Baurecht

Erfolglose Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung

Aktenzeichen  M 9 K 19.2984

Datum:
23.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35804
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Art. 28 Abs. 2 Nr. 1
BauGB § 34 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1 S. 1
BGB 917 Abs. 1

 

Leitsatz

1. § 31 BayBO kommt eine nachbarschützende Wirkung nicht zu. Rettungswege dienen lediglich dem Schutz der Bewohner bzw. Benutzer des jeweiligen Gebäudes. Sie dienen nicht der Verhinderung des Übergreifens des Brandes auf das Nachbargrundstück. Das Übergreifen auf das Nachbargrundstück soll im Wesentlichen durch die Vorschriften zu den Brandwänden verhindert werden. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Rechtsprechung zur Verletzung des Nachbarn in Art. 14 Abs. 1 GG durch ein entstehendes Notwegerecht durch eine bestandskräftige Baugenehmigung betrifft aber nur den Fall einer fehlenden wegemäßigen Erschließung des Grundstücks und kann keinesfalls auf das Fehlen eines zweiten Rettungswegs übertragen werden. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat keinen Erfolg, da sie unbegründet ist.
1. Die Klägerin wird durch die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 27. Mai 2019 nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Anfechtungsklage eines Dritten gegen eine Baugenehmigung kann nur dann Erfolg haben, wenn die Baugenehmigung Vorschriften verletzt, die dem Schutz des Dritten zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im vorliegenden Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung beschränkt sich vielmehr darauf, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die den Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln und die im Baugenehmigungsverfahren prüfungsgegenständlich sind, verletzt sind (vgl. statt aller z. B. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris).
Vorliegend erfolgte die Prüfung zutreffend im Baugenehmigungsverfahren nach Art. 60 Satz 1 BayBO, da nach Art. 2 Abs. 4 Nr. 11 BayBO ein Sonderbau in Form eines Wohnheims vorliegt. Eine Verletzung drittschützender zu prüfender Vorschriften liegt nicht vor. Insbesondere liegt keine Verletzung der Vorschriften über die Abstandsflächen (a) und der drittschützenden Vorschriften des Brandschutzes vor (b).
a) Die Vorschriften über die Abstandsflächen sind nicht verletzt.
Zugunsten der Klägerin kann zwar davon ausgegangen werden, dass die beantragte Nutzungsänderung eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung auslöst; aufgrund von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO sind vorliegend jedoch keine Abstandsflächen erforderlich. Bauliche Änderungen eines Gebäudes lösen, selbst wenn sie für die Berechnung der Abstandfläche maßgebliche Bauteile nicht unmittelbar berühren, grundsätzlich eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung für das gesamte Gebäude aus, wenn sie im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung und Besonnung oder des nachbarlichen „Wohnfriedens“ (vgl. dazu BayVGH, U.v. 3.12.2014 – 1 B 14.819 – juris Rn. 17) haben können (vgl. BayVGH, B.v. 12.1.2007 – 1 ZB 05.2572 – juris Rn. 12; U.v. 26.4.2007 – 26 B 06.1460 – juris Rn. 22; U.v. 11.11.2014 – 15 B 12.2672 – juris Rn. 35). Entsprechendes gilt auch für Nutzungsänderungen (vgl. BayVGH U. v. 26.11.1979 – 51 XIV 78 – BayVBl 80, 405; U.v. 15.4.1981 – 15 B 80 A.1740 – BayVBl 1981, 537; Schwarzer/König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 13 m.w.N.).
Weder nach Norden noch nach Westen sind vor den Außenwänden Abstandsflächen erforderlich.
Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder darf. Dieser Vorrang des Städtebaurechts gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, sondern auch bezüglich der tatsächlich vorhandenen Bauweise im nicht überplanten Innenbereich (Kraus in: Simon/Busse, BayBO, 137. EL Juli 2020, Art. 6 Rn. 34 m.w.N.). Dabei ist Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht nur dann anwendbar, wenn sich der tatsächlich vorhandenen Bebauung in näheren Umgebung ein städtebauliches Ordnungssystem entnehmen lässt, sondern auch bei regelloser Bebauung (BayVGH, B.v. 25.1.2008 – 15 ZB 06.3115 – juris Rn. 16; U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363 – juris Rn. 25). Eine regellose Bebauung liegt vor, wenn eine im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB durchzuführende Bestandsaufnahme des Vorhandenen ergibt, dass die den Maßstab bildende Bebauung Gebäude mit und ohne Grenzabstand umfasst, ohne dass eine Ordnung zu erkennen ist, die als abweichende Bauweise (vgl. § 22 Abs. 4 Satz 1 BauNVO) eingestuft werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363 – juris Rn. 25).
