Verwaltungsrecht

Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO, Auswirkungen eines erfolgreichen Wideraufnahmeantrags im Ordnungswidrigkeitenverfahren, auf den zwischenzeitlich ergangenen Fahrerlaubnisentzug durch die Fahrerlaubnisbehörde (hier offengelassen)

Aktenzeichen  AN 10 S 21.00448

Datum:
28.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10588
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 4 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im vorliegenden Verfahren gemäß § 80 Abs. 7 VwGO die Abänderung des Beschlusses der Kammer vom 13. August 2020 (AN 10 S 20.01283), mit dem der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt wurde.
Mit Schreiben vom 6. August 2019 wurde der Antragsteller, für den sich seinerzeit fünf Punkte im Fahreignungsregister ergeben hatten, durch die Fahrerlaubnisbehörde unter Bezugnahme auf eine Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 6. August 2019 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG ermahnt. Eine Zusammenstellung der im Zeitraum vom 8. Juni 2018 bis 13. Mai 2019 begangenen Verkehrszuwiderhandlungen war beigefügt (konkret: 8.6.2018, 22.8.2018, 1.2.2019 und 13.5.2019).
Mit Schreiben vom 24. September 2019 verwarnte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG, da sich im Fahreignungsregister für diesen laut einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 24. September 2019 ein Punktestand von sechs Punkten ergeben habe. Das Schreiben wies darauf hin, dass der Antragsteller bei Erreichen von acht Punkten mit dem Entzug der Fahrerlaubnis rechnen müsse. Beigefügt war eine Auflistung der vom Antragsteller begangenen Verkehrszuwiderhandlungen. Neu hinzugekommen war eine Ordnungswidrigkeit vom 27. Juni 2019, rechtskräftig seit 7. September 2019.
Mit einer weiteren Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 30. April 2020 wurde der Fahrerlaubnisbehörde mitgeteilt, dass nunmehr für den Antragsteller neun Punkte eingetragen seien. Neu hinzugekommen war eine Ordnungswidrigkeit vom 4. Dezember 2019, rechtskräftig seit 15. Januar 2020 und eine Zuwiderhandlung vom 10. Februar 2020, rechtskräftig seit 10. April 2020.
Mit Schreiben vom 30. April 2020 kündigte die Antragsgegnerin den Entzug der Fahrerlaubnis an und gab dem Antragsteller Gelegenheit, etwaige Einwendungen hiergegen vorzubringen. Daraufhin erwiderte der Antragsteller mit Schreiben vom 28. Mai 2020, dass der Bußgeldbescheid des Kommunalen Zweckverbands Kommunale Verkehrsüberwachung Nürnberg (Az.: …*) vom 4. Juli 2019 evident unrichtig sei. Am 13. Mai 2019 um 20:06 Uhr sei der Bruder des Antragstellers der Fahrer des Pkw … gewesen. Die Unrichtigkeit ergebe sich aus dem Vergleich des Beweisfotos mit dem Lichtbild im Führerschein des Antragstellers. Zudem habe sich der Antragsteller am 13. Mai 2019 im Urlaub in der Region … befunden. Von dem Bußgeldverfahren habe der Antragsteller erst erfahren, als er zur Abgabe des Führerscheins aufgefordert worden sei. Das Original des Bußgeldbescheides habe er nie erhalten. Der Antragsteller gehe davon aus, dass sein Vater den Brief mit dem Bußgeldbescheid aus dem Briefkasten der Wohnung entnommen und den Brief dann verlegt habe. Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens dürfte deshalb Erfolg haben. Da der Bußgeldbescheid evident unrichtig sei, entfalle die Bindungswirkung mit der Folge, dass die beiden Punkte nicht zu berücksichtigen seien und die Voraussetzungen für den Entzug der Fahrerlaubnis nicht mehr vorliegen würden. Darüber hinaus wurde mitgeteilt, dass der Antragsteller im Falle des Fahrerlaubnisentzuges in seiner beruflichen Existenz bedroht wäre.
