Verwaltungsrecht

Kein Anspruch eines nigerianischen Staatsangehörigen auf Erteilung einer Duldung im Wege der einstweiligen Anordnung

Aktenzeichen  10 CE 20.60

Datum:
21.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 1190
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123 Abs. 1, § 146 Abs. 4
AufenthG § 25 Abs. 5, § 60a Abs. 2
GG Art. 6
EMRK Art. 8
GKG § 66, § 68
RVG § 13 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Ist nicht ersichtlich, dass die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers unmittelbar bevorsteht, weil sich nicht absehen lässt, wann das Ergebnis einer Urkundenprüfung vorliegen wird, und ist die Ausländerbehörde bereits zur vorläufigen Duldung des Ausländers bis zum Vorliegen des Ergebnisses der Urkundenprüfung verpflichtet worden, besteht für die auf Erteilung einer darüber hinausgehenden Duldung gerichtet einstweilige Anordnung kein Anordnungsgrund (vgl. VGH München BeckRS 2019, 982). (Rn. 6) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Ein Ausländer hat mit Blick auf Art. 6 GG nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung seiner familiären Bindungen daran gehindert zu werden, bei seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen Aufenthalt zu nehmen. Allerdings reicht allein der Umstand, dass Familienangehörige eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müssen, für eine Unzumutbarkeit auch unter Berücksichtigung des Schutzes von Ehe und Familie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht aus (vgl. VGH München BeckRS 2018, 35602) (Rn. 7) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Können die Folgen einer nur vorübergehenden Trennung zur Nachholung des Visumverfahrens für die Vater-Kind-Beziehung und das Kindeswohl nicht beurteilt werden, weil der voraussichtliche Trennungszeitraum noch offen ist, bestehen andererseits jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass es der Ausländerbehörde nach Bekanntwerden des Ergebnisses einer Urkundenprüfung nicht möglich wäre, den Trennungszeitraum abzuschätzen (vgl. VGH München BeckRS 2019, 3414), ist für eine Aussetzung der Abschiebung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Erteilung eines Aufenthaltstitels kein Raum. (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Bei der Streitwertbeschwerde eines Rechtsanwalts ist für die Beschwerdesumme der Betrag maßgebend, um den sich im Falle des Erfolgs der Beschwerde seine Gesamtvergütung (Gebühren und Auslagen einschließlich anfallender Umsatzsteuer) erhöhen würde. Dabei kommt es auf die Gebühren an, die dem Rechtsanwalt tatsächlich zustehen würden (vgl. VGH München BeckRS 2014, 50500). (Rn. 12) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

