Verwaltungsrecht

Unwirksamkeit einer Abschiebungsanordnung eines in Griechenland anerkannten international Schutzberechtigten

Aktenzeichen  Au 6 K 18.31552

Datum:
6.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 33080
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 43, § 113 Abs. 1 S. 4
GG Art. 16a Abs. 3 S. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35

 

Leitsatz

1. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, wenn der Kläger im Falle der Hauptsacheerledigung nach § 37 Abs. 1 S. 1 AsylG einen Anspruch auf Fortführung des Asylverfahrens durch die Beklagte nach § 37 Abs. 1 S. 2 AsylG hat und die Beklagte dies bestreitet. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab, gilt die Klagefrist des § 36 Abs. 3 S. 1 iVm § 74 Abs. 1 2. Alt. AsylG von einer Woche. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung vermittelt dem Kläger über § 37 Abs. 1 AsylG einen prozessualen „Mehrwert“ gegenüber einer etwaigen bloßen behördlichen Vollzugsaussetzung, weil die Abschiebungsandrohung bereits ohne gerichtlichen Aufhebungsausspruch unwirksam wird und auch die behördliche Fortführung des Asylverfahrens als gesetzliche Folge einer stattgebenden gerichtlichen Entscheidung erreicht wird. (Rn. 33 – 34) (redaktioneller Leitsatz)
4. Diese weitergehenden Rechtsfolgen dürfen dem Kläger nicht durch Umgehung der entsprechenden gesetzlichen Regelungen genommen werden; für eine teleologische Reduzierung der Wirkungen des § 37 Abs. 1 S. 2 AsylG auf eine Unwirksamkeit bloß der Abschiebungsandrohung ist kein Raum. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass das Klageverfahren erledigt ist.
II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet, denn für das Klageverfahren ist die Erledigung der Hauptsache durch die mit Beschluss vom 16. Oktober 2018 angeordnete aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids vom 6. September 2018 enthaltene Abschiebungsandrohung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG eingetreten. Die Beklagte hat nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG das Asylverfahren fortzuführen.
1. Die auf Feststellung in Folge einer Erledigung der Hauptsache umgestellte Klage ist zulässig.
a) Die Klage ist statthaft mit dem Ziel der Feststellung der Erledigung der Hauptsache nach § 43 i.V.m. § 161 Abs. 2 VwGO.
b) Das erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben, da der Kläger im Falle der Hauptsacheerledigung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG einen Anspruch auf Fortführung des Asylverfahrens durch die Beklagte nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG hat und die Beklagte dies bestreitet.
c) Die Klage ist fristgerecht erhoben und umgestellt, da die Beklagte ihrem Bescheid eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung:beigefügt hat, so dass die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO gilt und vom Kläger eingehalten ist.
Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab, gilt die Klagefrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 74 Abs. 1 2. Alt. AsylG von einer Woche. Da das Bundesamt seinem Bescheid ausweislich der vom Kläger übermittelten Bescheidskopie aber eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung:über die reguläre Klagefrist von zwei Wochen nach § 74 Abs. 1 2. Alt. AsylG beigefügt hat, gilt die – hier eingehaltene – Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO.
2. Die auf Feststellung umgestellte Klage ist begründet, da das zur Feststellung gestellte Rechtsverhältnis – Hauptsacheerledigung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG mit einem daraus folgenden Anspruch auf Fortführung des Asylverfahrens durch die Beklagte nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG – besteht.
