Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an türkischen Kurden wegen Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung

Aktenzeichen  Au 6 K 17.34045

Datum:
9.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 19490
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Ein türkischer Asylbewerber hat Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden nicht zu befürchten. Kurden bilden in der Türkei eine weit verbreitete Bevölkerungsgruppe; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor. (Rn. 28) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung; für die Annahme einer Gruppenverfolgung fehlt es jedoch an der erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. Unabhängig davon besteht für Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen die Möglichkeit internen Schutzes (wie OVG Bautzen BeckRS 2016, 45428). (Rn. 31) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, muss in der Türkei mit asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen, auch ohne dass sie eine führende Stellung in der Gülen-Bewegung innehatte bzw. noch innehat. Bereits eine vermutete Gülen-Anhängerschaft reicht aus, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (VG Aachen BeckRS 2018, 4654). (Rn. 35) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Ein türkischer Asylbewerber, der eine Tätigkeit als “Finanzmanager” (Buchhalter) für eine Gülen-nahe Nachhilfeschule ausgeübt hat und gegen den ein Strafverfahren wegen “FETÖ”-Verdachts anhängig ist, hat im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung zu gewärtigen. (Rn. 37) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Ein mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung kann im Falle seiner Rückkehr in die Türkei nicht mit einem fairen, rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen, da bereits eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen, sondern der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i.S.v. § 3, § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung. (Rn. 46) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Unter Aufhebung von Ziffer 1, 3 bis 6 ihres Bescheids vom 18. Juli 2017, soweit sie der folgenden Verpflichtung entgegenstehen, wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 18. Juli 2017 ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); er ist im tenorierten Umfang aufzuheben:
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f.,www.swp-b.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 5, 8 – im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (Lagebericht ebenda S. 8; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 7; Lagebericht ebenda S. 8).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 189.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 117.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter über 53.000 Personen in Untersuchungshaft. Über 154.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; darunter wohl rund 107.000 Personen endgültig entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt und mehrfach verlängert wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 9, 15, 31).
Der nach zwei Jahren am 18. Juli 2018 ausgelaufene Ausnahmezustand wurde zwar nicht mehr verlängert, aber zentrale Inhalte in Gesetzesform dauerhaft gesichert, insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-b.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 8).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 10 f.) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr.
II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.v.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden hat der Kläger nicht zu befürchten. Er gehört zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei; Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht.
Kurdische Volkszugehörige zählen etwa 13 Mio. bis 15 Mio. Menschen auf dem Gebiet der Türkei und stellen noch vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 15 – im Folgenden: Lagebericht); sie unterliegen demnach aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 68). Seit der Verhängung des Notstands aber hat sich die Lage verändert: Zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien sind kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 15).
Kurdische Volkszugehörige unterliegen damit in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. zur Gruppenverfolgung BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris). Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass eine Verfolgung kurdischer türkischer Staatsangehöriger jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweist, die zu einer Gruppenverfolgung und damit der Verfolgung eines jeden Mitglieds führt (im Ergebnis wie hier VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen (vgl. SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399, alle juris). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben (Lagebericht ebenda S. 24).
Dies gilt auch für den ortsgebundenen Kläger. Ausweislich der von ihm nachgereichten Unterlagen seines Rechtsanwalts aus UYAP ist der Kläger nicht wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit, sondern wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung Ziel staatlicher Maßnahmen geworden.
c) Eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung hat der Kläger im Fall seiner Rückkehr in die Türkei zu befürchten.
Aktuell liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. oben). Unklar ist dabei, nach welchen Kriterien türkische Behörden eine Person als „Anhänger“ einstuften. Türkische Behörden und Gerichte können eine Person bereits dann als solchen „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Mitglied der Gülen-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht hat oder im Besitz von Schriften Gülens ist. Als besonders starkes Indiz werden finanzielle Beziehungen von Personen zu Einrichtungen gewertet, die der Gülen-Bewegung nahe stehen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 11 – im Folgenden: Lagebericht). „FETÖ“ sei die Abkürzung für „Fethullah Gülen Terrororganisation“ und als Ausdruck ab dem Jahr 2013 aufgekommen, als die bis dahin eng mit der regierenden AKP zusammenarbeitende Gülen-Bewegung den ersten Aufstand geprobt und durch der Gülen-Bewegung angehörende Staatsanwälte und Richter gegen mehrere amtierende Minister wegen Bestechung und Bestechlichkeit Strafverfahren eingeleitet habe, was das große Zerwürfnis zwischen Gülen und dem damaligen Vorsitzenden der AKP Erdoğan hervorrief (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.).
