Verwaltungsrecht

Verlust des Rechts eines EU-Bürgers auf Freizügigkeit

Aktenzeichen  10 ZB 18.1174

Datum:
5.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 19737
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
FreizügG/EU § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3

 

Leitsatz

1. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Vielmehr müssen die zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Grundinteresse der Gesellschaft (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU) wird nicht erst bei Gewalttaten oder anderen schweren Verbrechen berührt. Auch die serienmäßige Begehung von Einbruchdiebstählen rechtfertigt Maßnahmen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 4 K 16.3992 2017-11-28 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 8. August 2016 weiter, mit dem festgestellt wurde, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ihm die Einreise und der Aufenthalt im Bundesgebiet für (zuletzt) fünf Jahre untersagt und ihm unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Polen angedroht wurde. Anlass der behördlichen Entscheidung war die Verurteilung des Klägers vom 7. Dezember 2016 (Amtsgericht München) bzw. vom 19. April 2016 (Landgericht München I) wegen Diebstahls in vier tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine zur Zulassung der Berufung führenden Gründe gemäß § 124 Abs. 2 VwGO.
Der Kläger benennt in seinem Zulassungsantrag keinen der in § 124 Abs. 2 VwGO aufgeführten Gründe. Seine Darlegungen, warum das Urteil des Verwaltungsgerichts unrichtig sei, können allerdings dahin ausgelegt werden, dass er ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend machen will.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt durch die Beklagte sich als rechtmäßig erweist.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU), wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH, U.v. 22.5.2012 – C-348/09 – juris). Auch sind bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU). Gemessen an diesen Vorgaben begründet das Vorbringen des Klägers keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung.
Die der Verurteilung des Klägers vom 7. Dezember 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren (ohne Bewährung) wegen Diebstahls in vier tatmehrheitlichen Fällen zu Grunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU).
Der Kläger meint, es handele sich „lediglich um Vermögensdelikte, die auch keinen bleibenden Schaden hinterlassen, sondern zivilrechtlich ganz normal abgewickelt werden können“; er habe „auch nicht vier oder fünf verschiedene Staatsbürger geschädigt“, sondern sei „mehrfach in eine Zahnarztpraxis eingedrungen“. Zu einer hinreichend schweren Gefährdung hätte das Erstgericht nur dann kommen dürfen, „wenn die Öffentlichkeit vor allem durch Gewalttaten oder anderen schweren Verbrechen beeinträchtigt worden wäre“.
Darin zeigt sich lediglich eine Verharmlosung und Bagatellisierung der vom Kläger begangenen Straftaten. Er ist nach den Feststellungen im Strafurteil viermal innerhalb eines Monats in eine Zahnarztpraxis eingebrochen, die er von Reinigungstätigkeiten kannte, und hat dabei einen Schaden von etwa 25.000 Euro verursacht. Das Strafgericht konnte keine günstige Sozialprognose stellen. Der Kläger sei mit erheblicher krimineller Energie vorgegangen, er habe ohne Rücksicht auf Verluste gehandelt, um seine Spielsucht finanzieren zu können. Eine Schadenswiedergutmachung könne er nicht leisten; nur ein sehr geringer Teil des Diebesguts habe dem Geschädigten zurückgegeben werden können. Somit trifft die Behauptung, es sei kein bleibender Schaden entstanden, bzw. dieser könne zivilrechtlich ganz normal abgewickelt werden, nicht zu. Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist auch nicht, wie der Kläger meint, erst bei Gewalttaten oder anderen schweren Verbrechen berührt. Das Verwaltungsgericht führt zu Recht aus, dass die serienmäßige Begehung von Einbruchsdiebstählen für die Betroffenen oft schwere materielle wie psychische Folgen nach sich zieht und der Staat im Interesse der Opfer zu einer konsequenten Bekämpfung aufgerufen ist.
Auch die Prognose des Verwaltungsgerichts, dass vom Kläger gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht, kann der Kläger mit seinem Vorbringen nicht erschüttern. Das Verwaltungsgericht hat den Einzelfall des Klägers durchaus gründlich geprüft und gewürdigt. Wenn der Kläger bestreitet, dass er sich durch die wiederholten Diebstähle eine Einnahmequelle zur Finanzierung seines Lebens habe verschaffen wollen, ist festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht dies so nicht behauptet hat; es hat vielmehr auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils darauf hingewiesen, dass er sich dadurch eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle habe verschaffen wollen und dass er damit unter anderem sein Glücksspiel und seinen Alkoholkonsum finanziert habe. Weiter hat es ausgeführt, dass die Gefahr groß sei, dass sich die wirtschaftliche Situation des Klägers weiter verschlechtert und den Anreiz erhöht, sich durch weitere vergleichbare Delikte zu bereichern. Hierbei handelt es sich, wie der Kläger meint, nicht nur um „reine Vermutungen“, da der Kläger bislang im Bundesgebiet nur gering qualifiziert beschäftigt war und noch hohe Schulden zu begleichen hat. Ob eine Spielsuchtproblematik besteht, hat das Verwaltungsgericht letztlich offengelassen, deswegen kommt es auch nicht darauf an, ob eine Spielsucht „jederzeit therapiert“ werden kann.
Vor allem wird die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts durch weitere einschlägige Straftaten des Klägers nach seiner Haftentlassung im Juni 2017 bestätigt. Er wurde am 22. März 2018 und am 14. März 2019 wegen weiterer Einbruchsdiebstähle sowie Sachbeschädigung zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt; hinsichtlich weiterer 24 Fälle des Diebstahls hatte die Staatsanwaltschaft gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung abgesehen.
Auch die Ermessensentscheidung der Beklagten ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, nicht zu beanstanden. Weder der Umstand, dass die Mutter des Klägers seit 17 Jahren in Deutschland lebt, noch der familiäre Kontakt zu zwei hier lebenden Cousinen führen zu einer Unverhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung. Der Kläger selbst hält sich erst seit (nunmehr) fünf Jahren im Bundesgebiet auf und befand sich während dieser Zeit überwiegend in Haft; er ist als 36jähriger Mann nicht mehr auf die Unterstützung durch seine Mutter angewiesen, und sie nicht auf die seine. Es muss dem Kläger auch nicht wie einem deutschen Staatsbürger die Möglichkeit eingeräumt werden, „im Rahmen der Strafverbüßung einsichtig zu werden bzw. sein Leben neu zu organisieren“, ohne seinen Aufenthalt im Bundesgebiet zu beenden. Im Übrigen ist der Kläger, wie seine weiteren Straftaten zeigen, offensichtlich nicht im Strafvollzug „einsichtig“ geworden.
Schließlich kann auch die pauschale Behauptung, die Dauer des Wiedereinreiseverbots von fünf Jahren sei „völlig unangemessen“, die Darlegung des Verwaltungsgerichts zu deren Rechtmäßigkeit nicht in Zweifel ziehen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren war abzulehnen, weil der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den dargelegten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Im Übrigen liegt auch keine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor; sie wurde entgegen der Ankündigung in der Beschwerdeschrift nicht nachgereicht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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