a) Entgegen der Auffassung der Beklagten ist eine Erledigung der Hauptsache dadurch eingetreten, dass die in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids vom 6. September 2018 enthaltene Ablehnung des Asylantrags als unzulässig und die in Ziffer 3 dort enthaltene Abschiebungsandrohung nach § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG unwirksam geworden sind. Dadurch sind auch die Nebenentscheidungen im angefochtenen Bescheid unwirksam geworden, denn die in Ziffer 2 enthaltene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, bedarf nach § 31 Abs. 3 AsylG ebenso einer erneuten Entscheidung wie die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4.
b) Die Wirkungen des § 37 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AsylG sind durch den Beschluss vom 16. Oktober 2018 von Gesetzes wegen eingetreten.
Zwar hat die Beklagte in Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe des § 36 Abs. 1 und Abs. 3 AsylG eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach § 38 Abs. 1 AsylG statt von einer Woche gesetzt und aus ihrer Sicht nach § 80 Abs. 4 VwGO auch die aufschiebende Wirkung einer Klage angeordnet. Doch handelt es sich dabei um ein Verhalten contra legem: Das Bundesamt kann zwar nach § 80 Abs. 4 VwGO durch behördliche Einzelfallentscheidung die Vollziehung seiner Abschiebungsandrohung aussetzen. Dies gilt aber nur, wenn es auch eine sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung mit einer entsprechenden kurzen Wochenfrist nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG gesetzt hat, die einer ausdrücklichen Vollzugsaussetzung zugänglich wäre. Daran fehlt es hier jedoch, denn die Ausreisefrist von 30 Tagen ist nach der Bescheidstenorierung ausdrücklich im Fall der Klageerhebung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens suspendiert. Für eine (zusätzliche) behördliche Vollzugsaussetzung der Abschiebungsandrohung einer bereits verlängerten Ausreisefrist ist daher kein Raum (wie hier VG Kassel, B.v. 3.9.2018 – 2 L 2184/18.KS.A – juris Rn. 7, 25; VG Sigmaringen, B.v. 19.6.2018 – A 5 K 1489/18 – juris Rn. 21).
Zwar wirkt sich die längere Ausreisefrist unmittelbar nicht zu Lasten, sondern zu Gunsten des Klägers aus. Hier hat die Beklagte in Abweichung von der gesetzlichen Vorgabe des § 36 Abs. 1 und Abs. 3 AsylG eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach § 38 Abs. 1 AsylG statt von einer Woche gesetzt. Er hat also über vier statt nur eine Woche Ausreisefrist, was ihn in seinen Rechten analog § 42 Abs. 2 VwGO nicht beeinträchtigen kann.
Allerdings vermittelt eine gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung dem Kläger über § 37 Abs. 1 AsylG einen prozessualen „Mehrwert“ gegenüber einer etwaigen bloßen behördlichen Vollzugsaussetzung – so sie (wie hier nicht, vgl. soeben) vorläge -, weil die Abschiebungsandrohung bereits ohne gerichtlichen Aufhebungsausspruch in einem Klageverfahren nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO unwirksam wird (vgl. VG Sigmaringen, B.v. 19.6.2018 – A 5 K 1489/18 – juris Rn. 24). Dass diese Verfahrensbeschleunigung nicht nur öffentlichen Interessen an einer Abkürzung des Verfahrens bei ernsthaften Zweifeln durch Entfall des Hauptsacheverfahrens, sondern auch subjektiven Rechten des betroffenen Klägers dient, lässt sich nicht unmittelbar den Gesetzesmaterialien entnehmen (vgl. BT-Drs.12/2062, S. 11 f., 34), da § 37 Abs. 1 AsylG nur § 10 Abs. 4 Satz 2 AsylVfG (i.d.F. vom 16.7.1982, BGBl 1982 I, S. 946/947; dazu VG Berlin, B.v. 24.5.2018 – 6 L 132.18 A – juris Rn. 15) nachzeichnen soll, aber inhaltlich eine völlig andere Regelung trifft (damals sollte eine gerichtlich im Eilrechtsschutz beanstandete ausländerbehördliche Unbeachtlichkeitsentscheidung unwirksam werden und die Entscheidungskompetenz auf das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge verlagert werden).
