Verwaltungsrecht

Kein Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten – Verletzung des Abstandsflächenrechts

Aktenzeichen  1 ZB 20.1887

Datum:
29.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1646
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 9 S. 1 Nr. 1, Art. 76 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine Verletzung des Abstandsflächenrechts nach Art. 6 BayBO genügt allein nicht, damit sich das der Bauaufsichtsbehörde gem. Art. 76 S. 1 BayBO zustehende Ermessen auf Null reduziert. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Rechtsanspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten besteht, wenn eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie Leben oder Gesundheit droht oder sonstige unzumutbare Belästigungen abzuwehren sind. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Möglichkeit des Nachbarn, seine Rechte unmittelbar gegenüber dem „Störer“ zivilrechtlich geltend zu machen, kann nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ein beachtlicher Ermessensgesichtspunkt sein. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 29 K 18.4607 2020-06-17 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Kläger begehren ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen einen Unterstand, der auf dem südlichen Nachbargrundstück ca. 0,30 cm von der Grenze entfernt errichtet wurde. Der an zwei Seiten offene Unterstand mit den Maßen 7,50 m x 5,80 m (Länge mal Breite), der einen älteren Grenzanbau ersetzt, weist ein Pultdach auf (Wandhöhe zur Nachbargrenze etwa bei 2 m) und überschreitet mit zwei anschließenden älteren Unterständen von insgesamt ca. 10 m, die früher als Unterstand für Tiere gedient haben, eindeutig die Länge einer zulässigen Grenzbebauung nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO. Auf dem klägerischen Grundstück besteht in diesem Bereich eine ca. 2 m hohe Einfriedungsmauer. Den Antrag der Kläger auf bauaufsichtliches Einschreiten lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. August 2018 ab, die dagegen erhobene Verpflichtungsklage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 17. Juni 2020 abgewiesen. Zwar verstoße der errichtete Unterstand gegen die drittschützenden Vorschriften des Abstandsflächenrechts, die Kläger hätten aber lediglich einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein bauaufsichtliches Einschreiten. Eine Ermessensreduzierung auf Null sei vorliegend nicht gegeben, die Kläger würden durch den Unterstand nicht nennenswert beeinträchtigt. Von ihrem Grundstück aus seien durch die bestehende Einfriedungsmauer im Wesentlichen lediglich die Dachflächen der drei Nebengebäude zu sehen. Die Nutzung des Unterstands führe auch nicht zu einer unzumutbaren Lärmbelästigung.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) und des Abweichens von einer obergerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) bestehen nicht oder werden nicht dargelegt.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils, die die Zulassung der Berufung rechtfertigen, sind zu bejahen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Argumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfG, B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33; B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (vgl. BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838). Das ist nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht einen Anspruch der Kläger auf bauaufsichtliches Einschreiten verneint.
Ob dem Nachbarn bei der Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift ein im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null gebundener Anspruch auf behördliches Einschreiten zusteht, entscheidet sich grundsätzlich nach Landesrecht (vgl. BVerwG, B.v. 10.12.1997 – 4 B 204.97 – NVwZ 1998, 395). Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs genügt allein eine Verletzung des Abstandsflächenrechts nach Art. 6 BayBO nicht, damit sich das der Bauaufsichtsbehörde gemäß Art. 76 Satz 1 BayBO zustehende Ermessen auf Null reduziert. Eine Ermessensreduzierung ist regelmäßig nur anzunehmen, wenn die von der rechtswidrigen Anlage ausgehende Beeinträchtigung einen erheblichen Grad erreicht und die Abwägung mit dem Schaden des Bauherrn ein deutliches Übergewicht der nachbarlichen Interessen ergibt. Ein Rechtsanspruch auf Einschreiten besteht insbesondere, wenn eine unmittelbare, auf andere Weise nicht zu beseitigende Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie Leben oder Gesundheit droht oder sonstige unzumutbare Belästigungen abzuwehren sind (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 14.10.2019 – 9 ZB 17.227 – juris Rn. 9; B.v. 15.1.2019 – 15 ZB 17.317 – juris Rn. 4; B.v. 7.9.2018 – 9 ZB 16.1890 – juris Rn. 6; B.v. 10.4.2018 – 15 ZB 17.45 – juris Rn. 19; siehe auch BayVerfGH, E.v. 3.12.1993 – Vf. 108-VI-92 – BayVBl 1994, 110).
