Verwaltungsrecht

Fristversäumnis eines Rechtsunkundigen

Aktenzeichen  10 ZB 17.1323

Datum:
18.8.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 122956
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 60 Abs. 1, § 74 Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3

 

Leitsatz

1 Eine unverschuldete Fristversäumnis liegt nur dann vor, wenn den Betroffenen nach den Umständen des Einzelfalls kein Vorwurf an der Versäumnis trifft. Der Maßstab der erforderlichen Sorgfalt bestimmt sich danach, welche Anstrengungen im konkreten Fall zumutbar sind. An den juristischen Laien, der verfahrensrechtlich nicht versiert ist, dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ist dem Kläger trotz der eindeutigen Rechtsbehelfsbelehrung nicht klar, ob die Klageerhebung durch ihn persönlich oder nur mit Hilfe eines Rechtsanwalts erfolgen kann, so muss er im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht zumutbare Anstrengungen unternehmen, um sich innerhalb angemessener Frist Gewissheit über die rechtlichen Voraussetzungen für eine wirksame Klageerhebung zu verschaffen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3 Eine rechtliche Fehleinschätzung des Beteiligten über die Form- oder Fristgebundenheit eines Rechtsbehelfs ist in der Regel verschuldet. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Irrtum vermeidbar gewesen ist. Als vermeidbar gelten nach der Rechtsprechung mangelnde Rechtskenntnisse des Unkundigen, da dieser grundsätzlich verpflichtet ist, unverzüglich juristischen Rat einzuholen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 16.1770 2017-05-30 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 8. November 2016 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden ist und die Wirkungen der Ausweisung auf vier Jahre ab Ausreise befristet worden sind.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.). Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt (2.). Im Übrigen hat der Kläger im Zulassungsverfahren nicht dargelegt, dass bei unterstellter Zulässigkeit der Klage diese auch begründet gewesen wäre (3.).
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 –1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen den Bescheid vom 8. November 2016 als unzulässig abgewiesen, weil der Kläger sie nach Ablauf der Klagefrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben hat und die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach § 60 VwGO nicht vorliegen. Er habe die Klagefrist nicht unverschuldet versäumt. Er habe seine Sorgfaltspflicht vorliegend nicht erfüllt, weil es ihm zumutbar gewesen wäre, nach dem Empfang des Bescheides vom 8. November 2016 am 14. November 2016 entweder selbst Klage zu erheben oder rechtzeitig einen Rechtsanwalt damit zu beauftragen. Mangelnde Sprachkenntnisse seien nicht glaubhaft gemacht. Die Inhaftierung reiche nicht aus, um fehlendes Verschulden des Klägers zu begründen, weil sie ihn nicht gehindert habe, auf dem Postweg Klage zu erheben. Die Unterstützung durch einen Angehörigen oder Freund entbinde ihn nicht von der Verantwortung, in erster Linie selbst dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Fristen eingehalten werden. Ein etwaiges zusätzliches Verschulden seines Prozessbevollmächtigten müsse er sich gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO als eigenes Verschulden zurechnen lassen.
Demgegenüber macht der Kläger geltend, ihm sei vom Sozialarbeiter der Justizvollzugsanstalt empfohlen worden, sich einen Anwalt zu suchen. Er sei unvollständig informiert worden und auf diese Weise auf einen verhängnisvollen, zeitraubenden Weg verwiesen worden. Er habe seinem Cousin einen Brief geschrieben und um Hilfe bei der Anwaltsuche gebeten. Aufgrund der Prüfung in der Justizvollzugsanstalt habe sich der Postlauf verlängert. Der Cousin habe dem Prozessbevollmächtigten weder den Bescheid vorlegen können noch den zutreffenden Klagegegner benennen. Der rechtskundige Sozialarbeiter in der Justizvollzugsanstalt hätte dem Kläger erklären müssen, dass er seine Klage auch ohne Rechtsanwalt einlegen könne. Das Vollmachtformular sei erst am 15. Dezember 2016 in der Kanzlei eingegangen. Der Prozessbevollmächtigte habe sodann am 16. Dezember 2016 Klage erhoben und einen Wiedereinsetzungsantrag nach § 60 VwGO gestellt. Für einen Kläger in der Justizvollzugsanstalt gebe es aufgrund der Freiheitsbeschränkungen eines Gefangenen eine Reihe von Erschwernissen. Er müsse sich der Mitwirkung seiner Angehörigen bedienen. Er habe sich auch an den Sozialarbeiter der Justizvollzugsanstalt, einer Behörde, gewandt. Dieser habe den Kläger nicht vollständig informiert. Das Verschulden des Sozialarbeiters könne dem Kläger nicht zugerechnet werden. Der Prozessbevollmächtigte habe die Angelegenheit weder verzögert noch unangemessen langsam bearbeitet. Es sei zu berücksichtigen, dass die Klagefrist um lediglich zwei Tage überschritten worden sei. Wegen der bekannten bürokratischen Hemmnisse im Strafvollzug und einem nicht zögerlichen Betreiben durch den Kläger bzw. seinen damaligen Bevollmächtigten sei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Mit diesem Vorbringen werden jedoch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts aufgezeigt. Denn das Erstgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO nicht vorliegen, weil der Kläger nicht ohne sein Verschulden verhindert war, die Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO einzuhalten.
Eine unverschuldete Fristversäumnis liegt nur dann vor, wenn den Betroffenen nach den Umständen des Einzelfalls kein Vorwurf an der Versäumnis trifft. Der Maßstab der erforderlichen Sorgfalt bestimmt sich danach, welche Anstrengungen im konkreten Fall zumutbar sind. An den juristischen Laien, der verfahrensrechtlich nicht versiert ist, dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden (Czybulka in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2016, § 60 Rn. 42). Der Kläger hat nach diesen Maßstäben die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen.
