Baurecht

Erfolglose Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung wegen Abstandsflächenüberschreitung

Aktenzeichen  M 11 K 16.5418

Datum:
15.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 41186
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
BauGB § 30 Abs. 1
BayBO Art. 6 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 6, Abs. 9 Nr. 1, Art. 59 S. 1 Nr. 1, Art. 68 Abs. 1 S. 1 Hs. 2

 

Leitsatz

1 Art. 59 S. 1 Nr. 1 b BayBO nF ist im Rahmen einer Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Baugenehmigung anwendbar, auch wenn der Versagungsbescheid vor Inkrafttreten der Neuregelung ergangen ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Voraussetzung für eine abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung von altem und neuem Wandteil ist, dass unter Berücksichtigung technischer und funktioneller Gesichtspunkte eine neu gestaltete, einheitliche Außenwand entsteht, die eine Gesamtbetrachtung erfordert. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Möglichkeit der Abstandsflächenübernahme befreit vom Erfordernis des Art. 6 Abs. 2 BayBO, nicht jedoch vom Überdeckungsverbot des Art. 6 Abs. 3 BayBO.(Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage hat keinen Erfolg.
1. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid des Landratsamts vom 10. Januar 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Hierunter fallen gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 a) BayBO n.F. die Vereinbarkeit mit den §§ 29 bis 38 BauGB sowie insbesondere gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 b) BayBO n.F. die Vereinbarkeit mit den Regelungen über Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO.
Ob das streitgegenständliche Vorhaben bauplanungsrechtlich zulässig ist, kann offen bleiben. Zwar neigt die Kammer deutlich der Auffassung des Landratsamts zu, dass die Beigeladene im einschlägigen Bebauungsplan von 1998 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass die Festsetzung der höchstzulässigen Geschossfläche sowie der höchstzulässigen Zahl der Vollgeschosse für die Grundstücke FlNr. … und … insgesamt gelten soll, da es sich in den Augen der Beigeladenen hierbei um einen einheitlichen Bauraum handelt. Dies wird wohl durch das Planzeichen „aufzulassende Grundstücksgrenze“ hinreichend deutlich, insbesondere in der Zusammenschau mit den Grundstücken FlNr. … und …, die über je eine eigene Festsetzung zur Geschossflächenzahl und zur Zahl der Vollgeschosse verfügen, bei denen jedoch zusätzlich zum ebenfalls vorhandenen Planzeichen „aufzulassende Grundstücksgrenze“ sich noch das Planzeichen für eine neue Grundstücksgrenze findet. Aus all diesen Umständen dürfte gerade nicht der Schluss zu ziehen sein, dass die Gemeinde für jedes Buchgrundstück eine Festsetzung zum Maß der baulichen Nutzung habe treffen wollen und dies beim Grundstück FlNr. … lediglich vergessen oder in gleichheitswidriger Art und Weise unterlassen habe. Dass die genannten Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, abweichend vom grundbuchrechtlichen Grundstücksbegriff, im Falle des klägerischen Bestandsgebäudes für mehrere Grundstücke, nämlich die FlNrn. … und … gelten, dürfte jedenfalls wegen des sich auf diesen Grundstücken befindlichen, grundstücksübergreifenden Bestandsgebäudes auch von einem hinreichenden sachlichen Grund getragen sein. Insbesondere wenn man im Vergleichsfall der Grundstücke FlNrn. … und …, die addiert eine ähnliche Größe aufweisen wie die FlNrn. … und … in der Summe, die jeweils getrennt festgesetzte höchstzulässige Geschossfläche addiert, ergibt dies eine höchstzulässige Geschossfläche auf den Grundstücken FlNrn. … und … insgesamt, die nahezu identisch (Abweichung lediglich um 10 Quadratmeter) mit der auf den FlNr. … und … höchstzulässigen Geschossfläche von 1.330 Quadratmetern ist. All dies dürfte dafür sprechen, dass die von der Beigeladenen vorgenommene Differenzierung im Grunde zulässig ist.
