich gestellte eigenständige Lebensführung erlernt oder ausgeführt hat.
Diese Unselbständigkeit hat sich für den Einzelrichter auch überzeugend aus dem persönlichen Eindruck des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 29. Juni 2018 ergeben. Der Kläger war von einer Betreuerin der Einrichtung begleitet, eine selbständige Verantwortlichkeit des Klägers war nicht ohne weiteres erkennbar.
Zudem hat sich die Situation für Rückkehrer nach dem Bericht des UNHCR vom April 2016, aktualisiert im Dezember 2016, sowie von EASO Country of Origin Information Report Afghanistan, Key socioeconomic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazare Sharif, and Herat City von August 2017 (im Internet abrufbar) nochmals verschlechtert. Daraus ergibt sich, dass sich die Situation u.a. auch wegen der hohen Zahl an Rückkehrer aus Pakistan besonders nach Kabul weiter verschärft hat. Dies betrifft alle Bereiche wie Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Zugang zu grundlegender Versorgung wie Trinkwasser und sanitärer Infrastruktur und Bildung sowie Erwerbsmöglichkeiten. Eine Unterstützung durch die (erweiterte) Familie oder ethnische Gemeinschaft ist danach dringend erforderlich. Ein starkes soziales Netzwerk muss gegeben sein. Ohne familiäre Unterstützung ist das Leben für Jugendliche sehr schwierig (EASO, a.a.O., S. 115).
bb) Vor diesem Hintergrund ergibt sich nach der Überzeugung des Gerichts vorliegend wegen der allgemeinen Versorgungslage in Afghanistan eine existenzielle Gefahr bei einer Abschiebung des Klägers nach Kabul. Der Kläger wird ohne Hilfe nicht in der Lage sein, sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Existenzgrundlage zu schaffen.
Auch wenn in der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geklärt ist, dass ein Vertrautsein mit den Verhältnissen im Herkunftsland nicht notwendig ist, es vielmehr ausreicht, dass der Rückkehrer eine der beiden Landessprachen in Afghanistan spricht (vgl. etwa BayVGH, B.v. 3.11.2017 – 13a ZB 17.30625 – juris Rn. 5), so ist aufgrund der besonderen Umstände des Klägers vorliegend eine abweichende Beurteilung geboten. Denn des jugendlichen Alters und dem Fehlen einer bisherigen selbstständigen Lebensführung ist davon auszugehen, dass ohne die notwendige Unterstützung bei der Aufnahme von Tätigkeiten, die die Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts gewährleisten, der Kläger vor besonderen Schwierigkeiten steht.
Auf der Grundlage sämtlicher vorliegender Erkenntnismittel geht das Gericht deshalb davon aus, dass der Kläger bei einer Ausreise nach Kabul in eine existentielle Gefahr geraten würde.
3. Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO. Das Gericht bewertet die im Klageantrag verfolgten Schutzanträge jeweils gleichwertig, so dass hinsichtlich der zurückgenommenen Anträge und dem Obsiegen des Klägers hinsichtlich eines Klageantrags eine Kostenquotelung im ausgesprochenen Umfang sachgerecht ist.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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