Baurecht

Zulässigkeit eines großflächigen Einzelhandelsbetriebs

Aktenzeichen  9 CS 18.177

Datum:
12.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 2298
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BauNVO § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 3, S. 4

 

Leitsatz

In Anbetracht einer nach dem Einzelhandelskonzept sogar überdurchschnittlichen Versorgung des Stadtgebietes und nicht zuletzt der erheblich über dem Schwellenwert des § 11 Abs. 3 S. 3 BauNVO liegenden Geschossfläche eines Vorhabens von 2100 qm, mit der eine entsprechend große Verkaufsfläche einhergeht, stellt es trotz des mit seiner Errichtung ggf. verbundenen Effektes der Schließung einer noch bestehenden Versorgungslücke im Nahbereich noch immer den vom Gesetzgeber in den Blick genommenen Regelfall dar, der wegen dem zu erwartenden Einzugsgebiet Auswirkungen über den Nahbereich hinaus entfaltet. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 9 S 17.2265, AN 9 S 17.2266, AN 9 S 17.2277, AN 9 S 17.2295, AN 9 S 17.2302 2017-12-29 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerden werden zurückgewiesen.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten der Beschwerdeverfahren.
III. Der Streitwert für die Beschwerdeverfahren wird auf 18.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsteller wenden sich als Eigentümer benachbarter Wohnanwesen (Antragstellerin zu 1: FlNr. …, Antragstellerin zu 2: FlNr. …, Antragsteller zu 3: FlNr. …, Antragsteller zu 4 und 5: FlNr. …, Antragsteller zu 6 und 7: FlNr. …, jeweils Gemarkung H …) gegen die der Beigeladenen mit Bescheid des Landratsamts A … vom 29. Juni 2017 erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Lebensmittelmarktes mit einer Verkaufsfläche von 1.199,80 m² und einer Geschossfläche von ca. 2.100 m² auf dem Grundstück S … in H … (FlNr. … der Gemarkung H …) mit einem Parkplatz mit 108 Stellplätzen auf dem Grundstück FlNr. …
Die Antragsteller haben gegen die Baugenehmigung Klagen zum Verwaltungsgericht erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Ihren jeweils auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klagen gerichteten Anträgen hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 29. Dezember 2017 in gemeinsamer Entscheidung stattgegeben. Bei hohen Erfolgsaussichten der Klagen der Antragsteller zu 6 und 7 und jedenfalls offenen Erfolgsaussichten der Klagen der übrigen Antragsteller überwiege deren Aussetzungsinteresse gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen. In den genehmigten Bauvorlagen fehle die Nordansicht des Bauvorhabens, weshalb die vom Vorhaben ausgelösten Abstandsflächen zum Grundstück FlNr. … der Antragsteller zu 6 und 7 nicht ausreichend überprüfbar seien. Darüber hinaus sei die Abstandsfläche von 1 H nach Norden nicht eingehalten. Hinsichtlich der hierzu erteilten Abweichung fehle es an der erforderlichen Atypik. In Bezug auf die (übrigen) Antragsteller sei nicht ausgeschlossen, dass das Vorhaben deren Gebietserhaltungsanspruch verletze. Dies hänge davon ab, ob die nähere Umgebung des Bauvorhabens, zu der der Bereich nördlich der A … Straße sowie westlich des nach Norden verlaufenden Teils des S … bis zu dem nördlich gelegenen öffentlichen Schulgebäude auf dem Grundstück FlNr. … und der Straße „Z …“ im Westen gehöre, einem der Gebietstypen in der BauNVO entspreche oder als Gemengelage einzustufen sei. Eine Typisierung als Mischgebiet oder Wohngebiet sei denkbar. Die zur Beurteilung erforderliche Inaugenscheinnahme müsse aber dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Bei Vorliegen eines Gebietstyps der BauNVO könne die Sonderregelung des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO dem Vorhaben entgegenstehen. Der geplante Lebensmittelmarkt sei großflächig und unterfalle der Regelvermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO, die nicht widerlegt sei. Ob bei Vorliegen einer Gemengelage das Rücksichtnahmegebot verletzt wäre, könne dahinstehen. Das Interesse der Antragsteller, die Bauausführung zunächst zu verhindern, überwiege, weil sonst die Gefahr der Schaffung vollendeter Tatsachen bestünde. Ein besonderes Dringlichkeitsinteresse der Beigeladenen sei nicht vorgetragen. Finanzielle Nachteile durch verspätete Bauausführung genügten hier nicht.
