Verwaltungsrecht

Rechtmäßigkeit einer Ausweisung und Abschiebung in die Türkei – Verurteilung wegen auf einer Suchterkrankung beruhenden Straftat

Aktenzeichen  10 ZB 18.1990

Datum:
17.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 27392
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 3, Abs. 5, § 53 Abs. 1, Abs. 3
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 4

 

Leitsatz

Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung beruhen oder mit einer Suchtproblematik in Zusammenhang stehen, kann von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange nicht der Ausländer eine entsprechende Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 1 K 17.1256 2019-09-17 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 31. Juli 2017 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung in die Türkei angeordnet bzw. bei nicht fristgerechter Ausreise nach Haftentlassung angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf neun Jahre befristet wurde. Anlass der Ausweisung war eine Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Augsburg vom 16. Januar 2017 wegen einer Anzahl von Betäubungsmittel-Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und acht Monaten; außerdem wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, noch liegen die Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO oder des Abweichens von einer Entscheidung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte vor.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
a) Die Einwendungen gegen die durch das Verwaltungsgericht getroffene Gefahrenprognose im Rahmen der Ausweisung (§ 53 Abs. 1, Abs. 3 AufenthG) greifen nicht durch.
Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen seiner Gefahrenprognose festgestellt, der Kläger befinde sich durch die ihm bescheinigten guten Ansätze und Fortschritte in seiner (nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung „wohl bis 2023“ dauernden) Drogentherapie auf einem guten Weg, doch bestehe weiterhin noch eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Der Kläger sei bereits seit dem Jugendalter strafrechtlich verurteilt worden, zum Teil wegen schwerer Straftaten aus dem Bereich der Gewalt- und Betäubungsmitteldelikte. Alle Verurteilungen, insbesondere eine voll verbüßte Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten, sowie eine bereits 2010 verfügte und 2013 im Gerichtsverfahren wieder aufgehobene Ausweisung hätten den Kläger nicht von weiteren Straftaten abgehalten. Er sei zudem Bewährungsversager. Eine psychiatrische Sachverständige habe im Strafverfahren bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit klinisch relevanter Psychopathie sowie erhebliche narzisstische Züge bescheinigt. Diese sei ebenso wie seine Suchtproblematik bezüglich Drogen noch nicht erfolgreich therapiert worden. Bei seiner Drogentherapie lägen erste positive Ansätze vor, doch sei ein erfolgreicher Abschluss noch nicht absehbar (UA S. 10-13).
In der Begründung des Zulassungsantrags hebt der Kläger – wie schon gegenüber dem Verwaltungsgericht – erneut seine nach seiner Meinung „rekordverdächtigen“ Fortschritte seiner Therapie hervor. Er habe bereits die Lockerungsstufe B2 erreicht und werden demnächst B3 erhalten; als Perspektive könne sich somit sogar alsbald die Lockerungsstufe C ergeben, die ihm etwa unbegleitete Ausgänge aus der Therapieeinrichtung ermöglichen würde. Bezüglich einer weiteren gegen ihn erhoben Anklage vom 18. Juni 2018 wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in der Justizvollzugsanstalt habe er mehrfach betont, dass der Vorwurf nicht zutreffe. Außerdem wirke er durch eine Zeugenaussage an der Aufklärung von weiteren Straftaten mit.
Mit diesem Vorbringen kann der Kläger nicht in Frage stellen, dass von ihm nach wie vor eine konkrete Gefahr der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten im Sinn von § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG ausgeht. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend auf die ständige Rechtsprechung des Senats (vgl. B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25; B.v. 14.6.2019 – 10 ZB 19.826 – juris Rn. 6; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12) abgestellt, wonach gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung beruhen oder mit einer Suchtproblematik in Zusammenhang stehen, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange nicht der Ausländer eine entsprechende Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Denn solange er sich nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde. Der Kläger ist, wie er selbst darlegt, von einem Abschluss der Therapie noch weit entfernt; bisherige erfolgversprechende Ansätze genügen aber nicht, um einen erfolgreichen Abschluss und damit eine therapeutische Aufarbeitung der deliktsursächlichen Defizite sowie im Anschluss daran eine gesicherte Straffreiheit zu prognostizieren. Der Kläger hat auch keinen Anspruch darauf, im Rahmen des Strafvollzugs bzw. in der Therapieeinrichtung so lange therapiert zu werden, bis ihm möglicherweise schließlich eine günstige Sozialprognose im Hinblick auf eine Rückfallgefährdung bescheinigt werden kann (BayVGH, B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 17; OVG Saarl, B.v. 28.5.2019 – 41/19 – juris Rn. 13 m.w.N.). Das Strafverfahren aus der Anklage vom 18. Juni 2018 hat das Verwaltungsgericht nicht in seine Prognose einbezogen. Die Zeugenaussage in einem anderen Strafverfahren ist kein Anhaltspunkt bezüglich der vom Kläger ausgehenden Gefahr.
b) Ebenso ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils, soweit dieses die ermessensfehlerfreie Bemessung der Frist des § 11 Abs. 2, Abs. 3 AufenthG (in der damals geltenden Fassung – a.F.) bzw. § 11 Abs. 3 i.V.m. Abs. 5 AufenthG (in der seit 21.8.2019 geltenden Fassung – n.F.) festgestellt hat. Der Kläger ist der Meinung, bei der Bestimmung der Frist handele es sich entgegen der gesetzlichen Regelung des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG a.F. bzw. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG n.F. nicht um eine Ermessensentscheidung, sondern um eine gebundene Entscheidung; er beruft sich hierzu auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 9. Dezember 2015 (11 S 1857/15 – juris). Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung kann er damit jedoch nicht darlegen; er räumt selbst ein, dass ihm die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 18) und des Senats (U.v. 12.7.2016 – 10 BV 14.1818 – juris Rn. 63 ff) bekannt ist. Der Kläger trägt nichts vor, was diese Rechtsprechung in Frage stellen könnte. Soweit der Kläger noch meint, die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei unverhältnismäßig und viel zu hoch, weil er als faktischer Inländer anzusehen sei, setzt er sich in keiner Weise mit den ausführlichen diesbezüglichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts (UA S. 17-19) auseinander.
2. Der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt ebenfalls nicht vor bzw. ist schon nicht hinreichend dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
Zur Darlegung der besonderen Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) sind die entscheidungserheblichen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen in fallbezogener Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts konkret zu benennen, die diese Schwierigkeiten aufwerfen, und es ist anzugeben, dass und aus welchen Gründen die Beantwortung dieser Fragen besondere Schwierigkeiten bereitet. Es ist eine Begründung dafür zu geben, weshalb die Rechtssache an den entscheidenden Richter (wesentlich) höhere Anforderungen stellt als im Normalfall (BayVGH, B.v. 9.5.2019 – 10 ZB 19.317 – juris Rn. 9; B.v. 20.2.2019 – 10 ZB 18.2343 – juris Rn. 18; Roth in BeckOK Posser/Wolff, VwGO, Stand: 1.7.2019, § 124a Rn. 75 m.w.N.).
Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht. Der Kläger legt nicht hinreichend konkret dar, welche der geltend gemachten Umstände in seinem Fall wesentlich höhere Anforderungen an den Tatrichter stellen. Er verweist insoweit lediglich auf seine „höchst erfreuliche Entwicklung“ in der Drogentherapie und beantragt, „zum Beweis der Heilung des Klägers“ ein Sachverständigengutachten einzuholen. Der Kläger berücksichtigt nicht, dass die Therapie noch auf unabsehbare Zeit andauert und damit von einer „Heilung“ nicht gesprochen werden kann. Besondere Schwierigkeiten in der Sachverhaltsfeststellung und -bewertung sind nicht erkennbar.
3. Auch die Divergenzrüge (§ 124 abs. 2 Nr. 4 VwGO) greift nicht durch.
Die Darlegung einer Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erfordert, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechts- oder Tatsachensatz bezeichnet wird, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abgewichen ist. Die divergierenden Sätze sind einander so gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 22.3.2019 – 10 ZB 18.2598 – juris Rn. 18; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn in der angegriffenen Entscheidung ein in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellter Grundsatz lediglich übersehen, übergangen oder in sonstiger Weise nicht richtig angewandt worden ist (BVerwG, B.v. 20.7.2016 – 6 B 35.16 – juris Rn. 12 m.w.N).
Diesen Anforderungen wird die Zulassungsbegründung nicht gerecht.
a) Der Kläger beruft sich hinsichtlich der Möglichkeit, ihn auszuweisen, auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 17. April 2018 (C-316/16, C-424/16 – juris), aus dem er ausführlich zitiert. Der EuGH ist jedoch schon kein Gericht, das in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannt ist, und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern das Verwaltungsgericht hiervon abgewichen sein sollte. Das Urteil des EuGH betrifft nur Unionsbürger; indem der Kläger der Meinung ist, als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger wäre er Unionsbürgern gleichgestellt, legt er keine Divergenz dar, im Übrigen trifft diese Ansicht nicht zu (EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – juris).
b) Bezüglich der Bemessung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots beruft sich der Kläger auf das Urteil des Senats vom 27. Juni 2011 (10 B 10.1976 – juris) und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 1. März 2018 (58681/12, Ejimson/Deutschland – NVwZ 2019, 945); in dem diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Fall sei lediglich eine Frist von fünf Jahren bestimmt worden. Auch hier ist jedoch nicht ersichtlich, inwiefern das Verwaltungsgericht hiervon abgewichen sein sollte. Weder der Senat noch der EGMR – der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ohnehin nicht genannt ist – haben einen diesbezüglichen Rechtssatz aufgestellt. Im Übrigen hatte der Kläger des dortigen Verfahrens ein minderjähriges Kind, so dass schon deswegen dort das Ermessen in anderer Weise auszuüben war als im Fall des kinderlosen Klägers des vorliegenden Verfahrens.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren unter Beiordnung seines Bevollmächtigten war mangels hinreichender Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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