Zunächst ist festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 8. November 2016 eine Rechtsbehelfsbelehrung: enthält, wonach gegen diesen Bescheid innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe Klage erhoben werden kann. Aus dieser Rechtsbehelfsbelehrung:lässt sich eindeutig entnehmen, dass für die Klageerhebung zum Verwaltungsgericht die Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten nicht zwingend erforderlich ist. Der Kläger hat nicht vorgetragen und auch nicht glaubhaft gemacht, dass er aufgrund fehlender Kenntnisse der deutschen Sprache nicht in der Lage gewesen wäre, die Rechtsbehelfsbelehrung:zu verstehen.
Ist dem Kläger trotz der eindeutigen Rechtsbehelfsbelehrung:nicht klar, ob die Klageerhebung durch ihn persönlich oder nur mit Hilfe eines Rechtsanwalts erfolgen kann, so muss er im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht zumutbare Anstrengungen unternehmen, um sich innerhalb angemessener Frist Gewissheit über die rechtlichen Voraussetzungen für eine wirksame Klageerhebung zu verschaffen. Eine rechtliche Fehleinschätzung des Beteiligten – auch über die Form- oder Fristgebundenheit eines Rechtsbehelfs – ist in der Regel verschuldet. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Irrtum vermeidbar gewesen ist. Als vermeidbar gelten nach der Rechtsprechung mangelnde Rechtskenntnisse des Unkundigen, da dieser grundsätzlich verpflichtet ist, unverzüglich juristischen Rat einzuholen (OVG NRW, B.v. 21.9.2010 – 7 A 343/10 – juris Rn. 13 m.w.N.) und eine rechtskundige Stelle einschalten (BVerwG, B.v. 9.1.1970 – IV B 71/69 – NJW 1970, 773).
Es genügt den dargestellten Sorgfaltspflichten im Falle von Rechtsunkundigkeit nicht, den Sozialarbeiter der Justizvollzugsanstalt einzuschalten. Dieser ist keine rechtskundige Stelle, da ihm eine Pflicht zur Rechtsberatung der Insassen der Justizvollzugsanstalt nicht obliegt (Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 60 Rn. 12). Der Kläger kann sich folglich nicht darauf berufen, dass die Auskunft des Sozialarbeiters zu den Voraussetzungen einer formgerechten Klageerhebung unzutreffend war. Im Übrigen fehlt es auch an der entsprechenden Glaubhaftmachung.
Auch mit der Einschaltung seines Cousins hat der Kläger die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten nicht hinreichend erfüllt. Die Grundsätze, die gemäß § 85 Abs. 2 ZPO (i.V.m. § 173 S. 1 VwGO) für die Zurechnung des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten gelten, finden entsprechend Anwendung, wenn der Betroffene andere Hilfspersonen beauftragt (BFH, U.v. 11.1.1983 – 7 R 92/80 – juris Rn. 14 ff.). Zieht ein Beteiligter zur Unterstützung Hilfspersonen zu, so ist ihm deren Verschulden nicht zuzurechnen, wenn die Zuziehung sachgerecht war und er die Hilfspersonen in zumutbarer Weise unterweist und beaufsichtigt. Die Einschaltung eines Verwandten, der bei der Anwaltsuche behilflich sein sollte, ist unter den gegebenen Umständen sicherlich sachgerecht. Allerdings hat es der Kläger unterlassen, seinen Verwandten ausreichend zu informieren und zu überwachen. Weder hat er ihm mitgeteilt, dass der zu beauftragende Anwalt gegen den Bescheid der Beklagten vom 8. November 2016 vorgehen sollte noch war der Verwandte offensichtlich über den Ablauf der Klagefrist informiert. Andernfalls hätte der Cousin sich nicht erst „nach zwei oder drei Wochen“ an den damaligen Bevollmächtigten des Klägers gewandt. Auch scheint der Kläger den Verwandten nicht dahingehend informiert zu haben, dass er einen Prozessbevollmächtigten für die Vertretung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gegen den Bescheid der Beklagten suche, da der im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht tätige Rechtsanwalt eine außergerichtliche Vollmacht und gerade keine Prozessvollmacht vorgelegt hat.
Für die Frage des Verschuldens ist es grundsätzlich unerheblich, wie viele Tage nach Ablauf der Klagefrist die Klage erhoben wird. Verzögerungen bei der Postzustellung, die dem Betroffenen in der Regel nicht angelastet werden können, wurden vom Kläger weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht.
2. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schon nicht hinreichend dargelegt. Um einen auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, warum die Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist und darlegen, warum der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (BayVGH, B.v. 13.3.2017 –10 ZB 17.226 – juris Rn. 11 m.w.N.). Dem Zulassungsvorbringen ist schon keine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage zu entnehmen. Ob die „bürokratischen Hemmnisse im Strafvollzug“ zu einer unverschuldeten Fristversäumnis und damit zu einem Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führen, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls und daher keiner grundsätzlichen Klärung zugänglich.
3. Im Übrigen kann der Antrag auf Zulassung der Berufung bereits deshalb keinen Erfolg haben, weil, selbst wenn die Klage zulässig gewesen wäre, der Kläger im Zulassungsverfahren nicht dargelegt hat, dass sie auch in der Sache Erfolg gehabt hätte. Das Verwaltungsgericht hat insoweit ausgeführt, dass der streitgegenständliche Bescheid rechtmäßig sei und keine Tatsachen ersichtlich seien, die eine andere Entscheidung rechtfertigen würden. Diesen Feststellungen ist der Kläger im Zulassungsverfahren nicht entgegen getreten.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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