Zum Stand August 2016 seien 35 Gesundheitseinrichtungen, 1.045 Bildungsinstitutionen, 104 Stiftungen, 1.125 Vereine, 15 Universitäten sowie 29 Gewerkschaften wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung geschlossen worden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Kurzinformation vom 4.8.2016, S. 1 m.w.N.) sowie insgesamt über 5.000 Vereinigungen einschließlich Menschenrechtsorganisationen (Lagebericht ebenda S. 10).
Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss, auch ohne dass sie eine führende Stellung in der Gülen-Bewegung innehatte bzw. noch innehat. Bereits eine vermutete Gülen-Anhängerschaft reicht aus, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 36). Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14).
Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. ‚Einzahlungen nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 bei der Bank, der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution – z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der (vormaligen) Gülen-Zeitung „Zaman“ oder der Besitz von Gülens Büchern (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14 m.w.N.). Nutzer der Smartphone-Anwendung „By-Lock“ stehen ebenfalls in Verdacht, 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14 m.w.N.).
Der Kläger hat im Fall seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung zu befürchten, weil der Kläger nach eigenen Angaben eine Tätigkeit als Finanzmanager (wohl: Buchhalter) für eine Gülennahe Nachhilfeschule ausgeübt hat und ausweislich von Auszügen aus E-Devlet und UYAP gegen ihn Strafverfahren wegen „FETÖ“-Verdachts anhängig sind und damit in Anknüpfung an seine politische Überzeugung als Verfolgungsmerkmal durch den türkischen Staat eine Verfolgung zu gegenwärtigen hat sowie in engem sachlichem und zeitlichem Verfolgungszusammenhang hiermit ausgereist ist:
aa) Der Kläger hat bis zu seiner Ausreise keine Vorverfolgung durch türkische Staatsorgane als Verfolger erlitten, aber im Fall einer künftigen Rückkehr zu befürchten.
Soweit er geltend macht, sein Wohnhaus in … sei durchsucht worden, ist ein Bezug zum Kläger nicht hinreichend konkret. Gegen eine Vorverfolgung spricht aber, dass er auf dem Luftweg mit eigenem, erst nach dem Putschversuch vom 15./16. Juli 2016 am 23. August 2017 ausgestelltem Reisepass unbehelligt die Türkei verlassen hat. Damit steht zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts fest, dass der Kläger damals unverfolgt aus- und nach Deutschland eingereist ist. Eine Indizwirkung einer Vorverfolgung ist daher zu verneinen.
Allerdings besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch türkische Staatsorgane als Verfolger im Fall einer künftigen Rückkehr:
(1) Der Kläger wird auf Grund seiner Tätigkeit für eine Gülennahe Nachhilfeeinrichtung seitens des türkischen Staats verfolgt, denn gegen ihn sind Strafverfahren wegen „FETÖ“-Verdachts anhängig.
Der Kläger hat vor dem Bundesamt u.a. angegeben, er habe neben dem Studium als Finanzmanager für … gearbeitet; eine Nachhilfeschule, für die er die Finanzen gemacht habe (BAMF-Akte Bl. 37). Nach dem Putsch sei aber das Amtsblatt erschienen, in dem nach dem 670. Gesetz die Schule geschlossen werden sollte, weil sie zur Gülen-Bewegung gehört. Am 24. August 2016 sei sie zwangsweise geschlossen worden (ebenda Bl. 37). Zwei Freunde, die mit dem Kläger dort gearbeitet hätten, seien festgenommen worden (…), einer (…), werde immer noch gesucht (ebenda Bl. 38).