Letztlich braucht dies aber nicht entschieden zu werden, da das Vorhaben bereits abstandsflächenrechtlich unzulässig ist. Die Abstandsflächen gehören im vorliegenden Fall zum Prüfprogramm. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 b) BayBO n.F. ist auf das streitgegenständliche Vorhaben anwendbar, da das Gesetz zur Änderung der Bayerischen Bauordnung und weiterer Rechtsvorschriften vom 10. Juli 2018 gemäß dessen § 6 am 1. September 2018 in Kraft getreten ist und hinsichtlich der Änderung des Prüfprogramms des Art. 59 BayBO keine Übergangsvorschriften enthält. Allerdings wäre der Abstandsflächenverstoß im vorliegenden Fall selbst dann beachtlich, wenn Art. 59 Satz 1 Nr. 1 b) BayBO a.F. angewandt werden würde. In diesem Fall hätte das Landratsamt nämlich von seiner Befugnis gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. BayBO Gebrauch gemacht, die Erteilung der Genehmigung wegen eines Verstoßes gegen nicht zum Prüfprogramm gehörende öffentlich-rechtliche Vorschriften zu versagen.
Zum einen ist es sehr zweifelhaft, ob die Abstandsflächen gegenüber der im nördlichen Bereich des streitgegenständlichen Grundstücks gelegenen Bestandsgarage eingehalten sind. Diese ist deutlich länger als 9 m und ist daher nicht abstandsflächenrechtlich privilegiert i.S.d. Art. 6 Abs. 9 Nr. 1 BayBO. In jedem Fall liegt jedoch ein Abstandsflächenverstoß auf der Ostseite des bestehenden Gebäudes und des Vorhabens vor. Bereits die östliche Außenwand des Bestandsgebäudes ist deutlich länger als 16 m. Selbst der Teil der Außenwand des Bestandsgebäudes, der allein auf dem Grundstück FlNr. … liegt, ist bereits knapp 10 m lang. Der im Bestand zu den östlichen Nachbargrundstücken eingehaltene Grenzabstand beträgt bei einer Wandhöhe von ca. 10 m gerade einmal ca. 6 m, ohne dass eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften erteilt worden ist. Wird eine bestehende Außenwand mit einer Länge von nicht mehr als 16 m durch den Anbau eines weiteren Gebäudes oder durch die Erweiterung des bestehenden Gebäudes verlängert, so ist, sofern eine neue einheitliche Außenwand entsteht, zu prüfen, ob die gesamte Außenwand den Anforderungen des Abstandsflächenrechts genügt. Das gilt auch dann, wenn es sich bei dem Gebäude, an das angebaut wird, um Altbestand handelt. Voraussetzung für eine abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung von altem und neuem Wandteil ist jedoch, dass unter Berücksichtigung technischer und funktioneller Gesichtspunkte eine neu gestaltete, einheitliche Außenwand entsteht, die eine Gesamtbetrachtung erfordert. Entscheidend kommt es darauf an, dass sich unter Berücksichtigung der vorstehenden Gesichtspunkte Altbestand und Verlängerung bei natürlicher Betrachtungsweise als einheitliche Außenwand darstellen (vgl. Dhom/Franz/Rauscher, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, 131. EL Oktober 2018, Art. 6, Rn. 359 f.). Gemäß Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO sind aneinander gebaute Gebäude wie ein Gebäude zu behandeln. Dies gilt vor dem Hintergrund des Normzwecks des Art. 6 Abs. 6 Satz 3 BayBO gerade auch für den Fall, dass aneinander gebaute Gebäude auf verschiedenen Buchgrundstücken stehen, da andernfalls abstandsflächenrechtlich privilegierte Außenwände von mehr als 16 m Länge entstehen könnten (vgl. Dhom/Franz/Rauscher, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, 131. EL Oktober 2018, Art. 6, Rn. 358).
Vorliegend würde, bei gebotener natürlicher Betrachtungsweise (vgl. zur ähnlichen Frage der Gebäudeseite VGH Großer Senat v. 21.4.1986, VGH n. F. 39, 9 = BayVBl. 1986, 397), durch die Realisierung des geplanten Anbaus auch eine einheitliche Außenwand (Bestandsgebäude einschließlich Anbau) entstehen. Entscheidend ist insoweit, dass die Gebäude von der Grundstücksgrenze aus gesehen direkt aneinander anschließen. Ein profilgleicher Anbau ist gerade nicht erforderlich. So kann trotz horizontaler oder vertikaler Rücksprünge die Wirkung einer einheitlichen Gebäudeseite ausgehen (vgl. Dhom/Franz/Rauscher, in: Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, 131. EL Oktober 2018, Art. 6, Rn. 353). So liegt der Fall hier. Von der östlichen Grundstücksgrenze aus gesehen, wird der Eindruck einer einheitlichen Gebäudeseite erweckt. Dass die östliche Außenwand des geplanten Anbaus gegenüber der östlichen Abschlusswand des Bestandsgebäudes um knapp 4 m zurückversetzt ist, ändert nach dem zuvor Gesagten nichts, insbesondere, da im südlichen Bereich der östlichen Abschlusswand des Bestandsgebäudes ebenfalls bereits ein Versatz um ca. 2 m vorhanden ist.
Nach all dem liegt ein Abstandsflächenverstoß auf der Ostseite bereits allein im Bereich des Bestandsgebäudes vor, da die Abstandsflächen erneut vollumfänglich zu prüfen sind und sie in diesem Bereich ohne erteilte Abweichung nicht eingehalten werden. Das 16 m-Privileg kann, wenn überhaupt, maximal für einen 16 m langen Abschnitt der bestehenden Abschlusswand in Anspruch genommen werden. Bereits der der Grundstücksgrenze am nächsten liegende Teil der Wand ist allerdings schon 25 m lang. Des Weiteren liegt ein Verstoß ebenfalls vor, wenn isoliert nur das Grundstück FlNr. … betrachtet wird. Die Wandlänge allein des Anbaus beträgt 12 m, die Wandlänge des Bestandsgebäudes beträgt auf diesem Grundstück in etwa 10 m. Die Bestandswand in diesem Bereich sowie die Außenwand des geplanten Anbaus sind nach dem zuvor Gesagten als einheitliche Außenwand anzusehen. Allein in diesem Bereich ergäbe sich mithin eine etwa 22 m lange Wand, die jedenfalls im Bereich des Bestands die erforderliche Abstandsflächentiefe von 1 H, mithin 10 m, gegenüber FlNr. … nicht einhalten könnte.
Einen Abweichungsantrag hat der Kläger nicht gestellt. Ebenso wenig ist eine Abstandsflächenübernahme seitens der Eigentümer eines der Nachbargrundstücke in den Akten enthalten. Zudem ist jedenfalls im Bereich des Grundstücks FlNr. … sehr zweifelhaft, ob eine Abstandsflächenübernahme einen Verstoß gegen Abstandsflächenrecht überhaupt beseitigen könnte. Die Möglichkeit der Abstandsflächenübernahme befreit nämlich vom Erfordernis des Art. 6 Abs. 2 BayBO, dass die Abstandsflächen auf dem eigenen Grundstück liegen müssen. Nicht allerdings befreit die Übernahme vom Überdeckungsverbot des Art. 6 Abs. 3 BayBO. Jedenfalls in dem Bereich, in dem bereits das Bestandsgebäude wegen einer Wandlänge von über 16 m als Abstandfläche 1 H einhalten muss, kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine Überdeckung mit den Abstandsflächen des Bestandsgebäudes auf FlNr. … vorliegt, was bei einer Wandhöhe dieses Gebäudes von mehr als 8,50 m der Fall wäre.
Auch geht der Einwand des Klägers fehl, dem Vorhaben könne das Abstandsflächenrecht nicht entgegengehalten werden, weil eine Verschlechterung der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange nicht denkbar sei, weil der Anbau für sich allein genommen die Abstandsflächen einhalte und der genehmigte Bestand dem Kläger im Hinblick auf die Schutzzwecke nicht entgegengehalten werden könne. Durch das Vorhaben tritt nämlich eine weitere Verschlechterung zu Lasten der Nachbargrundstücke ein, da die Wand, die die Abstandsflächen schon nicht einhält, gerade nochmals erheblich verlängert wird und dadurch eine noch intensivere und massivere Situation im Hinblick die Belange der Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie des Wohnfriedens geschaffen wird. Die Erforderlichkeit der erneuten Prüfung der Abstandsflächen soll nämlich gerade in Fällen, bei denen im Bestand bereits eine Überschreitung vorliegt, beispielsweise weil dies nach früherem Recht der einzuhaltende Abstand war, verhindern, dass eine weitere Verschlechterung der nachbarlichen Situation eintritt.
Nach alldem war die Klage abzuweisen.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3. Es entsprach der Billigkeit, der Beigeladenen die Tragung ihrer eigenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen, da sie keinen Antrag gestellt und sich somit auch nicht dem Prozessrisiko ausgesetzt hat. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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