Der „Mehrwert“ einer subjektiven Rechtsposition liegt aber darin, dass im Fall einer gerichtlichen Anordnung der Kläger auch die behördliche Fortführung des Asylverfahrens als gesetzliche Folge einer stattgebenden gerichtlichen Entscheidung erreicht (so VG Kassel, B.v. 3.9.2018 – 2 L 2184/18.KS.A – juris Rn. 13, 16; zur Gegenansicht VG Berlin, B.v. 24.5.2018 – 6 L 132.18 A – juris Rn. 12 f.). Diese weitergehenden Rechtsfolgen dürfen dem Kläger nicht durch Umgehung der entsprechenden gesetzlichen Regelungen genommen werden; für eine teleologische Reduzierung der Wirkungen des § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG auf eine Unwirksamkeit bloß der Abschiebungsandrohung ist kein Raum (so VG Kassel, B.v. 3.9.2018 – 2 L 2184/18.KS.A – juris Rn. 22 m.w.N. zur Gegenansicht): Der Kläger hat einen prozessualen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in den gesetzlich vorgesehenen Formen, hier also einer Anordnung und nicht nur einer Feststellung der aufschiebenden Wirkung (vgl. VG Kassel, B.v. 3.9.2018 – 2 L 2184/18.KS.A – juris Rn. 6 f., 13 ff. m.w.N. auch zur Gegenansicht z.B. von VG Ansbach, B.v. 8.5.2018 – 17 S 18.50410 – ebenda).
Dies gilt auch im Verhältnis zum Hauptsacheverfahren (a.A. VG Berlin, B.v. 24.5.2018 – 6 L 132.18 A – juris Rn. 16): Während eine gerichtliche Anordnung nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG zur Unwirksamkeit des Bescheids und zwingend zu einer behördlichen Neuentscheidung – nicht notwendig anderen Ergebnisses (so dass auch die Unzulässigkeit des Asylantrags bestätigt werden kann) – führt, erwächst eine gerichtliche Aufhebung im Urteilsweg nach § 113 i.V.m. § 121 VwGO ohne neue behördliche Prüfung in Rechtskraft und steht einer inhaltlich identischen behördlichen Entscheidung grundsätzlich entgegen. Das Bundesamt kann also durchaus in einem neuen Prüfungsverfahren an der Unzulässigkeit des Asylantrags festhalten, aber die Verneinung von Abschiebungsverboten auf weitere oder neuere Erkenntnisse stützen und so – gegenüber der gerichtlichen Entscheidung im ersten Eilverfahren – zusätzlich stützen. Alternativ kann es eine kurze Ausreisefrist setzen, aber ausdrücklich tenoriert (und nicht nur – wie hier – allenfalls konkludent) im Bescheid die Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 4 VwGO aussetzen.
Es ist letztlich Sache des Gesetzgebers, § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG ggf. an die Wünsche der Beklagten und an die Praxiserfordernisse anzupassen und Unklarheiten abschließend auszuräumen. Das Verwaltungsgericht ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden und weicht vom normierten Willen des Gesetzgebers nur ab, wenn sich dies aus der Norm selbst durch Auslegung oder wegen Verstoßes der Norm gegen höherrangiges Recht ergibt. Hierfür allerdings gibt es keinen Anhaltspunkt, denn der Gesetzgeber hat § 37 AsylG in Kenntnis sowohl der Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG als auch der eine so weit reichende Wirkung einer gerichtlichen Eilentscheidung nicht fordernden Unionsrechts getroffen. Bis zur Normänderung aber ist dem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers im Umfang der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes zu entsprechen. Dies gilt auch mit Blick auf Verfassungs- und Unionsrecht, denn das Unionsrecht sichert lediglich verfahrensmäßige Mindeststandards in Europa, über welche der nationale Gesetzgeber zu Gunsten von Asylantragstellern hinausgehen kann, was er hier mit den ausdrücklich angeordneten Folgen des § 37 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AsylG auch getan hat.
c) Daher hat das Bundesamt seine Entscheidung erneut zu treffen und – sollte es an der Unzulässigkeit des Asylantrags festhalten – eine neue gesetzeskonforme Ausreisefrist und Abschiebungsandrohung zu setzen.
5. Daher war der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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