Die Fahrerlaubnisbehörde entzog dem Antragsteller mit Bescheid vom 3. Juni 2020, zugestellt am 5. Juni 2020, die Fahrerlaubnis der Klassen B, AM und L mit sofortiger Wirksamkeit (Ziffer 1), verpflichtete den Antragsteller zur unverzüglichen Abgabe seines Führerscheins, spätestens innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheides (Ziffer 2), drohte unmittelbaren Zwang für den Fall der Nichterfüllung der Ziffer 2 an (Ziffer 3) und ordnete die sofortige Vollziehung der Ziffer 2 an (Ziffer 4). Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass dem Antragsteller die Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entziehen gewesen sei, da der Antragsteller laut Mitteilung des Kraftfahrtbundesamtes vom 30. April 2020 Verkehrsverstöße begangen habe, die mit neun Punkten im Fahreignungsregister zu bemessen seien. Der Antragsteller gelte daher als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen. Bei der Entscheidung sei die Behörde an die rechtskräftigen Entscheidungen über die Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im Fahreignungsregister gebunden. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei auch dann anzuordnen, wenn der Antragsteller nachträglich geltend macht, die Tat nicht begangen zu haben und dies auch belegen will. Eine Überprüfung, ob die rechtskräftige Entscheidung rechtmäßig sei, finde im Entziehungsverfahren nicht statt. Die gesetzlich angeordnete Bindungswirkung verwehre der Fahrerlaubnisbehörde eine eigenständige Überprüfung der Richtigkeit der rechtskräftigen Entscheidungen. Der Einwand, es liege bei der Tat vom 13. Mai 2019 eine evidente Unrichtigkeit vor, könne nicht durchdringen. Das Gesetz sehe hinsichtlich der Bindung keine Ausnahme vor und die Bestimmung sei auch hinreichend klar. Für Ausnahmen auch im Hinblick auf evidente Unrichtigkeit sei kein Raum. Auch der in Aussicht gestellte Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens bei der zuständigen Bußgeldstelle ändere nichts an der Rechtskraft der Verkehrszuwiderhandlung vom 13. Mai 2019. Allein die Antragstellung reiche nicht aus, die Rechtskraft zu durchbrechen.
Da der Antragsteller der Verpflichtung, den Führerschein innerhalb einer Woche ab Zustellung des Entzugsbescheids bei der Führerscheinbehörde abzugeben, nicht nachgekommen ist, wurde der Führerschein des Antragstellers am 24. Juni 2020 eingezogen.
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 3. Juli 2020, bei Gericht eingegangen am 6. Juli 2020, ließ der Antragsteller gegen den Bescheid vom 3. Juni 2020 Anfechtungsklage (AN 10 K 20.01284) erheben und stellte mit weiterem Schreiben vom 4. Juli 2020 einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (AN 10 S 20.01283). Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass der Bußgeldbescheid vom 4. Juli 2019 inhaltlich evident unrichtig und damit rechtswidrig sei. Eine Bindung an den Bußgeldbescheid bestehe aufgrund der evidenten Unrichtigkeit weder für die Fahrerlaubnisbehörde noch für das Gericht. Der Antragsteller habe unverschuldet keine Möglichkeit gehabt, rechtzeitig Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einzulegen, um die Aufhebung des Bescheides in dem hierfür vorgesehenen gerichtlichen Verfahren zu erreichen. Es sei in der Vergangenheit wiederholt vorgekommen, dass Briefe, die in den Briefkasten der Firma und der Familie eingelegt wurden, verschwunden seien. Durch Zufall habe die Mutter des Antragstellers entdeckt, dass ihr Ehemann ungeöffnete Geschäftsbriefe, die an den Antragsteller und dessen Firma gerichtet waren, in einer Schublade in seinem Zimmer versteckt habe. Der Vater habe sich jedoch nicht mehr daran erinnern können. Der Vater leide an einem Lungenkarzinom mit Metastasen im Gehirn und habe Gedächtnisschwierigkeiten. Es müsse deshalb davon ausgegangen werden, dass sich der Vater des Antragstellers auch anderer Briefe, mithin auch des streitgegenständlichen Bußgeldbescheides, aus dem Briefkasten bemächtigt habe. Die Fahrerlaubnisbehörde habe die Punkte aus dem Bußgeldbescheid nicht in ihre Entscheidung einbeziehen dürfen. Es sei eine einschränkende Auslegung des § 4 Abs. 5 StVG unter Berücksichtigung der Anforderungen des Art. 20 Abs. 3 GG wegen evidenter Unrichtigkeit der Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren vorzunehmen. Die Bindung an offensichtlich unrichtige Entscheidungen sei nach Sinn und Zweck der Regelung nicht geboten und im Ergebnis rechtsstaatlich unerträglich. Zudem stehe fest, dass das Wiederaufnahmeverfahren wahrscheinlich zu einer Aufhebung des Bußgeldbescheides führe, so dass es im Hinblick hierauf unbillig wäre, an der sofortigen Vollziehbarkeit festzuhalten. Die Güter- und Interessenabwägung falle zugunsten des Antragstellers aus.