Au 6 E 19.1935 2019-12-09 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Verfahren 10 CE 20.60 und 10 C 20.61 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
II. Die Beschwerde im Verfahren 10 CE 20.60 wird zurückgewiesen und die Beschwerde im Verfahren 10 C 20.61 wird verworfen.
III. Die Kosten der Beschwerdeverfahren trägt der Antragsteller.
IV. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren 10 CS 20.60 wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerden des Antragstellers, mit denen er sich gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 9. Dezember 2019, soweit sein Antrag auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde (1.), sowie gegen die Streitwertfestsetzung (2.) wendet, bleiben ohne Erfolg.
1. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg, mit dem seinem Antrag auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung nur insoweit entsprochen wurde, als der Antragsgegner zur vorläufigen Duldung des Antragstellers bis zur Mitteilung des Ergebnisses der am 14. November 2019 vom Antragsgegner beim Deutschen Generalkonsulat in Lagos eingeleiteten Urkundenüberprüfung verpflichtet, im Übrigen der Antrag aber abgelehnt wurde (Ziffer I.), ist zulässig, aber unbegründet. Die vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
Das Verwaltungsgericht hat den Eilantrag auf Erteilung einer einstweiligen Duldung für den Zeitraum nach dem Vorliegen des Ergebnisses der Urkundenüberprüfung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, da hierfür weder ein verfahrensmäßiger Duldungsgrund noch eine materieller Duldungsanspruch bestehe. Da Dauer und Ausgang des Urkundenüberprüfungsverfahrens offen seien, hätten weder der Antragsgegner noch das Verwaltungsgericht eine Vorstellung entwickeln können, wie lange die Nachholung des Visumverfahrens dauere und ob die damit einhergehende Trennung zumutbar sei. Andererseits könne der Antragsteller angesichts seiner langjährigen und hartnäckigen Täuschung in Bezug auf seine Identität nicht darauf vertrauen, dass der Antragsgegner von der Nachholung des Visumverfahrens absehen werde. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG stehe die Titelerteilungssperre nach § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegen. Zudem erfülle der Antragsteller für die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1a und Nr. 2 AufenthG nicht.
Der Antragsteller macht mit seiner Beschwerde geltend, dass sich vorliegend die Dauer des Visumverfahrens auch nach Abschluss des Urkundenüberprüfungsverfahrens nicht hinreichend sicher abschätzen lasse und ihm aufgrund seiner familiären Bindungen eine auch nur vorübergehende Ausreise wie etwa zur Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar sei. Der Antragsteller habe täglichen Kontakt zu seinem minderjährigen Kleinkind und nehme laufend Erziehungsaufgaben wahr. Hinzu komme, dass nicht ersichtlich sei, dass der Antragsgegner im Visumverfahren die erforderliche Zustimmung erteilen werde, zumal der Antragsteller mittlerweile zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt worden sei.
Mit diesem Vorbringen hat der Antragsteller weder einen Anordnungsgrund (1.1.) noch einen Anordnungsanspruch (1.2) auf Erteilung einer (vorläufigen) Duldung bis zur Rechtskraft der Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
1.1. Es besteht bereits kein Anordnungsgrund, weil der Antragsgegner vom Verwaltungsgericht zur Erteilung einer vorläufigen Duldung bis zum Vorliegen des Ergebnisses der am 14. November 2019 eingeleiteten Urkundenüberprüfung verpflichtet wurde. Die Abschiebung des Antragstellers kann demnach derzeit nicht vollzogen werden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass eine Aufenthaltsbeendigung unmittelbar bevorsteht (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2019 – 10 CE 18.1871 u.a. – juris Rn. 20; B.v. 22.7.2008 – 19 CE 08.781 – juris Rn. 29), da sich derzeit nicht absehen lässt, wann das Ergebnis der Urkundenprüfung vorliegen wird.
1.2. Der Antragsteller hat aber auch den für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderlichen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Die Abschiebung eines Ausländers ist nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Das Verwaltungsgericht hat im Ausgangspunkt zu Recht darauf hingewiesen, dass weder Art. 6 Abs. 1 und 2 GG noch Art. 8 Abs. 1 EMRK das Recht auf Einreise und Aufenthalt gewährleisten und dies auch für den Nachzug zu berechtigterweise in Deutschland lebenden Familienangehörigen gilt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei ihren aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Ein betroffener Ausländer hat mit Blick auf Art. 6 GG nicht hinzunehmen, unter unverhältnismäßiger Vernachlässigung seiner familiären Bindungen daran gehindert zu werden, bei seinen im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen Aufenthalt zu nehmen. Allerdings reicht allein der Umstand, dass Familienangehörige eine vorübergehende Trennung für die übliche Dauer des Visumverfahrens hinnehmen müssen, jedoch für eine Unzumutbarkeit auch unter Berücksichtigung des Schutzes der Ehe und Familie durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht aus (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2014 – 19 CS 14.1576 – juris Rn. 41, B.v. 21.7.2015 – 10 CS 15.859 u.a. – juris Rn. 67; B.v. 19.6.2018 – 10 CE 18.993 u.a. – juris Rn. 5; B.v. 17.12.2018 – 18.2177 – juris Rn. 26).