Von diesen Grundsätzen ist das Verwaltungsgericht ausgegangen und hat zutreffend eine erhebliche Beeinträchtigung der Kläger durch den neu gebauten Unterstand verneint. Es kommt entgegen den Ausführungen im Zulassungsantrag nicht darauf an, ob der Abstandsflächenverstoß „gravierend“ ist, sondern maßgeblich ist, ob der Nachbar durch die Abstandsflächenverletzung erheblich beeinträchtigt wird. Dabei mag man im konkreten Einzelfall bereits aus dem Ausmaß der Abstandsflächenverletzung eine erhebliche Beeinträchtigung des Nachbarn ableiten können. Das ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Soweit die Kläger auf die Entscheidung des Senats vom 8. März 2007 (1 ZB 06.898) Bezug nehmen, ergab sich hier aus der Abstandsflächenverletzung mit einer Nichteinhaltung der Abstandsflächen von mindestens 1 m bzw. 1,30 m über die gesamte Länge einer rund 19 m langen Außenwand, die 4,50 m bzw. 6,30 m hoch war, die erhebliche Beeinträchtigung des Nachbarn. Vorliegend hat das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass die Unterstände auf dem Nachbargrundstück durch die hohe Einfriedungsmauer auf dem klägerischen Grundstück größenteils nicht sichtbar sind und damit eine Riegelwirkung oder ein Einmauerungseffekt auf das Nachbargrundstück nicht entstehen kann. Diese Beurteilung kann aus den Bildaufnahmen in der Behördenakte (vgl. S. 6 ff.) nachvollzogen werden. Es konnte bei den Auswirkungen der Rechtsverletzung auf die Nachbarn auch berücksichtigt werden, dass der neu errichtete Unterstand nicht erstmals die Abstandsflächenvorschriften verletzt, sondern an dieser Stelle bisher eine „Jagdhütte“ bestand, die eine höhere Wandhöhe zur Nachbargrenze aufwies. Mit dem Vortrag, dass die Kläger durch den nicht geringen „Maschinenlärm“ beeinträchtigt würden, liegt bereits kein substantiierter Vortrag vor (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Bei der Nachprüfung der Ermessensentscheidung der Behörde ist das Gericht daher zu Recht davon ausgegangen, dass keine Ermessensfehler vorliegen. Da eine erhebliche Beeinträchtigung der Kläger durch die Abstandsflächenverletzung nicht vorliegt, mussten die Interessen des Bauherrn nicht mehr ausführlicher gewürdigt werden.
Die Kläger werden durch die Ablehnung eines behördlichen Einschreitens auch nicht schutzlos gestellt. Der Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Kläger die Möglichkeit haben, gegen die Abstandsflächenverletzung zivilrechtlich vorzugehen. Die Möglichkeit, seine Rechte unmittelbar gegenüber dem „Störer“ zivilrechtlich (§§ 1004, 906, 823 Abs. 2 BGB) geltend zu machen, kann nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ein beachtlicher Ermessensgesichtspunkt sein (vgl. BVerwG, B.v. 10.12.1997 – 4 B 204.97 – NVwZ 1998, 395). Das gilt insbesondere wenn wie vorliegend hauptsächlich das nachbarrechtliche Gemeinschaftsverhältnis berührt ist. Soweit die Kläger beanstanden, dass das Regenwasser vom Dach des Unterstands in und unter die Gartenmauer laufe, so dass die Beschädigung der Mauer drohe, gehen sie selbst davon aus, dass dadurch zivilrechtliche Ansprüche betroffen sind.
2. Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache liegt nicht vor. Einer Rechtssache kommt grundsätzliche Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung geklärt werden muss. Mit dem Zulassungsantrag sind die einzelnen Voraussetzungen darzulegen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Legt man den Zulassungsantrag wohlwollend so aus, dass damit geklärt werden soll, ob eine nicht nur geringfügige Verletzung der Abstandsflächenvorschriften zu einem Anspruch des Nachbarn auf bauaufsichtliches Einschreiten führt, wird weder eine Klärungsbedürftigkeit noch eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage dargelegt. Wie oben dargestellt, besteht eine einheitliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu der Frage, unter welchen (allgemeinen) Voraussetzungen ein Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten anzunehmen ist. Dass diese Rechtsprechung aufgrund neuer zu berücksichtigender Umstände oder Maßgaben fortentwickelt werden müsste, wird nicht ansatzweise dargelegt. Es genügt nicht die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu kritisieren. Weiter tragen die Kläger selbst vor, dass es für die Ermessensausübung gemäß Art. 76 Satz 1 BayBO auf eine Abwägung der Interessen des Bauherrn und der Nachbarn und damit auf die konkreten Umstände des Einzelfalls ankommt, die einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich sind.
3. Die Berufung ist nicht wegen einer Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuzulassen. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass das angefochtene Urteil mit einem seine Entscheidung tragenden, abstrakten Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz eines in der Vorschrift genannten Gerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Im Zulassungsantrag muss ein abstrakter Rechtssatz des angefochtenen Urteils herausgearbeitet werden und einem Rechtssatz des anderen Gerichts unter Darlegung der Abweichung gegenübergestellt werden. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechtssätzen genügt den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenzrüge hingegen nicht (vgl. BVerwG, B.v. 20.4.2017 – 8 B 56.16 – juris Rn. 5; B.v. 18.5.1993 – 4 B 65.93 – NVwZ 1993, 1101).
Es werden mit dem Zulassungsantrag keine abstrakten Rechtssätze herausgearbeitet, die in Widerspruch zueinanderstehen. Insbesondere ist der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 8. März 2007 (1 ZB 06.898) nicht der Rechtssatz zu entnehmen, dass eine nicht nur geringfügige Verletzung der Abstandsflächenvorschriften zur Ermessensreduzierung auf Null führt, sondern der Senat hat die bestehende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zugrunde gelegt und von dieser ausgehend im konkreten Fall eine erhebliche Beeinträchtigung der nachbarlichen Interessen durch die Abstandsflächenverletzung angenommen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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