Des Weiteren führte die Bevollmächtigte des Antragstellers im Rahmen der Klagebegründung aus, dass der Bescheid vom 3. Juni 2020 unwirksam sei, da keine Zustellung an den Antragsteller erfolgt sei, sondern nur an die Kanzlei. Es befinde sich jedoch keine Vollmacht der Kanzlei bei den Akten. Die Unwirksamkeit ergebe sich aus dem Umstand, dass an die Kanzlei und nicht an die Bevollmächtigte als Verteidigerin zugestellt worden sei. Zudem sei die Begründung, das vorgelegte Beweisfoto sei unkenntlich, unbehelflich. In den zugesandten Originalunterlagen, die am Tag des Bescheides zugegangen seien, sei auf der dort beigefügten Kopie des Beweisfotos aus dem Bußgeldbescheid das Gesicht des Fahrers gut erkennbar. Die Antragsgegnerin hätte aufgrund der Unkenntlichkeit des per Fax übersandten Beweisfotos den Eingang der Originalunterlagen vor Erlass des Bescheides abwarten müssen. Zudem würden die Folgen für den Antragsteller, der beruflich auf die Fahrerlaubnis angewiesen sei, besonders schwer wiegen.
Die Antragsgegnerin führte aus, dass die rechtskräftig abgeurteilte Tat dem Antragsteller bereits in der Ermahnung vom 6. August 2019 und der Verwarnung vom 24. September 2019, jeweils per Postzustellungsurkunde zugestellt, ohne Reaktion hierauf mitgeteilt worden sei. Zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses sowie aktuell sei die rechtskräftige Entscheidung im Register eingetragen. Eine Überprüfung, ob dies zu Recht erfolgt sei, finde durch die Fahrerlaubnisbehörde insoweit nicht statt.
Mit Schreiben vom 6. August 2020 teilte die Antragsgegnerin noch mit, dass im Fahreignungsregister eine weitere Tat eingetragen worden sei und sich der Punktestand auf zehn erhöht habe. Nach Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamts vom 29. Juli 2020 ist eine Ordnungswidrigkeit vom 30. Mai 2020, die mit einem Punkt bewertet wird, hinzugekommen.
Mit Beschluss des Gerichts vom 13. August 2020 wurde der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt. Die dagegen gerichtete Beschwerde wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Dezember 2020 zurückgewiesen (11 CS 20.2039).
Das Kraftfahrt-Bundesamt teilte mit Schreiben vom 21. Januar 2021 mit, dass es den die Tat vom 13. Mai 2019 betreffenden Bußgeldbescheid vom 4. Juli 2019 aus dem Fahreignungsregister entfernt hat.
Die Antragsgegnerin teilte mit Schreiben vom 10. Februar 2021 mit, dass dies an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Entziehungsbescheides nichts ändere. Selbst wenn man eine nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung erfolgte Wiederaufnahmeanordnung berücksichtige und die zwei Punkte für die Tat vom 13. Mai 2019 wegfallen würden, wäre der Antragsteller dennoch mit acht Punkten im Sinne des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG belastet. Dies liege daran, dass nicht nur die für den Antragsteller günstigen, sondern sämtliche Entwicklungen, die sich nach der letzten Behördenentscheidung ergeben, zu beachten seien und damit auch der Punkt für die Tat vom 30. Mai 2020 in die Berechnung einzubeziehen wäre.
