Arbeitsrecht

Erinnerungen nach § 55 RVG

Aktenzeichen  L 12 SF 224/17

Datum:
17.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 35283
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
RVG § 14
VV RVG Nr. 3102
VV RVG Vorbemerkung 3 Abs. 4

 

Leitsatz

Eine Anrechnung der im Vorverfahren verdienten Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr eines damit im Zusammenhang stehenden gerichtlichen Eilverfahrens findet nicht statt, da es sich hinsichtlich des Widerspruchs- und des Eilrechtsschutzverfahrens nicht um denselben Gegenstand im Sinne von Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz1 VV RVG handelt.

Verfahrensgang

S 36 SF 150/17 E 2017-09-04 Bes SGMUENCHEN SG München

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des SG München vom 4. September 2017, S 36 SF 150/17 E, wird zurückgewiesen.

Gründe

Im Streit steht die Höhe des Rechtsanwaltshonorars nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) im Verfahren S 8 AS 2673/16 ER. Streitig ist allein, ob bei der Berechnung der nach Beiordnung im Rahmen der Prozesskostenhilfe (PKH) aus der Staatskasse (Beschwerdeführer) zu erstattenden Kosten die geltend gemachte Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV RVG in voller Höhe anzusetzen ist oder ob auf diese Gebühr bei der Kostenfestsetzung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG die für die vorgerichtliche Tätigkeit angefallene Geschäftsgebühr teilweise anzurechnen ist.
Mit Antrag vom 04.10.2016 hatte der Antragsteller des Verfahrens S 8 AS 2673/16 ER beim Antragsgegner (Jobcenter Freising) Leistungen nach dem SGB II beantragt, die dieser mit Bescheid vom 07.11.2016 ablehnte. Der Antragsteller sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, da er sich im Rahmen einer Bewährungsweisung in einer stationären Drogentherapie befinde. Gegen die ablehnende Entscheidung legte der Antragsteller, anwaltlich vertreten durch den Beschwerdegegner, am 11.11.2016 Widerspruch ein.
Am 14.11.2016 beantragte der auch hier vom Beschwerdegegner vertretene Antragsteller beim Sozialgericht München (SG) im Wege einer einstweiligen Anordnung, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm für die Zeit vom 14.11.2016 bis einschließlich Februar 2017 monatlich 404 € zu bewilligen. Das SG bewilligte dem Antragsteller mit Beschluss vom 09.12.2016 ab Verfahrensbeginn Prozesskostenhilfe und ordnete den Beschwerdegegner bei. Mit Beschluss vom gleichen Tag verpflichtete das SG das Jobcenter, dem Antragsteller vorläufig SGB II Leistungen in Höhe von monatlich ca. 180 € zu gewähren und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Das Jobcenter wurde verpflichtet, die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu tragen.
Mit Schriftsatz vom 12.12.2016 beantragte der Beschwerdegegner die Festsetzung folgender Gebühren für das Antragsverfahren S 8 AS 2673/16 ER:
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV RVG 300,00 € Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG 20,00 €
19% USt, 7008 VV RVG 60,80 €
Gesamt: 380,80 €
Für das parallel zum gerichtlichen Eilverfahren geführte Widerspruchsverfahren habe ihm das Jobcenter mit Zahlungseingang vom 25.01.2017 einen Betrag in Höhe von 380,80 € erstattet. Unter Verweis auf den Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21.06.2016, L 15 SF 39/14 E machte er geltend, eine Anrechnung dieser Gebühren käme jedoch nicht in Betracht.
Das Jobcenter teilte mit, zu einer Zahlung der Hälfte der geltend gemachten Kosten (380,80 € / 2) für das Antragsverfahren bereit zu sein, eine Auszahlung sei noch nicht erfolgt.
Mit Beschluss vom 09.03.2017 setzte die zuständige Urkundsbeamte die Vergütung im Verfahren S 8 AS 2673/16 ER wie folgt fest:
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV RVG 300,00 €
– Gem. Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG anzurechnen 150,00 € Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG 20 €
19% USt. 7008 VV RVG 32,30 €
Gesamt: 202,30 €