Auf Frage, ob es gegen ihn eine Anklage oder eine Fahndung in der Türkei gebe, gab er an, das wisse er nicht, das werde nicht unbedingt öffentlich gemacht. Er habe versucht, von Deutschland aus einen Anwalt zu nehmen, um das zu klären, aber das wolle keiner übernehmen. In dem Haus, in dem er in … gewohnt habe, habe es am 24. Januar 2017 auch eine Razzia gegeben, deshalb denke er, dass auch nach ihm gesucht werde (ebenda Bl. 39).
Er befürchte bei einer Rückkehr in die Türkei, er würde gleich bei der Ankunft gelyncht werden oder käme für 30 Tage in Untersuchungshaft. Dabei würde er physisch und psychisch gefoltert, verhungern und könnte keinen Anwalt nehmen. Er könnte keinen Kontakt mit seiner Familie aufnehmen und würde ohne Verhandlung ins Gefängnis kommen. Im Gefängnis würde er wohl ermordet werden und seiner Familie würden sie erzählen, dass es Selbstmord war (ebenda Bl. 39). Auf Nachfrage, weshalb er das befürchte, erklärte er, er verfolge die sozialen Medien, dort lese man sehr viel davon, z.B. dass die EU kontrollieren wolle, ob es Folter in türkischen Gefängnissen gibt, aber die Türkei verzögere es immer wieder (ebenda Bl. 39).
Das Bundesamt lehnte im angefochtenen Bescheid die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft u.a. damit ab, der Kläger habe keine konkrete Verfolgung in Anknüpfung an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal erlitten. Auf Frage, ob er persönlich in der Türkei bedroht oder konkret gefährdet gewesen sei, habe er angegeben, ihm persönlich sei nichts passiert. Dass er mit seinem Reisepass und einem schwedischen Schengenvisum ausgereist sei, spreche dagegen, dass er von der türkischen Polizei bzw. den türkischen Behörden gesucht bzw. verdächtigt worden sei, sonst wäre es ihm wohl kaum möglich gewesen, die Türkei ungehindert über den Flughafen … trotz der Pass- und Devisenkontrollen zu verlassen. Sein Reisepass sei ab 23. August 2016 gültig und das Visum ab 11. November 2016, beides sei nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 ausgestellt worden, was ebenfalls nach der allgemeinen Erfahrung nicht üblich sei in der Türkei, sofern der Kläger bezüglich seiner Nähe zur Gülen-Bewegung verfolgt oder beobachtet worden wäre.
Diese Würdigung war zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses möglicherweise noch zutreffend, ist aber zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt über die Klage (§ 77 Abs. 1 AsylG) durch die nachgeschobenen Unterlagen (VG-Akte Bl. 37 ff.) überholt:
Nach dem anwaltlich eingeholten Auszug aus UYAP (ohne Personennummer, VG-Akte Bl. 41) mit Übersetzung (ebenda Bl. 40) sind zwei Ermittlungsverfahren bei der Oberstaatsanwaltschaft, Ermittlungsakte mit Aktennummer … wegen Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation FETÖ/PDY mit Tatdatum 15. Juli 2016 und mit Aktennummer … ebenfalls wegen Mitgliedschaft in der bewaffneten Terrororganisation FETÖ/PDY mit Tatdatum 4. Juli 2017 anhängig. Hinzu kommt ein Schreiben der Republik Türkei, Ministerium für Justiz, Direktion für Bewährungsangelegenheiten in … (ohne Personennummer, VG-Akte Bl. 44) mit Übersetzung (ebenda Bl. 42 f.), datiert auf den 27. Juli 2018, Aktenzeichen, u.a. mit dem Verbot zur Einreise ins Ausland. Schließlich führt ein Anwalt … mit Schreiben vom 30. April 2018 (VG-Akte Bl. 39) mit Übersetzung (ebenda Bl. 37 f.) aus, laut Unterlagen über den Kläger mit der türkischen Bürger-Identitätsnummer … bestünden zwei Ermittlungsakten unter dem Vorwurf, ein Mitglied der bewaffneten Terrororganisation FETÖ zu sein. In dieser Sache befinden sich sowohl bei der Oberstaatsanwaltschaft … unter dem Ermittlungsaktenzeichen … und außerdem bei der Oberstaatsanwaltschaft in … unter dem Ermittlungsaktenzeichen … Diese Aktenzeichen sind jüngeren Datums als die beiden vorgenannten Ermittlungsverfahren. Dem Kläger drohe wegen einer Mitgliedschaft zu einer bewaffneten Terrororganisation eine Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren bis 15 Jahren.