Maßgeblich als nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB ist der Bereich, auf den sich das Bauvorhaben städtebaulich prägend auswirken wird und von dem aus die vorhandene Bebauung das Baugrundstück prägt. Wie weit diese gegenseitige Prägung reicht, ist eine Frage des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – BVerwGE 55, 369). Für das hier streitgegenständliche Bauvorhaben wird die nähere Umgebung unter Berücksichtigung der tatsächlichen Grundstückssituation, wie sie sich der Kammer auch aus den Plänen darstellt, durch die Bebauung rund um den …-Platz gebildet.
Nach dem Ergebnis des Augenscheins liegt dort eine regellose Bebauung vor, da die nähere Umgebung historisch gewachsen offene und geschlossene Bauweise aufweist, ohne dabei ein städtebauliches Ordnungssystem erkennen zu lassen.
Die Hauptgebäude auf den FlNr. … und FlNr. … sind grenzständig zum Nachbargrundstück bzw. zur seitlichen Grundstücksgrenze errichtet. Die Hauptgebäude auf der FlNr. … sind grenzständig zum Nachbargrundstück und zum …-Platz errichtet. Das Hauptgebäude auf der FlNr. … ist grenzständig zum …-Platz und zur …-Str. errichtet. Die Hauptgebäude auf den FlNr. … und … sind grenzständig zueinander errichtet. Das Hauptgebäude auf dem Vorhabengrundstück ist grenzständig nach Norden und ca. 70 cm von der westlichen Grenze entfernt errichtet. Dabei steht ein geringfügiger Grenzabstand der Annahme einer faktischen geschlossenen Bauweise nicht entgegen (Blechschmidt in: EZBK, 138. EL Mai 2020, BauNVO § 22 Rn. 38; für einen Abstand von 0,30 m bis 1 m vgl. HessVGH, B.v. 23.12.1980 – IV TG 99/80 – BRS Bd. 36. Nr. 126). Gerade bei älteren Bauten sind Traufgassen oder schmale Durchgänge häufiger vorzufinden und stellen trotzdem eine geschlossene Bauweise i.S.d. § 22 Abs. 3 BauNVO dar. Der vorliegende Grenzabstand des Bestandsgebäudes auf dem Vorhabengrundstück nach Westen von ca. 70 cm stellt deswegen noch eine Bebauung an der Grundstücksgrenze dar. Das Hauptgebäude der Klägerin ist nicht grenzständig errichtet. Das Hauptgebäude auf der FlNr. … ist nicht grenzständig errichtet. Die Einschätzung des Bevollmächtigten der Klägerin, dass eine grenzständige Bebauung nur zur Straße bzw. zum …- Platz vorliege, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Die historisch gewachsene Bebauung rund um den *.-Platz ist teilweise grenzständig und teilweise nicht grenzständig errichtet. Es handelt sich um eine regellose Bebauung, welche es nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO zulässt an die Grenze zu bauen.
Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist dabei nicht nur für die nördliche Außenwand anwendbar, sondern ebenfalls entsprechend für die westliche Außenwand. Bei einem Abstand zur Grenze von ca. 70 cm handelt es sich um einen sehr geringen seitlichen Abstand. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO kann in solchen Fällen ausnahmsweise entsprechend angewendet werden (vgl. zur ausnahmsweise möglichen entsprechend Anwendung BayVGH, B.v. 3.4 2014 – 1 ZB 13.2536 – juris Rn. 11; dort aber i.E. im konkreten Fall abgelehnt). Vorliegend ist eine solche Ausnahme gerechtfertigt. Der geringe Grenzabstand ergibt sich aus der historischen Entstehung des Grenzverlaufs zwischen dem Vorhabengrundstück und dem Nachbargrundstück. Es handelt sich um ein in die nordwestlich Ecke des Vorhabengrundstücks „gesetztes“ Gebäude. Die kürzere Westwand des Gebäudes erweckt deswegen zusätzlich den Eindruck einer grenzständigen Situierung. Eine Änderung dieser Situierung des Bestandsgebäudes findet nicht statt. Es wird lediglich einer anderen Nutzung zugeführt. Gerade wenn es sich aber nicht um eine Neuerrichtung handelt, muss ein derartiges Gebäude, das wegen seines sehr geringen seitlichen Abstandes bauplanungsrechtlich als geschlossene Bauweise deklariert werden kann und die Umgebung entsprechend prägt, auch für sich selbst die Regelung des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO in Anspruch nehmen können. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 bedarf insoweit einer einschränkenden Auslegung in Bezug auf das Merkmal der Errichtung an der Grenze (vgl. Schönfeld in: BeckOK BauordnungsR Bayern, 16. Ed. 1.6.2020, BayBO Art. 6 Rn. 42).