Die erhaltene Gebühr für das Widerspruchsverfahren sei anzurechnen. Der vom Beschwerdegegner angeführte Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts sei nicht einschlägig. Dort sei Gegenstand die Herstellung der aufschiebenden Wirkung eines Verwaltungsakts gewesen, während hier eine Regelungsanordnung gem. § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG getroffen worden sei.
Hiergegen hat der Beschwerdegegner am 16.03.2017 Erinnerung eingelegt. Der Kostenfestsetzungsbeschluss weiche von der ständigen gerichtlichen Praxis der Bayerischen Sozialgerichtsbarkeit ab. Das Widerspruchsverfahren und das Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz seien unterschiedliche Angelegenheiten im gebührenrechtlichen Sinn und hätten jeweils einen unterschiedlichen Streitgegenstand. Der Beschwerdeführer führte unter Verweis auf den Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 31.05.2016, L 2 AS 603/15 B aus, maßgeblich sei allein, ob – wie hier – bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise „derselbe Gegenstand“ vorliege.
Das SG hat mit Beschluss vom 4. September 2017 den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 09.03.2017 abgeändert und die im Antragsverfahren S 8 AS 2673/16 ER zu erstattende Vergütung auf insgesamt 380,00 € festgesetzt. Eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG erfolge nicht. Nur soweit wegen „desselben Gegenstandes“ eine Geschäftsgebühr nach Teil 2 (d.h. eine nach den Nrn. 2300 bis 2303 VV RVG entstandene Geschäftsgebühr) entstehe, werde diese Gebühr zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet. Vorliegend handele es sich aber nicht um denselben Gegenstand im Sinne von Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 VV RVG; insbesondere seien keine Gründe ersichtlich, von der Rechtsprechung des Bayerischen Landessozialgerichts, vgl. Beschluss vom 21. Juni 2016, L 15 SF 39/14 E, abzuweichen. Nach der Gesetzesbegründung bezwecke der Gesetzgeber mit der Anrechnung nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG eine dem Aufwand entsprechende Vergütung des Rechtsanwalts. Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit werde entscheidend davon beeinflusst, ob der Rechtsanwalt durch eine vorgerichtliche Tätigkeit bereits mit der Angelegenheit befasst gewesen sei. Eine Gleichbehandlung des Rechtsanwalts, der unmittelbar einen Prozessauftrag erhält, mit dem Rechtsanwalt, der zunächst außergerichtlich tätig gewesen sei, sei nicht zu rechtfertigen. Außerdem fördere die Anrechnung eine außergerichtliche Erledigung. Es müsse der Eindruck vermieden werden, der Rechtsanwalt habe ein gebührenrechtliches Interesse an einem gerichtlichen Verfahren (BayLSG a.a.O. unter Verweis auf Bundestags-Drucksache 15/1971, S. 209 zu der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG).
Vorliegend sei der Beschwerdegegner aber nicht mit einer vorgerichtlichen Tätigkeit im Sinne der Gesetzesbegründung befasst gewesen, denn das Widerspruchsverfahren sei dem Eilrechtsschutzverfahren nicht vorgeschaltet gewesen, sondern vielmehr dessen Gegenstand und sei sogar erst nach dem Gerichtsverfahren abgeschlossen worden.
Weiter habe sich auch das Verfahren S 8 AS 2673/16 ER nicht auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des ablehnenden Verwaltungsakts vom 07.11.2016 beschränkt. Zwar sei auch nicht nur im Widerspruchsverfahren, sondern auch im Verfahren S 8 AS 2673/16 ER inhaltlich streitig gewesen, ob der Antragsteller in der Zeit seiner stationären Drogentherapie Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II habe. Auch dürfte der Urkundsbeamtin zuzustimmen sein, wenn sie darauf hinweise, dass im Falle der Regelungsanordnung gem. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGG – gerade im Bereich der existenzsichernden Leistungen – eine inhaltliche Prüfung des Anspruchs häufig wesentlicher Bestandteil des gerichtlichen Eilverfahrens sei. Es bestehe aber auch bei Verfahren nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ein zum Widerspruch und damit zur Hauptsache deutlich abweichendes Prüfprogramm, insbesondere erfordere eine einstweilige Anordnung immer auch ein Eilbedürfnis. Das Kostenverfahren würde überfrachtet, wenn in jedem einzelnen Verfahren ermittelt werden müsste, inwieweit sich Widerspruchs- und Eilverfahren gedeckt hätten. Dass der mit dem Widerspruch angefochtene Verwaltungsakt im gerichtlichen Eilverfahren auch in gewissem Umfang inhaltlich zu prüfen sei, reiche nicht für die Annahme „desselben Gegenstands“ iSd. Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG.
