Baurecht

Erfolgloses Eilbegehren von Nachbarn auf baubaufsichtliches Einschreiten wegen vorläufiger Nutzungsuntersagung zu Wohnzwecken

Aktenzeichen  9 CE 20.1968

Datum:
4.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30466
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123, § 146 Abs. 4 S. 6
BayBO Art. 76 S. 2

 

Leitsatz

Allein der bloße Hinweis auf den Zeitablauf behördlicher oder verwaltungsgerichtlicher Verfahren reicht nicht aus, die erforderliche Dringlichkeit einer einstweiligen Regelungsanordnung glaubhaft zu machen, denn  nicht alles, was unter dem Gesichtspunkt des baurechtlichen Nachbarschutzes als rücksichtslos und unzumutbar zu bewerten sein könnte, ist bereits ein für die Dauer des Hauptsacheverfahrens nicht hinzunehmender wesentlicher Nachteil.(Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 17 E 20.981 2020-08-10 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller begehren von der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung bauaufsichtliches Einschreiten gegenüber dem Beigeladenen.
Dem Beigeladenen wurde mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. Dezember 2016 die Baugenehmigung zum Einbau von fünf Wohnungen und Lagerräumen in ein zwei- bis dreigeschossiges ehemaliges Fabrikgebäude auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung A* … erteilt. Die Antragsteller sind Miteigentümer (Antragsteller zu 2) bzw. Nießbraucherin (Antragstellerin zu 1) der unmittelbar angrenzenden Grundstücke FlNrn. … und … Gemarkung A* … Auf deren Klage hin, wurde die Baugenehmigung vom 15. Dezember 2016 mit rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 5. März 2020 (Az. AN 17 K 17.00172) aufgehoben; vorausgegangen war ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in dem die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Antragsteller gegen diese Baugenehmigung im Beschwerdeverfahren angeordnet wurde (vgl. VG Ansbach, B.v. 31.1.2019 – AN 17 S 18.2454; BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 9 CS 19.374).
Mit E-Mail vom 22. Juli 2019 forderte der Bevollmächtige der Antragsteller die Antragsgegnerin auf, die Einstellung der Bauarbeiten auf dem Grundstück des Beigeladenen sowie eine Absicherung der Baustelle hinsichtlich des Brandschutzes zu überprüfen. Unter dem 8. Oktober 2019 wurde seitens der Antragsteller mitgeteilt, dass das Gebäude auf dem Grundstück des Beigeladenen weiter bewohnt sei und Umbauarbeiten vorgenommen würden. Am 28. April 2020 forderte der Bevollmächtigte der Antragsteller die Antragsgegnerin auf, die Bauarbeiten unverzüglich einzustellen und die Nutzung zu untersagen. Mit E-Mail vom 28. April und 15. Mai 2020 teilte die Antragsgegnerin mit, dass die Prüfung einer Nutzungsuntersagung erst nach Begründung der gerichtlichen Entscheidung vom 5. März 2020 erfolge; laufende Bauarbeiten hätten bei stichprobenartigen Kontrollen nicht festgestellt werden können.
Mit Schriftsatz vom 25. Mai 2020 erhoben die Antragsteller Klage auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Einstellung der Bauarbeiten auf dem Grundstück des Beigeladenen sowie zum Erlass einer Nutzungsuntersagung zu Wohnzwecken (AN 17 K 20.00982), über die noch nicht entschieden ist. Gleichzeitig wurde ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, der vom Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 10. August 2020 abgelehnt wurde. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass hinsichtlich der Baueinstellung aktuell stattfindende oder konkret-unmittelbar drohende rechtswidrige Bauarbeiten am Gebäude des Beigeladenen nicht glaubhaft gemacht worden seien. Hinsichtlich der Verpflichtung zum Erlass einer Nutzungsuntersagung liege keine Ermessensreduzierung auf Null für ein bauaufsichtliches Einschreiten vor und auch das erforderliche spezifische Interesse an einer vorläufigen Regelung bestehe nicht.
Hiergegen wenden sich die Antragsteller mit ihrer Beschwerde. Sie sind der Ansicht, dass es ihnen nicht zumutbar sei, die Verbescheidung in der Hauptsache abzuwarten, weil es bereits dreieinhalb Jahre bis zur Aufhebung der Baugenehmigung vom 15. Dezember 2016 gedauert habe.