Hiergegen wendet sich die Beigeladene mit ihrer Beschwerde. Die vom Verwaltungsgericht festgestellte Erforderlichkeit einer Abstandsfläche von 1 H werde nicht angegriffen. Die Beigeladene habe zwischenzeitlich einen „Tekturantrag“ vom 23. Januar 2018 mit überarbeiteten Plänen eingereicht. Danach würden die Abstandsflächen nach Norden nunmehr eingehalten. Der Antrag sei im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen. Es werde verbindlich erklärt, dass die Beigeladene von der angefochtenen Baugenehmigung keinen Gebrauch machen werde, als die nach Norden hin durch das Vorhaben ausgelöste Abstandsfläche die Straßenmittellinie des S … überschreite. Im Übrigen müsse sich ein genehmigter Nachtragsplan mit der Ansicht Nord/Süd bei den Akten befinden; jedenfalls könne das Bauherrenexemplar vorgelegt werden.
Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Gebietstypisierung der näheren Umgebung seien „Im Prinzip“ nicht mit der Beschwerde angegriffen. Es werde allerdings klarstellend und ergänzend darauf hingewiesen, dass das Vorliegen eines Wohngebiets wohl ausscheide, da sich in dem Gebiet, dessen Abgrenzung nicht angegriffen werde, zumindest zwei gewerbliche Nutzungen befänden, nämlich der Schreinereibetrieb im Anwesen S … sowie die Fa. E … im Anwesen S … Hinzu kämen die gewerblichen Nutzungen auf dem Betriebs- und Baugrundstück der Beigeladenen, welche trotz Teilabrisses prägend fortwirkten. Das Betriebsgelände der Beigeladenen könne bei seiner Größe überdies ein eigenes Gewerbegebiet darstellen.
Aus städtebaulichen Gründen sei in Bezug auf § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO von einer atypischen Fallgestaltung auszugehen. Das Verwaltungsgericht habe bei seiner Einschätzung nicht berücksichtigt, dass es in ganz H … nur einen Versorgungsstandort gebe, nämlich dem an der M … Straße/I …straße. Das Verwaltungsgericht sei darüber hinweggegangen, dass in der Innenstadt keine nennenswerten Versorgungsangebote für Lebensmittel bestünden. Im Bereich der westlichen Kernstadt bestehe daher Unterversorgung hinsichtlich eines qualifizierten Nahversorgers. Für die in der westlichen Hälfte von H … lebende Wohnbevölkerung bestehe keine verbrauchernahe, d.h. fußläufig zumutbar erreichbare Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs. Hieraus resultiere eine atypische städtebauliche Situation. Auswirkungen der in § 11 Abs. 3 Satz 2 BauNVO genannten Art seien mit dem Vorhaben nicht verbunden.
Es bestehe außerdem das dringliche wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen, das genehmigte Vorhaben alsbald umzusetzen. Sie sei gegenüber der Marktmieterin zu einer Übergabe bis spätestens 30. Oktober 2018 verpflichtet. Mit diesem Termin stehe und falle das Vorhaben. Es sei der Rücktritt vom Vertrag durch die Mieterin zu befürchten. Scheitere das Projekt, sei wegen der bereits getätigten Investitionen mit einem Millionenschaden sowie der Existenzgefährdung der Beigeladenen zu rechnen.