Da sich der Kläger nach seinem gesamten Vorbringen vor dem Bundesamt nicht wegen allgemeiner Kriminalität strafbar gemacht hat und hierfür auch sonst keine Anhaltspunkte vorliegen, handelt es sich bei allen Ermittlungsverfahren und dem Ausreiseverbot um staatliche Maßnahmen zur Verfolgung vermeintlicher Terrorverdächtiger, hier also Anhängern oder Helfern der Gülen-Bewegung („FETÖ“). Diese Ermittlungsverfahren sind auch Verfolgungsmaßnahmen, denn im Fall seiner Ergreifung hätte der Kläger nicht nur mit einer Verurteilung, sondern vor allem auch mit einem nicht rechtsstaatlichen Strafverfahren zu rechnen (dazu sogleich).
(2) Der Kläger kann im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen, so dass die eingeleiteten Ermittlungsverfahren nicht lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen, sondern der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung.
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 17 – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 23 ff.). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Mit dem sog. Sommer-Beschluss wurden im Jahr 2016 beispielsweise 3.228 (2015: 2.664; 2014: 2.517; 2011: 529; 2010: 271) Richter und Staatsanwälte der administrativen Justiz und 518 der zivilen Justiz – insgesamt 3.746 – versetzt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen, teilweise sogar über ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (vgl. Lagebericht ebenda S. 17; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 25). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ könne nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.; auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12 ff.).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. So reicht für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams zunächst 7 Tage mit einer einmaligen Verlängerung um weitere 7 Tage. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für 24 Stunden einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten, nachdem Teile dieser Bestimmungen durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 rückgängig gemacht wurden. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert (vgl. Lagebericht ebenda S. 18; zu den Verurteilungen am Putsch Beteiligter BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28).
Grundsätzliche Probleme werfen die Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte auf, die wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen „Terrorismus“-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 14 ff.)
Dies zusammen genommen hat der Kläger wegen des Terrorverdachts („FETÖ“) – anders als vielleicht allgemeiner Kriminalität Tatverdächtige – nicht mehr mit einem rechtsstaatlichen Verfahren zu rechnen, da einerseits die Unabhängigkeit der Justiz durch die Entlassungswellen massiv gemindert wurde, andererseits die Chance, auf vertretungsbereite Anwälte als Strafverteidiger zu treffen, wegen der Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte ebenfalls nicht mehr gewährleistet ist.
bb) Der Kläger hat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Anknüpfung an seine politische oder religiöse Überzeugung als Verfolgungsmerkmal zu befürchten.
Wie bereits ausgeführt, hat sich der Kläger als „Finanzmanager“ – wohl eher als Buchhalter – für eine Gülennahe Nachhilfeeinrichtung betätigt: Auf Vorhalt, weshalb das ausgerechnet ihm als einem kleinen Mitläufer in der Gülen-Bewegung passieren sollte, gab er an, die Finanzmanager würden als Geldschleuser für Gülen angesehen und er sei ein Finanzmanager gewesen. Sie dächten, wenn sie die Geldquellen zerstören, zerstören sie die Gülen-Bewegung. Auf Nachfrage nach dem Umsatz der Organisation, für die er die Finanzen gemacht habe, räumte er ein, das nicht zu wissen. Er habe nur die Abrechnung für ca. 175 Schüler gemacht (BAMF-Akte Bl. 39).