Aufgrund des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 5. März 2020 stehe rechtskräftig fest, dass die Wohnnutzung formell und materiell illegal sei. Eine Wohnnutzung sei auch nicht genehmigungsfähig, weil das Geh- und Fahrtrecht, das zugunsten des Grundstücks des Beigeladenen eingetragen sei, erloschen sei. Für ein bauaufsichtliches Einschreiten zugunsten der Antragsteller bestehe eine Ermessensreduzierung auf Null, weil ihre vorausgegangene Nachbarklage erfolgreich gewesen sei; auf eine unzumutbare, nicht anders zu beseitigende Gefahr komme es deshalb nicht an. Zudem bestehe im Hinblick auf das bundesrechtliche Erschließungsgebot die Verpflichtung, Bundesrecht Geltung zu verschaffen. Mangels Vortrag des Beigeladenen, dass die Mieter die Wohnungen nicht freiwillig räumten, bedürfe es auch keiner Duldungsanordnung gegenüber diesen.
Die Antragsteller haben keinen Antrag gestellt, begehren aber sinngemäß,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10. August 2020 aufzuheben, soweit darin ihr Antrag abgelehnt wurde, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, dem Beigeladenen die Nutzung des Grundstücks K* …straße …, A* … (FlNr. … Gemarkung A* …*) zu Wohnzwecken mit einer sofort vollziehbaren Anordnung vorläufig zu untersagen und die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Beigeladenen die Nutzung des Grundstücks K* …straße …, A* … (FlNr. … Gemarkung A* …*) zu Wohnzwecken mit einer sofort vollziehbaren Anordnung vorläufig zu untersagen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, der Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach sei zutreffend.
Der Beigeladene hat sich nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die von den Antragstellern dargelegten Gründe, auf die die Prüfung des Senats im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.
Hinsichtlich der begehrten Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Erlass einer sofort vollziehbaren Nutzungsuntersagung des Anwesens des Beigeladenen zu Wohnzwecken im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes liegen, unabhängig von der Frage, ob der Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegend besonders hohen Hürden unterliegt, weil die von den Antragstellern begehrte sofort vollziehbare Nutzungsuntersagung zu Wohnzwecken eine Vorwegnahme der Hauptsache bedeuten würde (vgl. HessVGH, B.v. 3.3.2016 – 4 B 403/16 – juris Rn. 10, 11), die Voraussetzungen für eine Regelungsanordnung schon nach den allgemeinen Anforderungen des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO nicht vor. Die auf eine Veränderung des status quo gerichtete Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist nur dann möglich, wenn eine vorläufige Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V. mit § 920 Abs. 2 ZPO), dass einerseits ein materieller Anspruch (sog. Anordnungsanspruch) glaubhaft gemacht wird, auf den sich die vorläufige Regelung beziehen soll, und dass andererseits die Gründe glaubhaft gemacht werden, die eine vorläufige Regelung im Wege einer gerichtlichen Eilentscheidung nötig machen (sog. Anordnungsgrund). Der Anordnungsgrund erfordert hierbei gerade die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung bis zum rechtskräftigen Abschluss der Entscheidung über die Hauptsache (vgl. BayVGH, B.v. 16.4.2019 – 15 CE 18.2652 – juris Rn. 17).
Hier kann offen bleiben, ob zugunsten der Antragsteller ein Anordnungsanspruch besteht bzw. ob ein solcher von den Antragstellern glaubhaft gemacht wurde. Denn es fehlt jedenfalls in Bezug auf einen von den Antragstellern behaupteten Anordnungsanspruch aus Art. 76 Satz 2 BayBO auf Erlass einer vorläufigen Nutzungsuntersagung an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Dringlichkeit der Sache liegt in aller Regel nur dann vor, wenn es dem Antragsteller im Verfahren gem. § 123 VwGO unter Berücksichtigung seiner Interessen nicht zumutbar ist, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten (vgl. BayVGH, B.v. 16.4.2019 – 15 CE 18.2652 – juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 19.11.2013 – 2 CE 13.2253 – juris Rn. 3 m.w.N). Dies ist hier nicht der Fall.