Die Bevollmächtigte des Antragstellers führte mit Schreiben vom 10. März 2021 aus, dass die Entscheidung des Amtsgerichts …, mit dem die Wiederaufnahme des durch rechtskräftigen Bußgeldbescheides vom 4. Juli 2019 abgeschlossenen Verfahrens angeordnet und der Betroffene unter Aufhebung des genannten Bußgeldbescheides freigesprochen wurde, bewirke, dass die Rechtskraft des Bußgeldbescheides rückwirkend beseitigt wird und die zwei Punkte zu löschen waren. Das Entfallen der Rechtskraft führe dazu, dass Entscheidungen, die außerhalb des von der Wiederaufnahme betroffenen Verfahrens in der Zeit zwischen der Rechtskraft des Bußgeldbescheides und der Wiederaufnahme ergangen sind, rückwirkend so zu beurteilen seien, als habe bei Erlass der frühere – zunächst rechtskräftige – Bußgeldbescheid nicht bestanden. Es fehle deshalb von vornherein an einem rechtskräftig geahndeten Verkehrsverstoß vom 13. Mai 2019, der mit zwei Punkten zu bewerten wäre und die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigen könnte. Für das Ergreifen der Maßnahme, die Entziehung der Fahrerlaubnis, sei auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Ordnungswidrigkeit ergeben habe, mithin den Punktestand, den der Kläger am 10. Februar 2020 erreicht habe. Aufgrund der Durchbrechung der Rechtskraft habe der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt lediglich sieben Punkte. Der weitere Punkt für die Tat vom 30. Mai 2020 sei nicht einzubeziehen. Zwar könnten sich Punkte bereits mit Begehung einer Ordnungswidrigkeit ergeben, sofern diese rechtskräftig geahndet wird. Hierfür sei es jedoch erforderlich, dass die Rechtskraft bereits zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt, mithin dem Zeitpunkt des Ergehens des hier angefochtenen Bescheides vom 3. Juni 2020 durch Zustellung an den Kläger am 5. Juni 2020 gegeben war. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Der Bußgeldbescheid für die Tat vom 30. Mai 2020 sei erst am 26. Juni 2020 erlassen worden, rechtskräftig seit 15. Juli 2020. Da der Eintritt einer bisher fehlenden Rechtskraft nicht auf einen früheren Zeitpunkt zurückwirke, sei die später eintretende Rechtskraft der Tat vom 30. Mai 2020 unerheblich. Selbst wenn eine Rückwirkung der Rechtskraft der Ahndung vom 26. Juni 2020 erfolge, sei der Punktestand bereits deshalb zu reduzieren, weil aufgrund des Wegfalls der beiden Punkte „ex tunc“ die Maßnahmen des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden seien. Ungeachtet dessen sei die Tat vom 30. Mai 2020 aber auch bereits deshalb nicht zu berücksichtigen, weil die Bindungswirkung des Bußgeldbescheides vom 26. Juni 2020 entfallen sei. Der Bußgeldbescheid sei wegen des Verstoßes gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ (Art. 103 Abs. 3 GG) nichtig. Dem Bußgeldbescheid liege ein angeblicher Verstoß gegen die Pflicht zur Vorführung des Fahrzeuges mit amtlichen Kennzeichen … zur fälligen Hauptuntersuchung zugrunde. Der gleiche Verstoß sei jedoch mit Bußgeldbescheid vom 3. Juni 2020 geahndet worden. Bei der Unterlassung der Vorführung zur Hauptuntersuchung handele es sich um ein Dauerdelikt. Die Bußgeldbescheide betreffen dieselbe Tat im verfahrensrechtlichen Sinne. Der Pkw sei am 11. April 2020 zur Hauptuntersuchung vorgeführt worden. Das Prüfprotokoll sei gut sichtbar im Fahrzeug gelegen. Die Frist zur Nachuntersuchung sei noch nicht abgelaufen gewesen. Somit habe mit dem 30. Mai 2020 auch keine neue Tat, die selbstständig hätte geahndet werden können, begonnen. Wird nach Erlass eines Bußgeldbescheides ein zweiter Bescheid erlassen, der ganz offensichtlich denselben Sachverhalt betreffe, sei der zweite Bußgeldbescheid nichtig.