Auf Frage, ob er überhaupt zur Gülen-Bewegung gehöre, bejahte er, er sei Gülen-Anhänger, auch ein Jahr in … in der Gülen Schule gewesen und habe in ihren Häusern gelebt. In … habe er 7 1/2 Jahre in ihren Häusern gelebt, zusammen mit freiwilligen Mitgliedern (ebenda Bl. 39). Auf Vorhalt, er sage, er habe in … in Gülen-Häusern gelebt, gleichzeitig sage er aber, seine Wohnung wurde gekündigt, weil er mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gestanden habe, räumte er ein, es seien nur Wohnungen, die von Gülen-Mitarbeitern angemietet waren. Die anderen Wohnungsmieter hätten die Räumung mit Unterschriftensammlung veranlasst (ebenda Bl. 39).
Er sei auch noch …-Vereinsmitglied, Abonnent der …-Zeitung und habe bei Seminaren als ehrenamtlicher Bildungscoach gearbeitet. Sein Gehalt sei auch auf die Bank … überwiesen worden, auf die letzten zwei Gehälter habe er keinen Zugriff mehr (ebenda Bl. 40). Auf Frage nach irgendeinem Beleg gab er an, er habe nur ein Zertifikat als Bildungscoach, alles andere hätten sie verbrannt (ebenda Bl. 40).
Jedenfalls glaubwürdig ist der Kläger als „Finanzmanager“ – wohl eher als Buchhalter – für eine Gülennahe Nachhilfeeinrichtung und als Gehaltsbezieher bei der … Bank, da diese für die Gülen-Bewegung Finanztransaktionen ausführte und durch ihre Schließung die Geldflüsse innerhalb der Gülen-Bewegung staatlicherseits unterbunden werden sollten. Entgegen der früheren Einschätzung durch das Bundesamt wird der Vortrag des Klägers durch die nachgereichten o.g. Unterlagen auch bestätigt, so dass davon auszugehen ist, dass er seitens des türkischen Staats tatsächlich der Gülen-Bewegung (staatlicherseits als „FETÖ“ bezeichnet) zugerechnet wird.
Ob diese Organisation eher als politische oder als religiöse Bewegung anzusehen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden, da in beiden Fällen die Zurechnung durch den türkischen Staat dieselbe ist und ihr der Kläger auch aus innerer Überzeugung angehörte bzw. diente.
cc) Dem Kläger droht unter Würdigung seines Vorbringens und der nachgereichten Unterlagen auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr, selbst wenn der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit hier mangels Vorverfolgung (vgl. oben) nicht reduziert ist.
Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Fall seiner Rückkehr in die Türkei ergibt sich, wenn nicht schon aus den von ihm vor dem Bundesamt geschilderten Razzien und Verhaftungen von Freunden aus derselben Organisation, so doch jedenfalls aus den genannten Ermittlungsverfahren wegen Terrorverdachts. Der Kläger ist insoweit landesweit als Terrorverdächtiger eingestuft, im landesweiten Datenbanksystem gespeichert und daher im Fall einer Rückkehr bereits an der Grenze durch Abfrage der Datenbankeinträge identifizierbar. Es ist daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger als FETÖ-Verdächtiger erkannt, verhaftet und inhaftiert sowie vor Gericht gestellt würde, wobei er nach den Erkenntnismaterialien voraussichtlich nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen dürfte (vgl. oben).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 32). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2).
