Verwaltungsrecht

Vorrang der Selbsthilfe bei Obdachlosenunterbringung

Aktenzeichen  4 CE 16.2575

Datum:
30.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 146 Abs. 4 S. 3, S. 6

 

Leitsatz

1. Der Gesetzgeber hat weder für das erstinstanzliche Eilverfahren eine Verpflichtung zum umfassenden und abschließenden Sachvortrag noch für das Beschwerdeverfahren eine (formelle) Präklusion angeordnet. Daher ist ein Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren nicht gehindert, neue Gründe vorzutragen und neue Beweismittel vorzulegen, selbst wenn ihm diese bereits früher bekannt waren bzw. zur Verfügung standen oder sogar von ihm erst nachträglich geschaffen wurden. (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Sicherheitsbehörde besteht grundsätzlich keine Verpflichtung, einer (nicht unter Art. 6 Abs. 1 GG fallenden) nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder einem sonstigen persönlichen Näheverhältnis bei der Wohnungszuweisung Obdachloser Rechnung zu tragen, sodass es einem Obdachlosen im Hinblick auf den im Obdachlosenrecht geltenden Vorrang der Selbsthilfe zugemutet werden kann, das Unterbringungsangebot naher Angehöriger zunächst in Anspruch zu nehmen. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 7 E 16.1674 2016-12-01 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde der Antragstellerin wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

1. Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte Beschwerde der Antragstellerin gegen die Ablehnung ihres Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (Nr. 2 des Beschlusses vom 1.12.2016) hat keinen Erfolg.
a) Die von dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin (§ 67 Abs. 2 VwGO) innerhalb der gesetzlichen Fristen (§ 147 Abs. 1, § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) eingelegte und begründete Beschwerde ist allerdings entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht deshalb unzulässig, weil die in § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genannten formellen Anforderungen nicht eingehalten wären.
Zwar verlangt das Gesetz einen „bestimmten Antrag“, der aus dem Antrag auf Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Beschlusses und dem Sachantrag bestehen muss. Ein Beschwerdeantrag kann sich aber nach allgemeinem Verständnis auch sinngemäß aus den Beschwerdegründen ergeben. Es genügt, wenn sich aus dem innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO Vorgetragenen mit hinreichender Bestimmtheit ermitteln lässt, in welchem Umfang und mit welchem Ziel die Entscheidung des Verwaltungsgerichts angefochten werden soll (vgl. BayVGH, B.v. 1.8.2016 – 15 CS 16.1106 – juris Rn. 13; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 146 Rn. 21). Dies ist hier der Fall, da die Antragstellerin mit der ausdrücklich erhobenen „Beschwerde gegen den Beschluss des VG Augsburg vom 1.12.16“ und dem erneut gestellten Antrag auf Verpflichtung des Antragsgegners, sie im Rahmen der Obdachlosenfürsorge vorläufig unterzubringen, den Inhalt ihres Eilrechtsschutzbegehrens unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat.
Die Beschwerde ist auch nicht deshalb unzulässig, weil die Antragstellerin entgegen § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO keine Beschwerdegründe dargelegt und sich mit der angegriffenen Entscheidung nicht inhaltlich auseinandergesetzt hätte. Sie hat vielmehr unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung sowie eines aktuellen ärztlichen Attests konkret dargelegt, warum sie derzeit nicht bei ihren Eltern und Großeltern untergebracht werden kann und dass ihre Bemühungen um Anmietung einer eigenen Wohnung in jüngster Zeit erfolglos geblieben sind. Sie ist damit den aus Sicht des Verwaltungsgerichts maßgebenden Erwägungen entgegengetreten und hat sich insoweit mit dem Inhalt des angegriffenen Beschlusses auseinandergesetzt.
b) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist jedoch unbegründet, da die Antragstellerin hinsichtlich der begehrten vorläufigen Obdachlosenunterbringung auch nach gegenwärtigem Stand keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat.
Bei der rechtlichen Beurteilung des Eilrechtsschutzbegehrens ist allerdings auch neues Vorbringen der Antragstellerin zu berücksichtigen. Die betreffenden Aussagen und Beweismittel müssen entgegen der Rechtsauffassung des Antragsgegners nicht etwa deshalb außer Betracht bleiben, weil sie dem Verwaltungsgericht im erstinstanzlichen Verfahren bewusst vorenthalten worden sein könnten. Der vom Bevollmächtigten des Antragsgegners zitierten Rechtsprechung einiger Oberverwaltungsgerichte, wonach es dem (Beschleunigungs-)Zweck des § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO zuwiderlaufe, wenn das Beschwerdegericht die für das Beschwerdeverfahren „aufgesparten“ Gründe erstmals prüfe (so VGH BW, B.v. 8.11.2004 – 9 S 1536/04 – NVwZ-RR 2006, 74; NdsOVG, B.v. 20.7.2012 – 12 ME 75/12 – juris Rn. 9; offen OVG LSA, B.v. 18.9.2008 – 3 M 511/08 – juris Rn. 4), kann nicht gefolgt werden. Der Gesetzgeber hat weder für das erstinstanzliche Eilverfahren eine Verpflichtung zum umfassenden und abschließenden Sachvortrag noch für das Beschwerdeverfahren eine (formelle) Präklusion angeordnet. Daher ist der Beschwerdeführer nicht gehindert, neue Gründe vorzutragen und neue Beweismittel vorzulegen, selbst wenn ihm diese bereits früher bekannt waren bzw. zur Verfügung standen oder sogar von ihm erst nachträglich geschaffen wurden (vgl. OVG NRW, B.v. 26.3.2004 – 21 B 2399/03 – juris Rn. 23; Jeromin in Gärditz, VwGO, 2013, § 146 Rn. 34; Happ in Eyermann, VwGO, § 146 Rn. 29; Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 146 Rn. 42; Meyer-Ladewig/Rudisile in Schoch u.a., VwGO, § 146 Fn. 138; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 146 Rn. 83; Käß, BayVBl 2009, 677/680 f.).
Im vorliegenden Fall führt das den bisherigen Sachvortrag ergänzende Beschwerdevorbringen jedoch nicht zu einer von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts abweichenden rechtlichen Beurteilung. Die der erstinstanzlichen Entscheidung zugrundeliegende, u.a. auf eine telefonische Anfrage des Antragsgegners gestützte Annahme, dass der Antragstellerin bei ihren Großeltern, wenn auch ohne ihre Lebensgefährtin, eine Wohnmöglichkeit zur Verfügung stehe und es somit schon an einem Anordnungsgrund fehle, wird durch das Vorbringen im Beschwerdeverfahren nicht substantiiert in Frage gestellt.
Die Antragstellerin trägt zwar in Form einer eidesstattlichen Versicherung vor, sie könne „aus zwingenden medizinischen Gründen nicht bei ihren Eltern und Großeltern untergebracht werden“; ein neutrales Umfeld sei zwingend erforderlich, da die ständigen Konflikte ihren psychischen Zustand verschlechterten und zu einer psychischen Destabilisierung führten. In dem dazu eingereichten Attest der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie wird jedoch lediglich referiert, dass „laut Angaben der Patientin“ zu Hause mit den Eltern eine wiederkehrende Konfliktsituation bestehe, weswegen ein Zusammenleben mit den Eltern nicht möglich sei, so dass der Aufenthalt in einem neutralen Umfeld empfohlen werde. Über einen ähnlich tiefgreifenden Konflikt mit den Großeltern hat die Antragstellerin demnach den behandelnden Ärzten nicht berichtet. Auch aus ihrer eidesstattlichen Versicherung und den sonstigen Unterlagen ergeben sich keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass es mit den Großeltern – über deren Ablehnung einer gemeinsamen Aufnahme der Antragstellerin und ihrer Lebensgefährtin hinaus – zu ernsthaften Streitigkeiten gekommen wäre, die der Antragstellerin eine zumindest vorläufige Rückkehr dorthin unzumutbar machen könnten. Bezeichnenderweise wird auch in der vom Bevollmächtigten der Antragstellerin im Parallelverfahren Az. 4 CE 16.2460 vorgelegten eidesstattlichen Versicherung über ein am 2. Dezember 2016 geführtes Telefongespräch mit den Großeltern der Antragstellerin lediglich deren Weigerung erwähnt, die Lebensgefährtin mit in ihr Haus aufzunehmen. Daraus kann geschlossen werden, dass die Bereitschaft zur (isolierten) Aufnahme der Antragstellerin unverändert fortbesteht.
Da für die Sicherheitsbehörde grundsätzlich keine Verpflichtung besteht, einer (nicht unter Art. 6 Abs. 1 GG fallenden) nichtehelichen Lebensgemeinschaft oder einem sonstigen persönlichen Näheverhältnis bei der Wohnungszuweisung Rechnung zu tragen, kann es der Antragstellerin im Hinblick auf den im Obdachlosenrecht geltenden Vorrang der Selbsthilfe (dazu allgemein Ruder, VBlBW 2017, 1/6 f. m.w.N.) auch unter Berücksichtigung ihres Alters und ihrer allgemeinen Lebensstellung zugemutet werden, das Unterbringungsangebot ihrer Großeltern bis auf weiteres in Anspruch zu nehmen. Dies liegt im Übrigen auch in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse, da sie bei einer bestehenden Unterbringung im familiären Umfeld erheblich günstigere Aussichten haben dürfte, in absehbarer Zeit angemessenen eigenen Wohnraum anzumieten, als dies bei einer Wohnungssuche aus einer Obdachlosenunterkunft heraus der Fall wäre.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert im Beschwerdeverfahren aus § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren (§ 166 VwGO i. V. m. §§ 114 ff. ZPO) war ungeachtet der nach dem Vorstehenden ohnehin fehlenden Erfolgsaussichten auch deshalb abzulehnen, weil die nach § 117 Abs. 2 ZPO abzugebende Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse keine Angaben zum aktuellen Kontostand des Girokontos enthält, auf das die Sozialleistungen laut Bescheid des Jobcenters regelmäßig überwiesen werden.
Dr. Zöllner Dr. Peitek Dr. Schübel-Pfister


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