Mit Schreiben vom 13. März 2021 führte die Bevollmächtigte des Antragstellers aus, dass der Beschluss vom 13. August 2020 wegen geänderter Umstände abzuändern sei und beantragte,
1.Der den vorläufigen Rechtsschutz versagende Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 13. August 2020 (AN 10 S 20.01283) wird geändert, die aufschiebende Wirkung der Klage vom 3. Juli 2020 gegen die Entziehungsverfügung der Antragsgegnerin vom 3. Juni 2020 wird angeordnet und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins wird wiederhergestellt.
2.Der Antragsgegnerin wird aufgegeben, den von dem Antragsteller bereits abgegebenen Führerschein unverzüglich wieder an den Antragsteller zurückzugeben oder ihm für den Fall der Unbrauchbarmachung eine neue Ausfertigung kostenfrei zuzustellen.
Zur Begründung wurde vorgetragen, dass der Beschluss wegen geänderter Umstände abzuändern sei.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Fax vom 14. April 2021, den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen, dass das erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren dazu führe, dass die Tat vom 13. Mai 2019 gemäß § 29 Abs. 3 StVG getilgt und gemäß § 29 Abs. 6 StVG gelöscht worden sei. Die Löschung habe ein Verwertungsverbot gemäß § 29 Abs. 7 StVG zur Folge. Eine Rückwirkung sei in diesen Regelungen nicht vorgesehen. Die Tat vom 13. Mai 2019 dürfe somit erst seit der Mitteilung des Kraftfahrtbundesamts vom 21. Januar 2021 nicht mehr berücksichtigt werden. Zu dem im vorliegenden Rechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (3.6.2020) sei sie folglich noch verwertbar gewesen. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lasse sich auf Fälle eines erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens bereits deshalb nicht übertragen, weil insoweit den vorgenannten Vorschriften vergleichbare gesetzliche Regelungen nicht vorhanden seien. Diese Unterschiede zwischen Wiederaufnahme und Wiedereinsetzung betone gerade auch der von der Bevollmächtigten des Antragstellers in den Vordergrund gestellte Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 10. August 2020. Die Tat vom 13. Mai 2019 wäre somit nur dann zu berücksichtigen, wenn für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nicht auf den Zeitpunkt der Behörden-, sondern auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen wäre. In diesem Fall wäre jedoch die mit einem Punkt bewertete Tat vom 30. Mai 2020 einzubeziehen, so dass der Antragsteller auch dann insgesamt mit acht Punkten belastet wäre. Der Verstoß vom 30. Mai 2020 sei im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG rechtskräftig geahndet worden. Er sei dementsprechend weiterhin im Fahreignungsregister eingetragen. Bereits diese Eintragung stehe dem Einwand, dass der Bußgeldbescheid vom 26. Juni 2020 nichtig sein soll, entgegen. Im Übrigen sei auf den Schriftsatz der Bevollmächtigten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren 11 CS 20.2039 und insbesondere dessen Anlage 5 hinzuweisen, wonach das Bayerische Polizeiverwaltungsamt den Bußgeldbescheid vom 3. Juni 2020 aufgehoben habe. Berücksichtigt man ferner, dass sich die Fragen der Tateinheit und Tatmehrheit bei Dauerdelikten nur nach eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage beantworten lassen, liege die für eine Nichtigkeit erforderliche Offensichtlichkeit eines Mangels keinesfalls vor. Der Entziehung der Fahrerlaubnis stehe § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG nicht entgegen. Ausweislich der Akten sei sowohl eine Ermahnung als auch eine Verwarnung erfolgt. Beide Maßnahmen seien zugestellt worden und seien damit wirksam geworden. Das Wiederaufnahmeverfahren ändere an dieser Tatsache aus den oben genannten Gründen nichts. Dies gelte umso mehr, als der Antragsteller in beiden Maßnahmestufen die Wiederaufnahmegründe nicht geltend gemacht habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakten in diesem Verfahren sowie in den Verfahren AN 10 S 20.01283 und AN 10 K 20.01284 Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben (Satz 1). Dabei kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen (Satz 2).
Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO dient nicht in der Art eines Rechtsmittelverfahrens der Überprüfung, ob die vorangegangene Entscheidung formell und materiell richtig ist. Es dient allein der Möglichkeit, einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab für die Entscheidung ist daher allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.8.2008 – 2 VR 1/08 – juris; VGH BW, B.v. 16.12.2001 – 13 S 1824/01 – juris; OVG NRW, B.v. 7.2.2012 – 18 B 14/12 – juris). Darüber hinaus müssen die geänderten Umstände geeignet sein, eine andere Entscheidung herbeizuführen (vgl. VG Augsburg, B.v. 30.9.2013 – Au 5 S 13.30305 – juris Rn. 10).
In Anwendung dieser Maßstäbe ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Fahrerlaubnisentzug auch unter Berücksichtigung des neuen Umstandes, dass mit Beschluss des Amtsgerichts … vom 17. Dezember 2020 die Wiederaufnahme des durch rechtskräftigen Bußgeldbescheid des Zweckverbands Kommunale Verkehrsüberwachung im Großraum Nürnberg vom 4. Juli 2019 abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Antragstellers angeordnet und der Antragsteller unter Aufhebung des genannten Bußgeldbescheids freigesprochen worden ist, weiterhin abzulehnen. Zwar lässt das Gericht bei im vorliegenden Verfahren nur möglicher und zulässiger summarischer Prüfung offen, ob ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag im Ordnungswidrigkeitenverfahren Auswirkungen auf zwischenzeitlich ergangenen Fahrerlaubnisentzug durch die Fahrerlaubnisbehörde hat (nachfolgend 1.). Eine von der Erfolgsprognose unabhängige Interessenabwägung lässt es vorliegend jedoch angezeigt erscheinen, an der sofortigen Vollziehbarkeit des angegriffenen Bescheides festzuhalten (nachfolgend 2.).
1. Die Frage, ob ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag im Ordnungswidrigkeitenverfahren Auswirkungen auf den zwischenzeitlich ergangenen Fahrerlaubnisentzug durch die Fahrerlaubnisbehörde hat, kann im vorliegenden Verfahren offenbleiben. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat diese Frage in seinem Beschluss vom 9. Dezember 2020 (11 CS 20.2039) offen gelassen. Der Umgang mit Fällen der Wiederaufnahme nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem ist nach Kenntnis des Gerichts höchstrichterlich noch nicht geklärt.
Für eine rückwirkende Beseitigung der Rechtskraft des Bußgeldbescheids durch die Wiederaufnahmeanordnung spricht der Sinn und Zweck des Wiederaufnahmeverfahrens. Das Wiederaufnahmeverfahren bewirkt die Lösung des Konfliktes zwischen den beiden, dem Rechtsstaatsprinzip entstammenden Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit (vgl. BeckOK/Singelstein, 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 359 Rn. 1). Im Falle eines erfolgreichen Wiederaufnahmeantrages überwiegt die materielle Gerechtigkeit die Rechtssicherheit, da nunmehr feststeht, dass der Betroffene die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit von Anfang an nicht begangen hat. Demnach ist es – auch vor dem Hintergrund der Einzelfallgerechtigkeit – vertretbar zu sagen, dass ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag Auswirkungen auf alle auf der Grundlage des im Wiederaufnahmeverfahren aufgehobenen rechtskräftigen Bußgeldbescheides bereits ergangenen Entscheidungen hat. Weiter regelt § 29 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 2 StVG, dass Eintragungen über Entscheidungen ohne Rücksicht auf den Lauf der Fristen nach Abs. 1 und das Tilgungsverbot nach Abs. 2 getilgt werden, wenn die Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren rechtskräftig aufgehoben wird. Dieser Vorschrift lässt sich aber nicht entnehmen, zu welchem Zeitpunkt die Tilgung erfolgt. Man kann demnach der Auffassung sein, dass die Tilgung rückwirkend zum Zeitpunkt der ursprünglichen Rechtskraft respektive zum Tatzeitpunkt erfolge mit der Folge, dass dies keine nachträgliche Tilgung i.S.v. § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG darstellen würde und mithin bei den Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG zu berücksichtigen wäre.