b) Die nachbarschützenden Vorschriften über die äußeren Brandwände nach Art. 28 BayBO sind nicht verletzt. Die bauordnungsrechtlichen Vorschriften über Brandwände als Gebäudeabschlusswand (vgl. Art. 28 Abs. 1 Alt. 1 BayBO) dienen dem Nachbarschutz, weil sie das Übergreifen des Brandes auch auf Nachbargebäude verhindern sollen (BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 9 CS 19.374 – juris Rn. 19).
Die westliche Gebäudeabschlusswand ist nach der streitgegenständlichen Baugenehmigung in Übereinstimmung mit Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayBO als Brandwand auszuführen. Alle Öffnungen sind in der westlichen Gebäudeabschlusswand hochfeuerhemmend zu schließen.
Die nördliche Wand des Gebäudes muss nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayBO keine Brandwand sein.
Nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayBO sind Brandwände erforderlich als Gebäudeabschlusswand, ausgenommen von Gebäuden ohne Aufenthaltsräume und ohne Feuerstätten mit nicht mehr als 50 m³ Brutto-Rauminhalt, wenn diese Abschlusswände an oder mit einem Abstand von weniger als 2,50 m gegenüber der Grundstücksgrenze errichtet werden, es sei denn, dass ein Abstand von mindestens 5 m zu bestehenden oder nach den baurechtlichen Vorschriften zulässigen künftigen Gebäuden gesichert ist.
Die nördliche Gebäudeabschlusswand ist grenzständig errichtet und hat deswegen einen Abstand zur Grundstücksgrenze von weniger als 2,50 m. Das Erfordernis einer Brandschutzwand entfällt allerdings dennoch, da der Abstand zu den bestehenden Gebäuden größer als 5 m ist und dieser Abstand durch das eingetragene Geh- und Fahrtrecht auch zu zukünftigen nach baurechtlichen Vorschriften zulässigen Gebäuden gesichert ist.
Das Geh- und Fahrtrecht als privatrechtliche Sicherung ist dabei ausreichend, um den Abstand zu zukünftigen nach baurechtlichen Vorschriften zulässigen Gebäuden zu sichern. Privatrechtliche Regelungen oder tatsächliche Hindernisse für eine Bebauung sind für die Sicherung ausreichend (vgl. Molodovsky/Famers/Waldmann in: Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, 47. Update Mai 2020, Art. 28, 5.2.5 Entfallen der Forderung, Rn. 48). Anders als der Bevollmächtigte der Klägerin meint ist keine baurechtliche der Disposition der Parteien entzogene Sicherung notwendig. Die Sicherung durch ein Geh- und Fahrtrecht muss im Rahmen des Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayBO auch anders beurteilt werden als im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 BayBO. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 BayBO reicht die Sicherung mittels eines Geh- und Fahrtrechts regelmäßig nicht aus, da das Geh- und Fahrtrecht den Eigentümer des dienenden Grundstücks nicht daran hindert, die belastete Grundstücksfläche für eigene Abstandsflächen in Anspruch zu nehmen und damit eine grundsätzlich verbotene Überdeckung von Abstandsflächen (Art. 6 Abs. 3 Halbs. 1 BayBO) eintreten kann (Schönfeld in: BeckOK BauordnungsR Bayern, 15. Ed. 1.6.2020, BayBO Art. 6 Rn. 109; BayVGH, B.v. 1.12.1999 – 14 ZS 99.3256 – juris Rn. 4). Das Überdeckungsverbot für Abstandsflächen ist im Rahmen des Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayBO aber nicht relevant. Maßgeblich ist hier nur der tatsächliche Abstand von 5 m, sodass eine unterschiedliche Behandlung der Sicherung durch ein Geh- und Fahrtrecht notwendig ist. Gegenüber Anlagen, die die Breite des Geh- und Fahrtrechts beeinträchtigen, hat der Beigeladene einen Beseitigungsanspruch aus §§ 1027,1004 BGB. Dadurch ist anders als bei einer Abstandsflächendienstbarkeit gesichert, dass der Abstand von 5 m nicht durch in den Abstandsflächen zulässige Gebäude (Art. 6 Abs. 9 BayBO) oder Vorbauten unterschritten wird (vgl. zu diesen Gründen für die fehlende Sicherung nach Art. 28 Abs. 2 Nr. 1 BayBO durch eine bloße Abstandsflächendienstbarkeit BayVGH, B.v. 10.7.2014 – 9 CS 14.998 – juris Rn. 15). Die Möglichkeit ein Geh- und Fahrtrecht einvernehmlich aufzuheben führt nicht dazu, dass von einer fehlenden Sicherung auszugehen ist. Eine solche einvernehmliche Aufhebung ist vorliegend nicht absehbar und eher eine rein theoretische Möglichkeit. Eine dingliche Sicherung, die gegenüber Rechtsnachfolgern Wirkung entfaltet, ist für eine dauerhafte Sicherung ausreichend (zur Dienstbarkeit als Regelfall einer rechtlichen Sicherung vgl. Bauer in: Jäde / Dirnberger / Bauer / Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Stand: September 2014, Art. 28 Rn.18).
Die Breite des Geh- und Fahrtrecht ist ausreichend um den Abstand von 5 m zu sichern, da es im maßgeblichen Bereich überall breiter als 5 m ist.
Zur Ermittlung des Inhalts einer Dienstbarkeit ist nach allgemeiner Ansicht vorrangig auf Wortlaut und Sinn der Grundbucheintragung und der in Bezug genommenen (§ 874 BGB) Eintragungsbewilligung abzustellen, wie er sich für einen unbefangenen Betrachter als nächstliegende Bedeutung des Eingetragenen ergibt. Umstände außerhalb dieser Urkunden dürfen jedoch insoweit mit herangezogen werden, als sie nach den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles für jedermann ohne weiteres erkennbar sind (BayVGH, B. v. 10.7.2014 – 9 CS 14.998, BeckRS 2014, 54505 Rn. 16, beck-online). Für die Breite des eingetragenen Geh- und Fahrtrechts kommt es maßgeblich auf das dem notariellen Vertrag 6. November 1929 beigefügte Mess. Verz. Nr.77/29 an.
Das Mess. Verz. Nr. 77/29 zugrunde gelegt hat das Geh- und Fahrtrecht bereits in einem Abstand von ca. 20 m zur westlichen Gebäudeabschlusswand eine Breite von ca. 5,50 m. Ausgehend von diesen Punkt nach Westen dehnt es sich immer weiter aus. Auf Höhe der westlichen Abschlusswand hat es bereits ca. eine Breite von 13 m. Der als Wohnheim vorgesehene Teil des Gebäudes hat eine Breite von 19,54 m. Im maßgeblichen Bereich ist das Geh- und Fahrtrecht damit immer breiter als 5 m. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass das Mess. Verz. Nr. 77/29 schon aufgrund der Breite der Linien eine gewisse Unschärfe hat. Dennoch ist das Gericht von der Breite des Geh- und Fahrtrechts von mehr als 5 m überzeugt, da der deutlich genauere und in der mündlichen Verhandlung von der Beklagten übergebene Plan „F. …“ vom Juli 1967 ebenfalls eine entsprechende Breite nahelegt. Aus dem vorgelegten Plan „F. …“ vom Juli 1967 geht hervor, dass die Südseite der heutigen Kapelle auf dem klägerischen Grundstück ziemlich genau auf der gleichen Höhe steht, wie das damalige landwirtschaftliche Nebengebäude, an welchem das Geh- und Fahrtrecht endete. Damit kann, obwohl in diesen Plänen das Geh- und Fahrtrecht nicht eingezeichnet ist, die Breite aus dem ursprünglichen Mess. Verz. Nr. 77/29 rekonstruiert werden. Bei einer gedachten Verlängerung der Südseite der Kapelle zum Schnittpunkt der gedachten Verlängerung der östlichen Wand des umgebauten Stalls ist dieser Schnittpunkt nach den zur streitgegenständlichen Baugenehmigung eingereichten Bauvorlagen ca. 5,50 m von der nördlichen Außenwand entfernt. Das Gericht ist deswegen nach einer Gesamtschau der Pläne und dem Augenschein vor Ort davon überzeugt, dass das Geh- und Fahrtrecht im maßgeblichen Bereich des Wohnheims jedenfalls eine Breite von mindestens 5 m hat. Aus dem Plan von 1961 „G. …“ hingegen ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Breite des Geh- und Fahrtrechts, sodass dieser nicht herangezogen werden kann.
Das Geh- und Fahrtrecht ist auch nicht erloschen bzw. nicht mehr durchsetzbar. Ein Erlöschen des Geh- und Fahrtrechts nach § 1019 BGB käme vorliegend allenfalls in Betracht, wenn dessen Ausübung tatsächlich dauerhaft unmöglich ist (vgl. Reischl in BeckOK BGB, 55. Ed. 1.8.2020, BGB § 1019 Rn. 12). Dafür müsste zunächst der Inhalt des Geh- und Fahrtrechts von vornherein exakt und abschließend definiert sein und die Ausübung dieser konkret beschriebenen Art der Nutzung dauerhaft unmöglich sein. Eine abschließende Beschränkung auf eine landwirtschaftliche Nutzung des herrschenden Grundstücks enthält die Bewilligungsurkunde aber gerade nicht. Explizit sollte, dass Gehen und Fahren auch zur Vornahme von etwaigen baulichen Veränderungen dienen. Im Gegensatz zu den anderen definierten Nutzungszwecken fehlt hier ein Bezug zu einer landwirtschaftlichen Nutzung. Die Vornahme baulicher Veränderungen ist nicht dauerhaft ausgeschlossen und vom Bestand einer Landwirtschaft auf dem herrschenden Grundstück unabhängig. Das Geh- und Fahrtrecht kann deswegen weiterhin jedenfalls für die Vornahme baulicher Veränderungen ausgeübt werden. Diese Ausübungsmöglichkeit steht einem Erlöschen entgegen.
c) Eine Prüfung durch das Gericht, ob das Vorhaben die Voraussetzungen des Art. 31 BayBO einhält, musste im Rahmen der vorliegenden Nachbarklage nicht erfolgen. Dem Vorliegen funktionsfähiger Rettungswege kommt keine nachbarschützende Wirkung zu (BayVGH, B.v. 4.7.2018 – 9 ZB 17.1984, BeckRS 2018, 15280 Rn. 16, beck-online). Die Rettungswege dienen lediglich dem Schutz der Bewohner bzw. Benutzer des jeweiligen Gebäudes. Sie dienen nicht der Verhinderung des Übergreifens des Brandes auf das Nachbargrundstück. Das Übergreifen auf das Nachbargrundstück soll im Wesentlichen durch die Vorschriften zu den Brandwänden verhindert werden.
Eine Verletzung der Klägerin nach Art. 14 Abs. 1 GG durch die streitgegenständliche Baugenehmigung und dem im Brandschutznachweis vorgesehenen zweiten Rettungsweg über das Grundstück der Klägerin ist ausgeschlossen. Ein Genehmigungsabwehranspruch käme ausnahmsweise nur dann in Betracht, wenn eine rechtswidrige Baugenehmigung unmittelbar in das Grundeigentum des Nachbarn eingreifen und dadurch dessen Rechte aus Art. 14 Abs. 1 GG verletzen würde. Zur Begründung einer Nachbarrechtsverletzung durch eine erteilte Baugenehmigung kann allerdings im Regelfall nicht allein auf das Eigentumsgrundrecht zurückgegriffen werden, weil der Gesetzgeber in Ausfüllung seines legislatorischen Gestaltungsspielraums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) nachbarliche Abwehrrechte im Baurecht verfassungskonform ausgestaltet und insofern unter Einschluss der Grundsätze des nachbarschützenden Rücksichtnahmegebots ein geschlossenes System des nachbarlichen Drittschutzes bereitgestellt hat (vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 – 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69 = juris Rn. 40; U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364 = juris Rn. 40 ff.; U.v. 7.11.1997 – 4 C 7.97 – NVwZ 1998, 735 = juris Rn. 20 f.). Ausnahmen erkennt die Rechtsprechung nur in Fallgestaltungen an, in denen das genehmigte Bauvorhaben eine praktisch unmittelbar gegenständliche Inanspruchnahme des Nachbargrundstückes zur Folge hat. Einem Nachbarn kann daher ein Abwehrrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG gegenüber einer Baugenehmigung dann zustehen, wenn deren Umsetzung infolge des Fehlens der wegemäßigen Erschließung des Baugrundstücks zur Begründung oder Ausweitung eines Notwegerechts nach § 917 Abs. 1 BGB an seinem Grundstück führt und damit gleichsam im Wege einer „Automatik“ eine unmittelbare Verschlechterung seiner Eigentumsrechte bewirkt, ohne dass ihm im Übrigen hiergegen ein sonstiger effektiver Rechtsschutz zur Verfügung steht, weil die Baugenehmigung nach Bestandskraft auch für die Zivilgerichte bindende Wirkung entfaltet (vgl. BayVGH, B.v. 1.6.2016 – 15 CS 16.789 – juris Rn. 16 m.w.N.; NdsOVG, U.v. 21.1.2016 – 1 LB 57/15 – juris Rn. 14).
Die Rechtsprechung zur Verletzung des Nachbarn in Art. 14 Abs. 1 GG durch ein entstehendes Notwegerecht durch eine bestandskräftige Baugenehmigung betrifft aber nur den Fall einer fehlenden wegemäßigen Erschließung des Grundstücks und kann keinesfalls auf das Fehlen eines zweiten Rettungswegs übertragen werden.
Fehlt einem Grundstück die zur ordnungsmäßigen Benutzung notwendige Verbindung mit einem öffentlichen Wege, so kann der Eigentümer von den Nachbarn nach § 917 Abs. 1 Satz 1 BGB verlangen, dass sie bis zur Hebung des Mangels die Benutzung ihrer Grundstücke zur Herstellung der erforderlichen Verbindung dulden. Die ordnungsgemäße Benutzung i.S.d. § 917 Abs. 1 Satz 1 BGB setzt unter anderem die Erreichbarkeit mit Kraftfahrzeugen voraus (VG München, U.v. 23.11.2016 – M 9 K 15.4601 – juris Rn. 29). Ein Notwegerecht i.S.d. § 917 BGB für die Nutzung als zweiten Rettungsweg kann aber nicht entstehen. Die ordnungsgemäße Grundstücksnutzung umfasst keine gelegentlich auftretenden Sonderbedürfnisse wie die Zufahrt von Rettungsfahrzeugen (Fritzsche in: BeckOK BGB, 55. Ed. 1.8.2020, BGB § 917 Rn. 9). Diese gelegentlichen Sonderbedürfnisse stellen auch dann keine ordnungsgemäße Grundstücksbenutzung dar, wenn diese in einer Baugenehmigung vorausgesetzt werden. Eine bestandskräftige Baugenehmigung kann nur Benutzungen, die vom § 917 Abs. 1 Satz 1 BGB umfasst sind, für ordnungsgemäß i.S.d. § 917 Abs. 1 Satz 1 BGB billigen. Die Benutzung seines Grundstücks zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr hat der Nachbar bereits wegen § 904 Satz 1 BGB zu dulden. Eines Notwegerechts bedarf es insoweit nicht. Die Anwendbarkeit des Notstandsrechts aus § 904 Satz 1 BGB ist nicht davon abhängig, ob eine bestandskräftige Baugenehmigung vorliegt, sodass aus einer Baugenehmigung diesbezüglich keine im Wege einer „Automatik“ eintretende Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG resultieren kann.
Mangels drittschützender Wirkung kann deswegen offenbleiben, ob das Geh- und Fahrtrecht für das Vorliegen eines zweiten Rettungswegs ausreicht oder überhaupt notwendig ist.
2. Die Kostenentscheidung fußt auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Der Beigeladene hat sich aufgrund der Antragstellung in ein Kostenrisiko begeben, sodass es der Billigkeit entspricht, der Klägerin dessen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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