Das UYAP-System ist eine vom Justizministerium betriebene Online Plattform, zu der jeder türkische Staatsbürger den Zugang beantragen kann. In diesem System kann der Privatnutzer schlagwortartig seine eigene Person betreffende Übersichten aus dem justiziellen Bereich, z.B. Art der (Straf)-Verfahren, Aktenzeichen, Gerichtsbezeichnung, Verhandlungstage einsehen. Zugang zu (Volltext-)Akteninhalten der einzelnen Verfahren wie z.B. Anklageschriften, Urteile u.a., besteht für Privatnutzer nicht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 2 f.). Eingesehen und ausgedruckt werden kann von Privatnutzern lediglich die o. g. Kurzübersicht. Einträge über ihre Mandanten sind für Anwälte, die den Justizbehörden die Bevollmächtigung ihrer Mandatsgeber nachgewiesen haben, auch auf elektronischen Weg zugänglich. Die Justizbehörden erteilen bevollmächtigten Rechtsanwälten den Zugang auf die im UYAP-System erfassten Eintragungen ihrer Mandanten. Bevollmächtigte Rechtsanwälte haben außer auf die oben beschriebenen Kurzübersichten dann auch Zugriff auf Volltexte und können diese herunterladen (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 11.10.2018 an das BAMF, S. 2). Dazu zählen grundsätzlich auch in e-Devlet und UYAP hinterlegte Informationen über Ermittlungsverfahren und Haftbefehle selbst in Verfahren mit Bezug zur Gülen-Bewegung („FETÖ“), lediglich im Ermittlungsstadium, für als „geheim“ eingestufte Ermittlungen ist der anwaltliche Anspruch auf Einsicht oder ist ein Herunterladen der Aktenbestandteile nicht oder nur eingeschränkt möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 27.9.2018 an das BAMF, S. 1 f.; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3; auch SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5 f., 7 f.). Art und Umfang der Beschränkung der Akteneinsicht variieren von Fall zu Fall (so Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 6 f.). Sind die Ermittlungen abgeschlossen und wird ein Gerichtsverfahren eingeleitet, bestehen solche Einschränkungen in der Regel nicht mehr; im Stadium des Gerichtsverfahrens haben der Angeklagte bzw. sein Bevollmächtigter – seit ca. Oktober 2018 auch online über UYAP – Zugriff auf die zu den Verfahrensakten gehörenden Schriftstücke und Beweismittel (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 13.2.2019 an das BAMF, S. 3). Teilweise abweichend wird berichtet, Akten der Staatsanwaltschaft in abgeschlossenen oder nicht abgeschlossenen Gerichtsverfahren seien seit Frühjahr 2018 nicht mehr über UYAP zugänglich (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 5); gleichwohl wird in derselben Quelle ausgeführt, dass ein Zugriff über UYAP nach Anklageerhebung üblicherweise und erst recht nach Annahme der Anklage durch das Gericht sowie nach Abschluss des Verfahrens möglich sei (so SFH, Türkei: Zugang zu verfahrensrelevanten Akten vom 1.2.2019, S. 8 f.).
Da das gegen den Kläger eingeleitete Ermittlungsverfahren ausweislich der Angaben seines türkischen Rechtsanwalts gegen Zugriff gesperrt ist, kann gegen ihn auch ein Haftbefehl vorliegen: Ein Haftbefehl könne im UYAP-System (dazu unten) zugänglich sein, wenn das Ermittlungsverfahren nicht geheim sei (vgl. SFH, Türkei: Zugang für Familienangehörige zu Hausdurchsuchungs-, Beschlagnahmungs- und Haftbefehlen vom 1.2.2019, S. 7 f.). Der Haftbefehl werde dem Betroffenen nicht vorab bekannt gegeben und auch nicht Familienangehörigen ausgehändigt; er werde anschließend Teil der Gerichtsakten mit den Zugangsmöglichkeiten hierzu (vgl. SFH, ebenda S. 7 f.).
Damit muss der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an der türkischen Grenze mit seiner Verhaftung rechnen, zumal er sich dem – allerdings erst nachträglich gegen ihn erlassenen – Ausreiseverbot entzogen hat.
dd) Ihm steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da derart als „FETÖ“-Anhänger verdächtigte Personen bereits im Jahr 2016, erst recht aber in der Folgezeit wie er in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind und im vorliegenden Einzelfall angesichts des Gesamtzusammenhangs mit seiner Tätigkeit und dem Nachweis aus e-Devlet oder UYAP von einem nicht nur lokalen oder regionalen sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse auszugehen ist.
ee) Der Kläger ist auch im sachlichen und zeitlichen Verfolgungszusammenhang mit den ersten staatlichen Maßnahmen gegen „FETÖ“-Verdächtige im Jahr 2016 ausgereist.
2. Da dem Kläger ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
3. Daher war der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben