Verwaltungsrecht

Tatsachenfeststellung bei Anordnung einer polizeiärztlichen Untersuchung

Aktenzeichen  M 5 E 17.4178

Datum:
20.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 30607
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
BayBG Art. 65 Abs. 2 S. 1, Art. 128 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Die an einen Beamten gerichtete Anordnung, sich zur Klärung von Zweifeln hinsichtlich seiner Dienstunfähigkeit ärztlich untersuchen zu lassen, muss sich auf solche Umstände beziehen, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, der betroffene Beamte sei dienstunfähig oder jedenfalls nur begrenzt dienstfähig. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Anordnung muss nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit inhaltlichen und formellen Anforderungen genügen. Die Schilderung eines insgesamt singulären Ereignisses in der Freizeit des Beamten, aus dem der Dienstherr auf mehrere Akte alkoholbedingten Fehlverhaltens schließt, reicht dafür nicht aus. (Rn. 29 – 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antragsteller wird vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss eines (noch durchzuführenden) Hauptsacheverfahrens von der Verpflichtung zur Durchführung einer polizeiärztlichen Untersuchung gemäß der Anordnung des Polizeipräsidiums M … vom … Juli 2017 freigestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf EUR 2.500,- festgesetzt.

Gründe

I.
Der 1962 geborene Antragsteller steht als Polizeihauptkommissar (Besoldungsgruppe A 12) in Diensten des Antragsgegners.
Das Polizeipräsidium M … forderte den Antragsteller mit Schreiben vom … Juli 2017 auf, sich am … Juli 2017 vom Ärztlichen Dienst der Bayerischen Polizei amts-/ polizeiärztlich untersuchen zu lassen. Als Anlass hierzu war angegeben:
„Vom …04. bis …04.2017 befanden Sie sich mit 22 weiteren Kollegen, auf Einladung des Erzbischöflichen Ordinariats … und der Polizeiseelsorge Bayern, zu Besinnungstagen in Rom. In diesem Zusammenhang wurde mit Schreiben vom …05.2017 (…) mitgeteilt, dass während eines Gottesdienstes am …04.2017 von 08:00 Uhr bis 08:30 Uhr in der Hauskapelle auffiel, dass Sie stark alkoholisiert waren, da Sie teilweise während des Gottesdienstes schliefen bzw. plötzlich zur Seite wegkippten. Es wurde bekannt, dass Sie die gesamte Nacht dem Alkohol zugesprochen haben. Auch in der Folgezeit nahmen Sie wieder Alkohol in Form von Bier und Wein zu sich.“
Der Antragsteller stellte sich am … Juli 2017 beim Ärztlichen Dienst vor, war jedoch nicht bereit, Labordiagnostik (d.h. Blutentnahme und Haarprobenentnahme zur Durchführung einer Haaranalyse auf Alkoholabbauprodukte) vornehmen zu lassen. Deswegen teilte der Ärztliche Dienst mit, dass die im Untersuchungsauftrag vom … Juni 2017 gestellten Fragen (u.a. nach Alkoholproblemen) derzeit nicht beantwortet werden könnten (Gesundheitszeugnis vom …7.2017).
Mit Schreiben vom … Juli 2017 wurde der Antragsteller erneut aufgefordert, sich am … September 2017 zur Überprüfung seiner Polizeidienstfähigkeit amts-/polizeiärztlich untersuchen zu lassen. Zum Untersuchungsanlass wurde ausgeführt:
„Der Sachverhalt, der zur polizeiärztlichen Untersuchung führt, wurde Ihnen bereits mit Schreiben vom …07.2017 (…) mitgeteilt und liegt nochmals als Anlage bei.“
Mit Schreiben vom … September 2017 ließ der Antragsteller seinen Bevollmächtigten das Polizeipräsidium M … – erfolglos – auffordern, die Untersuchungsanordnung bis zum … September 2017 zurückzunehmen, da diese nicht rechtmäßig sei.
Am 4. September 2017 hat der Bevollmächtigte des Antragstellers für diesen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München folgenden Antrag gestellt:
Der Antragsteller wird vorläufig von der Verpflichtung der Durchführung einer polizeiärztlichen Untersuchung aufgrund der Untersuchungsanordnung des Polizeipräsidiums M … vom … Juli 2017 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens über die Feststellung der Verpflichtung des Antragstellers, die Untersuchungsanordnung vom … Juli 2017 zu befolgen, freigestellt.
Der Antragsgegner habe keine Umstände dargelegt, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründeten, der Antragsteller sei dienstunfähig. Es habe sich in Rom um eine private Veranstaltung gehandelt, auch wenn eine Reihe weiterer Kollegen ebenfalls teilgenommen hätten. Dem Antragsteller sei es auch als Polizeibeamten nicht untersagt, privat Alkohol zu konsumieren. Auch ein einmaliger alkoholbedingter „Rausch“ sei als sozialadäquat anzusehen. Irgendwelche weiteren Umstände (außer, dass der Antragsteller auch in der Folgezeit wieder Alkohol zu sich genommen habe), die Zweifel an der Dienstfähigkeit des Antragstellers begründen könnten, seien vom Antragsgegner nicht dargelegt worden.
Wegen des unmittelbar bevorstehenden Untersuchungstermins bestehe ein Anordnungsgrund.
Den Untersuchungstermin am … September 2017 nahm der Antragsteller nicht wahr.
Das Polizeipräsidium M … hat für den Antragsgegner mit Schriftsatz vom 8. September 2017 die Akten vorgelegt und beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Die Teilnahme an der Veranstaltung sei zwar in der Freizeit und auf eigene Kosten der Beamtinnen und Beamten erfolgt. Jedoch sei allen bekannt gewesen, dass es sich bei der Reisegruppe um Polizeibeamtinnen und -beamte gehandelt habe. Die komplette Reise sei in einem derart engen dienstlichen Kontext gestanden, dass auch der alkoholbedingte Ausfall des Antragstellers vor diesem Hintergrund nicht rein privater Natur gewesen sei. Vielmehr sei sein Verhalten im Gottesdienst negativ auf die restliche Reisegruppe und damit auf das Polizeipräsidium M … zurückgefallen. Er habe wegen des Vorfalls vorerst nicht am restlichen Programm teilnehmen dürfen und trotzdem am Nachmittag bei der weiteren Programmteilnahme mit der Gruppe wieder Alkohol in Form von Bier und Wein zu sich genommen.
Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegte Behördenakten verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist statthaft, weil es sich bei der Anordnung gegenüber einem (Polizei-) Beamten, sich gemäß Art. 65 Abs. 2 Satz 1 Bayerisches Beamtengesetz (BayBG) (i.V.m. Art. 128 Abs. 1 BayBG) zur Klärung der (Polizei-) Dienstfähigkeit (polizei-) ärztlich untersuchen und, falls ein Amtsarzt dies für erforderlich hält, beobachten zu lassen, mangels unmittelbarer Rechtswirkung nach außen nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne von Art. 35 Satz 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG), sondern um eine gemischt dienstlich-persönliche Weisung handelt. Die Gewährung vorläufigen Rechtschutzes richtet sich daher nach § 123 VwGO (vgl. BayVGH, B. v. 22.9.2015 – 3 CE 15.1042 – juris Rn. 22).
2. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung des Rechts der Antragspartei vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 des § 123 Abs. 1 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, notwendig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl einen Anordnungsgrund, das heißt ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes in Form der Gefährdung eines eigenen Individualinteresses, als auch einen Anordnungsanspruch voraus, das heißt, die bei summarischer Überprüfung der Sach- und Rechtslage hinreichende Aussicht auf Erfolg oder zumindest einen Teilerfolg des geltend gemachten Begehrens in der Hauptsache. Die Antragspartei hat die hierzu notwendigen Tatsachen glaubhaft zu machen.
3. Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Dem steht nicht entgegen, dass der Untersuchungstermin am … September 2017 bereits verstrichen ist. Denn der Antragsgegner hat den Antragsteller noch nicht (vorläufig) von der weiteren Befolgenspflicht aus der Untersuchungsanordnung vom … Juli 2017 freigestellt.
Diese hat sich zwar nur auf den einen konkret genannten Untersuchungstermin bezogen, so dass für einen neuen Untersuchungstermin also eine neue Anordnung ergehen müsste (anders in Fällen, in denen eine grundlegende Untersuchungsanordnung gegenüber dem Betroffenen ergeht sowie ein Untersuchungsauftrag an einen Amtsarzt, der dann Untersuchungstermine so lange eigenständig bestimmen kann, wie die Grundanordnung Bestand hat).
Dem Antragsteller drohen jedoch wegen der Nichtbefolgung der Anordnung vom … Juli 2017 potentiell disziplinarrechtliche Folgen. Dabei ist zu beachten, dass gegen den Antragsteller wegen der hier gegenständlichen Vorfälle am … April 2017 (Gottesdienst, nachfolgender weiterer Alkoholkonsum) und zweier weitere Vorfälle am Morgen dieses Tages bereits mit Verfügung vom … Juli 2017 disziplinarrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden. Es liegt für den Antragsteller daher die Befürchtung nahe, die Nichtbefolgung der Untersuchungsanordnung werde ebenfalls disziplinarrechtliche Maßnahmen nach sich ziehen.
Zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ist daher ein Anordnungsgrund anzunehmen, denn Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren wäre voraussichtlich nicht rechtzeitig zu erlangen.
4. Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
a) Der Beamte hat nach Art. 65 Abs. 2 Satz 1 BayBG die Dienstpflicht, sich ärztlich untersuchen zu lassen, wenn Zweifel hinsichtlich seiner Dienstunfähigkeit bestehen (vgl. BVerwG, B. v. 28.5.1984 – 2 B 205.82 – Buchholz 237.5 § 51 LBG Hessen Nr. 1; für Polizeibeamte gilt in Hinblick auf die Polizeidienstfähigkeit ergänzend Art. 128 Abs. 1 BayBG). Diese Zweifel des Dienstherrn an der (Polizei-) Dienstfähigkeit des Beamten müssen sich auf konkrete Umstände stützen, die eine derartige Untersuchung rechtfertigen und dürfen nicht „aus der Luft gegriffen“ sein (BayVGH, B. v. 14.1.2014 – 6 CE 13.2352 – juris). Die Anordnung muss sich folglich auf solche Umstände beziehen, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, der betroffene Beamte sei dienstunfähig oder jedenfalls nur begrenzt dienstfähig.
b) Die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung gemäß Art. 65 Abs. 2 Satz 1 BayBG muss nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit inhaltlichen und formellen Anforderungen genügen (BVerwG, U. v. 26.4.2012 – 2 C 17/10; U. v. 30.5.2013 – 2 C 68/11; B. v. 10.4.2014 – 2 B 80/13, jeweils juris).
Die Untersuchungsanordnung hat zur Voraussetzung, dass aufgrund hinreichend gewichtiger tatsächlicher Umstände zweifelhaft ist, ob der Beamte wegen seines körperlichen Zustands oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, die Dienstpflichten seines abstrakt-funktionellen Amtes zu erfüllen (BVerwG, U. v. 30.5.2013, a.a.O., Rn. 19).
Die Behörde muss die tatsächlichen Umstände, auf die sie die Zweifel an der Dienstfähigkeit stützt, sowie Art und Umfang der beabsichtigten Untersuchungsmaßnahmen in der Anordnung angeben (BVerwG, U. v. 30.5.2013, a.a.O., Rn. 20; BVerwG, U. v. 26.4.2012, a.a.O., Rn. 19).
Der Beamte muss anhand der darin gegebenen Begründung entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das in der Anordnung Verlautbarte die Zweifel an seiner Dienstfähigkeit zu rechtfertigen vermag (BVerwG, U. v. 23.10.1980 – 2 A 4.78 – juris Rn. 27; U. v. 26.4.2012, a.a.O; B. v. 10.4.2014 a.a.O.). Gleichermaßen muss es für den Beamten überprüfbar sein, ob die beabsichtigten Untersuchungsmaßnahmen verhältnismäßig sind, so dass diese nicht frei dem Amtsarzt überlassen werden dürfen.
Entspricht die Anordnung nicht diesen Anforderungen, können Mängel nicht nachträglich durch Nachschieben von Gründen geheilt werden (BVerwG, U. v. 26.4.2012, a.a.O., Rn. 21).
c) Die Untersuchungsanordnung vom … Juli 2017 genügt nicht den vorstehenden Anforderungen.
Der im Schreiben vom … Juli 2017 unter Bezug auf die vorherige Anordnung vom … Juli 2017 als Anlass für die Untersuchung dargestellte Sachverhalt enthält keine ausreichenden Tatsachenfeststellungen, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, der Antragsteller sei polizeidienstunfähig.
Jedenfalls nach der – allein maßgeblichen – Sachverhaltsschilderung im Schreiben vom … Juli 2017 handelte es sich bei den Vorfällen am … April 2017 um ein insgesamt singuläres Ereignis. Das Polizeipräsidium geht zwar ersichtlich von mehreren Akten alkoholbedingten Fehlverhaltens aus, deren erster im Gottesdienst auffiel. Die weiteren „Verfehlungen“ erschöpfen sich jedoch in der völlig unsubstantiierten Darstellung, der Antragsteller habe „auch in der Folgezeit … wieder Alkohol in Form von Bier und Wein zu sich“ genommen. Inwiefern sich daraus – unabhängig von einer eventuellen disziplinarrechtlichen Relevanz – eine begründete Besorgnis einer Polizeidienstunfähigkeit des Antragstellers ergeben sollte, wird nicht ansatzweise dargestellt. Wenn ein gewisser dienstlicher Bezug der „Besinnungstage“ auch gegeben war, befand sich der Antragsteller dennoch in seiner Freizeit. Es fehlt allein schon an jeder tragfähigen Feststellung, wie viel Alkohol der Antragsteller denn zu sich genommen hatte. Die streitgegenständliche Anordnung ergeht vielmehr „ins Blaue hinein“.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG) wobei im Verfahren des einstweiligen Rechtschutzes nur die Hälfte des Wertes eines Hauptsacheverfahrens festzusetzen ist.


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