Hiervon ausgehend hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass die Folgen einer – wie hier – nur vorübergehenden Trennung zur Nachholung des Visumverfahrens für die Vater-Kind-Beziehung und das Kindeswohl derzeit nicht beurteilt werden können (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 13; B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 33; B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 22), weil der voraussichtliche Zeitraum der Trennung wegen des noch laufenden Urkundenüberprüfungsverfahrens (noch) offen ist. Allerdings ergeben sich entgegen der Ansicht des Antragstellers keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, dass es dem Antragsgegner nach dem Vorliegen des Ergebnisses der Prüfung nicht möglich wäre, eine konkrete Vorstellung davon zu entwickeln, von welchem Trennungszeitraum für die Durchführung des Visumverfahrens auszugehen sein wird (vgl. hierzu: BayVGH, B.v. 20.6.2017 – 10 C 17.744 – juris Rn. 10; B.v. 20.2.2019 – 10 CE 19.310 u.a. – juris Rn. 6). Von daher ist für eine weiterreichende Aussetzung der Abschiebung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die beantragte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis kein Raum. Unbehelflich ist insofern der Hinweis des Antragstellers auf die Merkblätter der Deutschen Botschaft in Accra (Ghana), weil für den zu erwartenden Trennungszeitraum die Dauer des Visumverfahrens bei der deutschen Auslandsvertretung in Nigeria (hier: Deutsches Generalkonsulat in Lagos) maßgeblich ist. Angesichts der Einlassung des Antragsgegners im vorliegenden Eilverfahren (s. Antragserwiderung v. 19.11.2019, Bl. 98-124 der VG-Akte) sowie im Bescheid vom 29. November 2019, mit dem die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und einer Duldung abgelehnt wurden (Bl. 164-198 der VG-Akte), kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Ausländerbehörde der Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung nicht zustimmen wird. Vielmehr betont die Ausländerbehörde, dass “die Argumentation, dass der Antragsteller befürchte, dass das Visum zur erneuten Einreise abgelehnt werden würde, (.) nicht nachvollzogen werden (kann), da der Antragsteller nach erfolgter Ausreise einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hat, da er Vater von zwei minderjährigen deutschen Kindern ist” (s. B.v. 29.11.2019, S. 32 = Bl. 196 der VG-Akte).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren 10 CE 20.60 beruht auf § 47 Abs. 1, § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2018 – 10 CE 18.1335 – juris Rn. 18 f.; B.v. 19.6.2018 – 10 CE 18.993 u.a. – juris Rn. 9).
2. Die Beschwerde der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers gegen die Streitwertfestsetzung im Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 9. Dezember 2019 (Ziffer III.) ist gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 2 Satz 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 200,- Euro nicht übersteigt (§ 68 Abs. 1 Satz 1 GKG) und das Verwaltungsgericht, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Beschwerde auch nicht gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 GKG zugelassen hat.
Maßgebend für die Berechnung der Beschwerdesumme ist die Differenz der aus den verschiedenen Streitwerten resultierenden Gebühren. Bei der Beschwerde eines Rechtsanwalts ist für die Beschwerdesumme der Betrag maßgebend, um den sich im Falle des Erfolgs der Beschwerde seine Gesamtvergütung (Gebühren und Auslagen einschließlich anfallender Umsatzsteuer) erhöhen würde. Dabei kommt es auf die Gebühren an, die dem Rechtsanwalt tatsächlich zustehen würden (vgl. BayVGH, B.v. 1.4.2014 – 10 C 14.550 – juris Rn. 4 m.w.N.; B.v. 3.9.2013 – 6 C 13.1598 – juris Rn. 2 m.w.N.). Nach § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG i.V.m. Nr. 3100 Teil 3 Abschnitt 1 der Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG erhält der Rechtsanwalt für seine Tätigkeit im Verfahren im ersten Rechtszug eine 1,3-fache Verfahrensgebühr. Diese beträgt bei einem Streitwert von 1.250,- Euro zuzüglich Umsatzsteuer 177,91 Euro. Bei einem Streitwert von 2.500,- Euro beläuft sich die 1,3-fache Verfahrensgebühr zuzüglich Umsatzsteuer auf 310,95 Euro. Der hieraus zu ermittelnde Differenzbetrag in Höhe von 133,04 Euro liegt unter der Beschwerdesumme von 200,- Euro.
Das Verfahren ist nach § 68 Abs. 3 Satz 1 GKG gebührenfrei. Kosten werden gemäß § 68 Abs. 3 Satz 2 GKG nicht erstattet (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2018 – 10 C 18.2582 – juris Rn. 5).
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG, § 152 Abs. 1 VwGO).


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