In der Rechtsprechung wird dies anders gesehen: Die Beseitigung der rechtlichen Folgen des Bußgeldbescheides habe indes nicht zur Folge, dass auch Entscheidungen, die außerhalb des von der Wiederaufnahme betroffenen Verfahrens in der Zeit zwischen der früheren Rechtskraft des Bußgeldbescheides und der Wiederaufnahme ergangen seien, so zu beurteilen wären, als habe bei Erlass der damals rechtskräftige Bußgeldbescheid nicht vorgelegen. Gerade weil es bei den Regelungen des Verkehrsverwaltungsrechts zur Fahrerlaubnisentziehung, die einen präventiven Schutz der Allgemeinheit vor ungeeigneten Kraftfahrzeugführern verfolgen, auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung ankomme, spreche das Interesse an der Rechtssicherheit dafür, dass die Wiederaufnahme eines Verfahrens eine zwischenzeitlich ergangene behördliche Maßnahme nicht nachträglich rechtswidrig werden lasse (vgl. VG Göttingen, B.v. 14.9.2016 – 1 B 149/16, BeckRS 2016, 53413; zur Aufhebung einer strafgerichtlichen Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren OVG Lüneburg, B.v. 26.1.2009 – 12 ME 316/08, NZV 2009, 414 – m.w.N.). Die Frage der Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung würde so von einer später eintretenden Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren abhängen. Auch die Regelung des § 29 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 2 StVG spricht dafür, dass der erfolgreiche Wiederaufnahmeantrag keine Auswirkungen auf den zwischenzeitlich ergangenen Fahrerlaubnisentzug durch die Fahrerlaubnisbehörde hat: Geht man – anders als oben – davon aus, dass die Tilgung zum Zeitpunkt der rechtskräftigen Aufhebung des Bußgeldbescheides erfolgt, so hat man konsequenterweise den Fall des § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG (sog. nachträgliche Tilgung). Außerdem führt die Tilgung nach § 29 Abs. 3 Nr. 1 Alt. 2 StVG zur Löschung (vgl. § 29 Abs. 6 StVG) und letztlich zu einem Verwertungsverbot i.S.v. § 29 Abs. 7 StVG.
Ob ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag im Ordnungswidrigkeitenverfahren letzten Endes Auswirkungen auf den zwischenzeitlich ergangenen Fahrerlaubnisentzug durch die Fahrerlaubnisbehörde hat, muss in diesem – summarischen – Eilverfahren offen bleiben und ist einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
2. Die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotene eigenständige Interessenabwägung des Gerichts fällt jedoch zu Ungunsten des Antragstellers aus. Bei Einbeziehung der mit einem Punkt bewerteten Tat vom 30. Mai 2020 wäre der Antragsteller auch dann insgesamt mit acht Punkten belastet. Entgegen der Auffassung des Antragstellers liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz „ne bis in idem“ nach Art. 103 Abs. 3 GG vor. Für das Doppelbestrafungsverbot bedarf es eines rechtskräftigen Bußgeldbescheides (vgl. § 84 Abs. 1 OWiG). Dieser liegt hier nicht vor, da der Bußgeldbescheid vom 3. Juni 2020 mit Schreiben des Bayerischen Polizeiverwaltungsamtes vom 14. Juli 2020 aufgehoben wurde. Zudem ist die Fahrerlaubnisbehörde an die Rechtskraft des Bußgeldbescheides für die Tat vom 30. Mai 2020 nach § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG gebunden. Auch der Umstand, dass es sich bei der letzten Tat vom 30. Mai 2020 um keinen Fahrverstoß handelt, ist unbeachtlich. Im Rahmen des § 4 Abs. 5 StVG kommt es allein auf den Punktestand des Betroffenen an. Durch welche Verkehrszuwiderhandlung die Punkte erzielt wurden, spielt dabei keine Rolle. Zudem stellt auch ein verkehrsunsicheres Kraftfahrzeug eine Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs dar.
Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt daher das private Interesse des Antragstellers, vorläufig weiter im Besitz der Fahrerlaubnis zu bleiben und einstweilen weiter am Straßenverkehr teilnehmen zu dürfen.
3. Nach alledem ist der Antrag mit der für den Antragsteller negativen Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Streitwerts basiert auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 46.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung des Jahres 2013.


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