Die Beigeladene beantragt,
in Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 29. Dezember 2017 die Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen.
Der Antragsgegner stellt keinen Antrag und verweist auf die aus seiner Sicht zutreffende Beschwerdebegründung.
Die Antragsteller beantragen,
die Beschwerden zurückzuweisen.
Die Antragsteller zu 1 bis 3 führen im Wesentlichen aus, dass im unstreitigen Umgriff der näheren Umgebung nahezu ausnahmslos Wohnbebauung bestehe. Das Baugrundstück selbst sei unberücksichtigt zu lassen, da die bestehende Nutzung aufgegeben, zudem als Fremdkörper anzusehen gewesen sei. Es bestehe ein Gebietserhaltungsanspruch der Antragsteller. Das großflächige Bauvorhaben sei weder im Wohngebiet noch im Mischgebiet zulässig, sondern als Regelfall einem Sonderregime zu unterwerfen. Überdies werde das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Dies ergebe sich insbesondere aus der erheblichen Zunahme von Lärm und Abgasen, der Belastung durch Beleuchtung und der unzulänglichen Erschließung.
Die Antragsteller zu 4 bis 7 sind der Auffassung, der Tekturantrag und der Teilverzicht seien unbehelflich. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Gebietserhaltungsanspruch und zum Umgriff der näheren Umgebung seien ausdrücklich nicht mit der Beschwerde angegriffen worden. Das Bauvorhaben erfülle nicht die Funktion der Gebiets- und Nahversorgung, sondern sei für diese deutlich überdimensioniert.
Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerden der Beigeladenen haben keinen Erfolg. Die von der Beigeladenen geltend gemachten Beschwerdegründe‚ auf deren Prüfung der Senat im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO)‚ rechtfertigen keine Änderung der angefochtenen Entscheidung. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, sind die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklagen aller Antragsteller zumindest als offen einzuschätzen. Die demnach vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen fällt zu Gunsten der Antragsteller aus.
1. Das Verwaltungsgericht ist hinsichtlich der Antragsteller zu 6 und 7 davon ausgegangen, dass deren Anfechtungsklagen voraussichtlich erfolgreich sein werden, weil die angefochtene Baugenehmigung ihre drittschützenden Rechte verletzt. Es hat hierzu ausgeführt, dass die vom Bauvorhaben ausgelösten Abstandsflächen zum Grundstück dieser Antragsteller wegen Unvollständigkeit der Bauunterlagen nicht überprüfbar seien und die vom Landratsamt insoweit erteilte Abweichung auch erheblichen rechtlichen Bedenken unterliege. Die Beigeladene hat hierzu im Beschwerdeverfahren darauf verwiesen, dass sie zwischenzeitlich am 23. Januar 2018 einen „Tekturantrag“ mit überarbeiteten Plänen bei der Stadt H … eingereicht hat. Über diesen Antrag ist nach Aktenlage bisher noch nicht entschieden worden. Es kann deshalb nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass dieser Antrag zu einer vom Verwaltungsgericht abweichenden Beurteilung der Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage dieser Antragsteller führen könnte. Dies bedarf aber keiner Vertiefung.
2. Die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklagen der weiteren Antragsteller hat das Verwaltungsgericht als offen angesehen, weil durch die Genehmigung des Lebensmittelmarktes in einem Bereich mit einem hohen Anteil von Wohnbebauung jedenfalls die Verletzung eines Gebietserhaltungsanspruchs im Raum stehe, sich der Gebietscharakter der näheren Umgebung aber erst im Rahmen einer Beweiserhebung durch eine Inaugenscheinnahme im Hauptsacheverfahren beurteilen lasse. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Antragsteller zu 6 und 7.