1. Die Antragsteller sind der Ansicht, ein Abwarten bis zur Verbescheidung ihres Antrags im Hauptsacheverfahren sei ihnen nicht zumutbar, weil es bereits dreieinhalb Jahre bis zur Aufhebung der nachbarrechtswidrigen Baugenehmigung vom 15. Dezember 2016 gedauert habe und auch bei Anfechtung einer eventuell erteilten neuen Baugenehmigung ein erheblicher Zeitraum verstreiche. Allein der bloße Hinweis auf den Zeitablauf behördlicher oder verwaltungsgerichtlicher Verfahren ist jedoch nicht ausreichend, die erforderliche Dringlichkeit i.S.d. § 123 VwGO glaubhaft zu machen. Denn nicht alles, was unter dem Gesichtspunkt des baurechtlichen Nachbarschutzes als rücksichtslos und unzumutbar zu bewerten sein könnte, ist bereits ein für die Dauer des Hauptsacheverfahrens nicht hinzunehmender wesentlicher Nachteil (vgl. BayVGH, B.v. 16.4.2019 – 15 CE 18.2652 – juris Rn. 25, 41). Das Beschwerdevorbringen zeigt nicht auf, dass die Beeinträchtigungen infolge der Wohnnutzung des klägerischen Grundstücks, zumal unter Berücksichtigung der insoweit besonderen Anforderungen bei Untersagung von Wohnnutzung (vgl. BayVGH, B.v. 5.11.2019 – 9 CS 19.1675 – juris Rn. 13; B.v. 28.6.2016 – 15 CS 15.44 – juris Rn. 13), bereits einen für die Dauer des Hauptsacheverfahrens nicht hinzunehmenden Nachteil darstellten (vgl. BayVGH, B.v. 19.11.2013 – 2 CE 13.2553 – juris Rn. 4).
2. Soweit die Baugenehmigung vom 15. Dezember 2016 wegen mangelnder Bestimmtheit und fehlerhafter Ermessensausübung im Rahmen der erteilten Abweichungen von brandschutzrechtlichen Vorschriften vom Verwaltungsgericht mit Urteil vom 5. März 2020 aufgehoben wurde, lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen, dass die Antragsteller im Hinblick auf die aktuell ausgeübte Wohnnutzung der Gefahr eines jederzeit denkbaren Brandfalles ausgesetzt wären. Das Verwaltungsgericht hat darauf abgestellt, dass keine gesteigerte Gefahr des Übergreifens eines etwaigen Brandes auf das Gebäude der Antragsteller bestehe. Es führt dazu insbesondere aus, dass die nördlichste Öffnung auf der Nordostseite des Bauvorhabens im ersten Obergeschoss – abweichend von der Baugenehmigung vom 15. Dezember 2016 – kein Fenster mehr, sondern ein schmaler zweireihiger Streifen mit quadratischen gemauerten, nicht offenbaren und intransparenten Glasbausteinen sei (BA S. 25 f.). Der Windfang im südöstlichen Abschnitt auf der Nordostseite sei abgerissen worden (BA S. 28), hinsichtlich der beiden südlichsten Fensteröffnungen auf der Nordostseite im ersten Obergeschoss liege auf dem Grundstück der Antragsteller eine unbebaute Freifläche (BA S. 29) und der hinter dem Vorbau liegende Teil des Gebäudes des Beigeladenen werde nicht als Wohnraum genutzt (BA S. 30). Dem tritt das Beschwerdevorbringen nicht entgegen.
3. Auch aus dem Vortrag der Antragsteller, das Geh- und Fahrtrecht zugunsten des Grundstücks des Beigeladenen sei erloschen, ergibt sich keine Dringlichkeit für den Erlass einer einstweiligen Anordnung i.S.d. § 123 VwGO auf vorläufige Nutzungsuntersagung des Anwesens zu Wohnzwecken. Denn ein eventuelles Notwegerecht (vgl. BayVGH, B.v. 3.1.2018 – 15 ZB 16.2309 – juris Rn. 14; B.v. 5.3.2018 – 2 ZB 15.1558 – juris Rn. 4), gegen das sich die Antragsteller wenden, würde erst mit bestandskräftiger Baugenehmigung entstehen. Eine solche Baugenehmigung liegt hier jedoch nicht (mehr) vor, so dass es den Antragstellern zumutbar ist, insoweit gegebenenfalls zivilrechtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Da sich der Beigeladene im Beschwerdeverfahren nicht beteiligt hat, entspricht es der Billigkeit, dass er seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (§ 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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