Gegen den am 05.09.2017 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 06.09.2017 die vom SG zugelassene Beschwerde erhoben und unter Bezugnahme auf den Beschluss des LSG Hessen (aaO) begehrt, die Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr – wie im Kostenfestsetzungsbeschluss vom 09.03.2017 erfolgt – anzurechnen. Wenn der Prozessbevollmächtigte mehr oder weniger zeitgleich zu „demselben Gegenstand“ Aktivitäten mit leicht unterschiedlicher Zielsetzung und deshalb leicht unterschiedlichen juristischen Antrags- und Begründungsschemata entfalte, liege eine Arbeitsersparnis aufgrund detaillierter Kenntnisse des Gegenstandes in all seinen Facetten auf der Hand. Der Beschwerdeführer verwies zudem auf seine Auffassung unterstützende Kommentarliteratur sowie einen Beschluss des BGH vom 29.11.2011, XI ZB 16/119.
Der Beschwerdegegner hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und hat sich inhaltlich nicht geäußert.
Am 25.09.2018 hat der Beschwerdegegner Verzögerungsrüge erhoben.
Mit Beschluss vom 12. Dezember 2018 hat die Berichterstatterin des Senats das Verfahren nach §§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 8 Satz 2 RVG auf den Senat übertragen.
Im Übrigen wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie des Erinnerungsverfahren und des Antragsverfahrens verwiesen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Zuständig für die Entscheidung über die Beschwerden ist zwar prinzipiell der Einzelrichter (§ 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG). Jedoch entscheidet wegen grundsätzlicher Bedeutung der hier vorliegenden Angelegenheit gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG der Senat als Gesamtspruchkörper.
Zur Anwendung kommen im vorliegenden Fall die Regelungen des RVG in der ab 01.08.2013 geltenden Fassung gemäß dem Zweiten Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts (Zweites Kostenrechtsmodernisierungsgesetz – 2. KostRMoG) vom 23.07.2013 (BGBl S. 2586, 2681 ff.). Denn der unbedingte Auftrag i.S.v. § 60 Abs. 1 RVG ist dem Beschwerdegegner nach dem 31.07.2013 erteilt worden.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Die Beschwerde ist statthaft, weil das SG München wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage die Beschwerde in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 3 Satz 2 RVG).
Die Beschwerde ist auch fristgerecht innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG eingelegt worden.
2. Die Beschwerde ist aber nicht begründet.
Das SG hat die Vergütung des Beschwerdegegners zutreffend ohne die vom Beschwerdeführer begehrte Anrechnung festgesetzt. Zur Begründung hat das SG sich im Wesentlichen auf den Beschluss des BayLSG vom 21.06.2016, L 15 SF 39/14 E gestützt und mit zutreffender Begründung eine abweichende Beurteilung abgelehnt. Dieser Auffassung schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an. Der Senat sieht keinen Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung des Kostensenats, der eine Anrechnung der im Vorverfahren verdienten Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr eines damit im Zusammenhang stehenden gerichtlichen Eilverfahrens ablehnt, abzuweichen.
Nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 VV RVG wird die Geschäftsgebühr zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr angerechnet, soweit wegen desselben Gegenstandes eine Geschäftsgebühr nach Teil 2 entsteht. Zweck von Anrechnungsvorschriften ist es zu verhindern, dass die gleiche – oder annähernd gleiche – Tätigkeit zweimal honoriert wird, wenn sie hinsichtlich unterschiedlicher Angelegenheiten anfällt, z.B. zunächst als außergerichtliche und später als gerichtliche. Darüber hinaus soll die Einigungsbereitschaft dadurch gefördert werden, dass es gebührenrechtlich für den Anwalt weniger reizvoll sei soll, es zu einem gerichtlichen Verfahren kommen zu lassen (Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, Komm. zum RVG, 23. Aufl. 2017, VV Vorb. 3 RdNr. 245 unter Verweis auf die Motive zum KostRMoG). Maßgeblich ist daher auch im vorliegenden Fall, ob es sich hinsichtlich des Widerspruchs- und des Eilrechtsschutzverfahrens um denselben Gegenstand im Sinne von Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 VV RVG handelt. Dies hat das SG zutreffend verneint. Denn Gegenstand eines Widerspruchsverfahrens ist die – dem Klageverfahren vorgeschaltete – Überprüfung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts. Gegenstand des hier zu beurteilenden Eilrechtsschutzverfahrens ist gerade nicht die inhaltliche Prüfung des Verwaltungsakts, sondern eine Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis. Das Verfahren im Eilrechtsschutz betrifft damit gerade nicht denselben Gegenstand wie das Widerspruchsverfahren, sondern ist erst aufgrund des ablehnenden – sodann mit Widerspruch angefochtenen – Bescheides erforderlich geworden. Zuzugeben ist, dass eine inhaltliche Prüfung des Widerspruchs, somit des angefochtenen Verwaltungsakts, eine nicht unerhebliche Rolle im Eilverfahren spielt, da der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) im Eilverfahren glaubhaft zu machen ist. Im Hinblick auf das abweichende Prüfprogramm und insbesondere auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach in (vor allem existenzsichernde Leistungen betreffenden) einstweiligen Rechtsschutzverfahren, umfassende Abwägungen unter Einbeziehung von Grundrechten des Antragstellers vorzunehmen sind, tritt die materiell-rechtliche Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts aber deutlich zurück (vgl. schon Beschluss des BayLSG vom 21.06.2016, L 15 SF 39/14 E; Straßfeld, Sgb 2008, 635, 638, zum Aufwand eines Rechtsanwalts in Eilverfahren, wenn er bereits im Widerspruchsverfahren tätig war).
Eine Anrechnung der in einem Widerspruchsverfahren entstandenen Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr im Eilrechtsschutzverfahren ist vorliegend auch nicht mit gesetzgeberischen Motiven zu begründen (vgl. Bundestags-Drucksache 15/1971, S. 209 zu der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG):
„Eine Anrechnung ist zunächst aus systematischen Gründen erforderlich. Nach der Definition in Abs. 2 der Vorbemerkung erhält der Rechtsanwalt die gerichtliche Verfahrensgebühr für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Der Umfang dieser anwaltlichen Tätigkeit wird entscheidend davon beeinflusst, ob der Rechtsanwalt durch eine vorgerichtliche Tätigkeit bereits mit der Angelegenheit befasst war. Eine Gleichbehandlung des Rechtsanwalts, der unmittelbar einen Prozessauftrag erhält, mit dem Rechtsanwalt, der zunächst außergerichtlich tätig war, ist nicht zu rechtfertigen.
Die Anrechnung ist aber auch erforderlich, um eine außergerichtliche Erledigung zu fördern. Es muss der Eindruck vermieden werden, der Rechtsanwalt habe ein gebührenrechtliches Interesse an einem gerichtlichen Verfahren. Dieses Interesse kollidiert zwangsläufig mit dem Bestreben einer aufwandsbezogenen Vergütung. Diesen unterschiedlichen Interessen wird die vorgeschlagene Anrechnungsregel gerecht.“
Der Beschwerdegegner war vorliegend zwar im Widerspruchsverfahren und damit in einer vorgerichtlichen Tätigkeit mit der Angelegenheit befasst, das Eilrechtsschutzverfahren war aber dem Widerspruchsverfahren nicht vorgeschaltet, sondern wurde parallel zum Widerspruchsverfahren beantragt. Daher konnte der Beschwerdegegner gerade nicht auf bereits erworbene Erkenntnisse wegen anwaltlicher Vorbefassung aus dem Widerspruchsverfahren zurückgreifen. Zwar ist nicht erforderlich, dass die Geschäftsgebühr bereits entstanden ist, eine Anrechnung erfolgt nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 vielmehr auch dann, wenn die Geschäftsgebühr nach der Verfahrensgebühr entsteht. Die Gesetzesbegründung (Bt-Drs. 16/3038, 56) führt hierzu als Beispiel den Fall auf, wenn in einem gerichtlichen Verfahren über einen Mehrvergleich erfolglos verhandelt wird und der Anwalt in Folge dessen einen Auftrag zur außergerichtlichen Einigung erhält. Dieses Beispiel belegt jedoch, dass der Gesetzgeber bei der pauschalen Anrechnungsvorschrift der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG die Synergieeffekte gebührenrechtlich abbilden wollte, die bei dem Anwalt durch die Vor- bzw. Nachbefassung mit der Angelegenheit vorliegen. Soweit aber die vorgerichtliche und die gerichtliche Tätigkeit einem unterschiedlichen Prüfungsschema unterliegt, treten die Synergieeffekte, die sich aus der Vorbefassung ergeben, zurück mit der Folge, die Verfahren nicht denselben Gegenstand betreffen.
Auch der gebührenrechtliche Aspekt, die Anrechnungsregelung solle eine außergerichtliche Erledigung fördern, vermag gerade in dem vorliegenden Fall nicht zu überzeugen. Denn bei Ablehnung der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ist der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG die einzig denkbare Möglichkeit, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zu verschaffen. Ein gebührenrechtliches Interesse des Rechtsanwalts an dem gerichtlichen Verfahren steht daher nicht im Vordergrund.
Die gegenteilige Auffassung (LSG Hessen, aaO, sich dem anschließend Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 20. Juli 2017 – L 6 SF 950/15 B -, juris), die bei parallelem Widerspruchs- und Eilverfahren eine Anrechnung nach der Vorbemerkung 3 Abs. 4 für zulässig hält, misst nach Auffassung des Senats den grundlegenden Unterschieden zwischen den Prüfschemata im Rahmen eines Verfahrens des Einstweiligen Rechtsschutzes und dem des Widerspruchsverfahren nicht genug Bedeutung bei. In der Literatur wird zwar für ein weites Verständnis des Begriffs „derselbe Gegenstand“ in Abs. 4 der Vorbemerkung 3 VV RVG votiert (vgl. z.B. Hartmann, Kostengesetze, 48. Aufl. 2018, VV 3100 Rn. 56 Stichwort „Eilverfahren“), nachdem mit Blick auf den Regelungskontext nicht der rechtlich-dogmatische, sondern der inhaltliche Zusammenhang der jeweiligen Verfahren im Vordergrund steht, der zu der Arbeitsersparnis führt, die durch die Regelung berücksichtigt werden soll (vgl. Müller-Rabe, in: Gerold/Schmidt, RVG, 23. Aufl. 2017, Anh. II Rn. 133 und 135). Zwar entstehen auch nach Auffassung dieses Senats im Verhältnis von Vorverfahren und gerichtlichem Eilverfahren typischerweise Synergieeffekte. Diese werden allerdings überlagert durch die regelmäßig im Eilverfahren zusätzlich erforderlichen Darlegungen zur Eilbedürftigkeit. Eine pauschale Anrechnung wie in der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vorgegeben ist, wird diesen zusätzlichen Erfordernissen trotz weitem Überschneidungsbereich in Bezug auf die materiell-rechtliche Prüfung nicht gerecht.
Für die Annahme „desselben Gegenstandes“ i.S.d. Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG genügt gerade nicht, dass der mit dem Widerspruch angefochtene Verwaltungsakt im gerichtlichen Eilverfahren auch in gewissem Umfang inhaltlich zu prüfen ist.
Die vom Beschwerdeführer vorgetragene Kommentarliteratur (Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 23. Aufl .2107, Anhang II RdNr. 133) betrifft die Anrechnung der bei der im Abmahnverfahren verdienten Geschäftsgebühr auf die im nachfolgenden einstweiligen Verfügungsverfahren. Dieser Fall ist mit dem vorliegenden, auf den Erlass einer Regelungsanordnung gerichteten Fall nicht vergleichbar.
Die Vergütung für den Beschwerdegegner errechnet sich daher wie folgt:
„Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV RVG 300,00 € Auslagenpauschale Nr. 7002 VV RVG 20,00 €
19% USt, 7008 VV RVG 60,80 €
Gesamt: 380,80 €
Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.
Das Verfahren ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§ 56 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).


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