a) Entspräche die Eigenart der näheren Umgebung nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme durch Augenschein einem der in der Baunutzungsverordnung – BauNVO – bezeichneten Baugebiete, bestimmt § 34 Abs. 2 BauGB, dass sich die Zulässigkeit eines Vorhabens nach seiner Art allein danach richtet, ob es nach der BauNVO allgemein zulässig ist. Auch in den Fällen des § 34 Abs. 2 BauGB ist die Zulässigkeit großflächiger Einzelhandelsbetriebe mithin nach § 11 Abs. 3 BauNVO zu beurteilen (BVerwG, B.v. 12.2.2009 – 4 B 3/09 – juris Rn. 9). Der Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in demselben durch Bebauungsplan festgesetzten oder faktischen Baugebiet unabhängig von tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigungen das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen (grundlegend BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 ff.; vgl. auch BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 15 ZB 16.398 – juris Rn. 9 m.w.N.).
Läge kein Anwendungsfall des § 34 Abs. 2 BauGB vor, sondern wäre von einer Gemengelage auszugehen, würde sich die Zulässigkeit des Bauvorhabens der Beigeladenen nach § 34 Abs. 1 BauGB richten und könnten die Antragsteller klageweise mit Einwendungen gegen die Nutzungsart nur dann durchdringen, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des Einfügens enthaltene Gebot der Rücksichtnahme verstößt (vgl. BayVGH, B.v. 10.8.2016 – 9 ZB 16.944 – juris Rn. 11; B.v. 23.12.2013 – 15 CS 13.1445 – juris Rn. 30 m.w.N.; VGH BW, B.v. 29.3.2017 – 5 S 1389/16 – ZfBR 2017, 1322 = juris Rn. 6, 19 m.w.N.).
b) Das Verwaltungsgericht ist auf der Grundlage der ihm vorliegenden Luftbilder und Kataster davon ausgegangen, dass die nähere Umgebung des Bauvorhabens durch den Bereich nördlich der A … Straße sowie westlich des nach Norden verlaufenden Teils des S … bis zu dem nördlich gelegenen öffentlichen Schulgebäude auf dem Grundstück FlNr. … Gemarkung H … und der Straße „Z …“ im Westen gebildet werden dürfte, in dem sich auch die Grundstücke der Antragsteller befinden. Diese Ausführungen sind erklärter Maßen nicht mit der Beschwerde angegriffen worden.
Die im Beschwerdevorbringen „klarstellend und ergänzend“ enthaltenen Ausführungen, welche Gesichtspunkte, gegen die Annahme eines reinen oder allgemeinen Wohngebietes sprächen, und warum das Vorhabengrundstück, insbesondere unter Hinzunahme des Parkplatzgrundstücks FlNr. …, ein eigenes (faktisches) Baugebiet sein könne, beziehen sich allein auf die Frage, ob und welchem Gebietstyp der BauNVO diese nähere Umgebung entsprechen könnte. Das Verwaltungsgericht hat hier wegen der gewerblichen Nutzung auf zwei weiteren Grundstücken und der überwiegend vorhandenen Wohnbebauung das Vorliegen eines faktischen Mischgebiets bzw. sogar eines Wohngebiets als möglich angesehen. Es hat aber darauf verwiesen, dass für eine vorzunehmende Typisierung die Besonderheiten der örtlichen Situation ausschlaggebend seien und sich der Gebietscharakter letztlich nur im Rahmen einer Beweisaufnahme durch Inaugenscheinnahme der näheren Umgebung im Hauptsacheverfahren beurteilen lasse. Diese zutreffende Einschätzung wird von diesem Beschwerdevorbringen nicht in Frage gestellt.
c) Wenn die nähere Umgebung des Bauvorhabens in der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Weise abzugrenzen ist und sich als faktisches Baugebiet nach der BauNVO darstellen würde, wofür vieles spricht, läge auch eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs der Antragsteller nahe, weil das mit dem angefochtenen Bescheid genehmigte Vorhaben mit einer Verkaufsfläche von fast 1.200 m² – unstreitig – ein großflächiger Einzelhandelsbetrieb im Sinne von § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO ist und diese Sonderreglung auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens seiner Zulässigkeit entgegensteht.
Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO, der entsprechend auch auf Vorhaben innerhalb von faktischen Baugebieten Anwendung findet (BVerwG, B.v. 12.2.2009 – 4 B 3.09 – juris Rn. 9), sind großflächige Einzelhandelsbetriebe, die sich nach Art, Lage oder Umfang auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken können, außer in Kerngebieten nur in für sie festgesetzten Sondergebieten zulässig. Solche – in Satz 2 der Vorschrift beispielhaft bezeichneten – Auswirkungen sind gemäß § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO in der Regel anzunehmen, wenn die Geschossfläche – wie hier deutlich – 1.200 m² überschreitet. § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO geht dabei in einer typisierenden Betrachtungsweise davon aus, dass bei großflächigen Einzelhandelsbetrieben mit einer Geschossfläche von mehr als 1.200 m² Auswirkungen auf die städtebauliche Ordnung und Entwicklung, insbesondere auf die infrastrukturelle Ausstattung, auf den Verkehr und auf die Versorgung der Bevölkerung im Einzugsbereich dieser Betriebe eintreten können.
Die Vermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO kann allerdings widerlegt werden. Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4 BauNVO gilt die Regel des Satzes 3 nicht, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Auswirkungen bei mehr als 1.200 m² Geschossfläche nicht vorliegen; dabei sind in Bezug auf die in Satz 2 bezeichneten Auswirkungen insbesondere die Gliederung und die Größe der Gemeinde und ihrer Ortsteile, die Sicherung der verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung und das Warenangebot des Betriebs zu berücksichtigen.
Das Verwaltungsgericht hat anhand der Akten nicht nachvollziehen können, dass eine solche atypische Fallgestaltung vorliegt. Auch unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens, wonach für das streitgegenständliche Bauvorhaben eine besondere städtebauliche Situation wegen einer Unterversorgung in der westlichen Kernstadt von H … vorliege, ist dies nicht zu beanstanden. Die dort weiter erörterte Frage, ob mit dem Vorhaben Auswirkungen im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO verbunden sind oder sein können, stellt sich erst, wenn die Vermutungsregel wegen einer atypischen Fallgestaltung nicht greift (BVerwG, U.v. 13.12.2007 – 4 C 9/07 – BVerwGE 130, 113-122 = juris R. 19).
Das Verwaltungsgericht hat die von der Beigeladenen vorgelegte Auswirkungsanalyse der S … GmbH vom Juni 2017 sowie deren Kurzstellungnahme vom 20. November 2017 und in diesem Zusammenhang auch die attestierte Unterversorgung in der westlichen Kernstadt von H … hinsichtlich fußläufig erreichbarer Nahversorgungsangebote gewürdigt. Es hat eine solche Unterversorgung nicht etwa angezweifelt, wie die Beigeladene, die zu Entfernungen zwischen westlich gelegenen Standpunkten und dem vorhandenen Versorgungszentrum M … Straße/I …straße näher ausführt, zu meinen scheint. Vielmehr hat es nichtsdestotrotz keinen städtebaulichen Ausnahmefall erkannt und dies zutreffend im Rahmen einer hier vorzunehmenden Gesamtschau (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.2005 – 4 C 10/04 – BVerwGE 124, 364 = juris Rn. 26) begründet. In Anbetracht der Einwohnerzahl von H …, der bereits vorhandenen, nach dem Einzelhandelskonzept von 2011 sogar überdurchschnittlichen Versorgung des Stadtgebietes und nicht zuletzt der erheblich über dem Schwellenwert des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO liegenden Geschossfläche des Vorhabens, mit der eine entsprechend große Verkaufsfläche einhergeht, stellt es trotz des mit seiner Errichtung ggf. verbundenen Effektes der Schließung einer noch bestehenden Versorgungslücke im Nahbereich der westlichen Kernstadt noch immer den vom Gesetzgeber in den Blick genommenen Regelfall dar, der wegen dem zu erwartenden Einzugsgebiet Auswirkungen über den Nahbereich hinaus entfaltet. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass das – aus einzelhändlerischer Sicht allerdings solitäre – Vorhaben innerhalb der westlichen Kernstadt, also unmittelbar im ggf. von Unterversorgung geprägten Gebiet errichtet werden soll. Die Beigeladene hat nämlich nicht nachgewiesen oder auch nur substantiiert dargelegt, wozu sie verpflichtet gewesen wäre (BVerwG, U.v. 24.11.2005 – 4 C 10/04 – BVerwGE 124, 364-376 = juris Rn. 24), dass ihr Vorhaben trotz seiner Größe im Wesentlichen der lokalen Nahversorgung im Sinne fußläufiger Erreichbarkeit dient. Der Auswirkungsanalyse vom Juni 2017 ist auf Seite 5 zwar zu entnehmen, dass wegen der umgebenden Wohnbebauung ein „anteilig fußläufiges Einzugsgebiet“ zu „adressieren“ sei, allerdings ohne diesen Anteil anhand von Kundenzahlen oder in sonstiger Weise messbar zu machen. Auf Seite 12 wird das Einzugsgebiet mit dem gesamten Stadtgebiet von H … (rd. 7.700 Einwohner) und der nordwestlich angrenzenden Gemeinde A … (rd. 2.800 Einwohner) beschrieben. Die gutachterliche Kurzstellungnahme vom 20. November 2017 enthält hierzu nichts Näheres, sondern stellt fest, dass ein Supermarkt im Regelfall nicht alleine aufgrund der Kunden der umliegenden Gebiete wirtschaftlich betrieben werden könne. Dies sei keine Besonderheit des vorliegenden Falles.
3. Soweit die Beigeladene im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung auf ihr dringendes wirtschaftliches Interesse an einer alsbaldigen Umsetzung des Vorhabens hinweist, ergibt sich daraus eine besondere Eilbedürftigkeit der Realisierung des Bauvorhabens nicht.
Grundsätzlich kann ein Baustopp als Ergebnis des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens zwar auch zu Lasten des Bauherrn zu „vollendeten Tatsachen“ führen, die mit nicht oder nur schwer wieder gut zu machenden Nachteilen verbunden sein können. Eine besondere Eilbedürftigkeit könnte je nach den Umständen des Einzelfalls etwa dann angenommen werden, wenn der Bauherr glaubhaft macht, dass sein Vorhaben mit einer sofortigen Realisierung „steht und fällt“ (vgl. BayVGH, B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 41). Dafür genügt aber nicht der hier vorgebrachte Hinweis auf die grundsätzliche, der Mieterin des Marktgebäudes vertraglich eingeräumte Möglichkeit, vom Mietvertrag zurückzutreten, wenn die Übergabe des Gebäudes nicht bis 30. Oktober 2018 erfolgt. Der Termin ist längst verstrichen und wäre auch zum Zeitpunkt der Beschwerdebegründung Anfang Februar 2018 nur schwerlich einzuhalten gewesen. Es hätte daher weitergehender Ausführungen zu diesem Punkt bedurft. Unabhängig davon ergibt sich aus dem Vorbringen der Beigeladenen aber auch nicht, dass und warum das Bauvorhaben im Fall des Rücktritts der Mieterin nicht mehr verwirklicht werden würde oder könnte und deshalb die bisherigen Investitionskosten als verloren anzusehen wären.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Er folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden und setzt sich zusammen aus einem Streitwert von jeweils 3.750,- Euro für die Antragsteller zu 1 bis 3 sowie einem Streitwert von ebenfalls 3.750,- Euro für die Antragsteller zu 4 und 5 sowie 6 und 7.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben