Europarecht

Erfolgreiche Klage gegen Dublin-Bescheid (Italien)

Aktenzeichen  W 10 K 18.50496

Datum:
28.2.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 4009
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2
GRCh Art. 4
RL 2013/33/EU Art. 21
EMRK Art. 3
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

Im Hinblick auf die vulnerable Personengruppe der schwangeren Asylbewerber ist ein Mangel an geeigneten Unterkunftsmöglichkeiten in Italien anzunehmen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Oktober 2018, Az. … …, wird aufgehoben.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
IV. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leisten.

Gründe

Über die Klage konnte mit Einverständnis der Parteien ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO. Soweit die Klägerin im Hauptantrag die Aufhebung des Bescheids des Bundesamts vom 4. Oktober 2018 begehrt, ist die Klage zulässig und begründet, da der streitgegenständliche Bescheid zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Im Übrigen ist die Klage im Hauptantrag erfolglos.
1.
Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids getroffene Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag der Klägerin als unzulässig abzulehnen, ist rechtswidrig. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Lässt sich anhand dieser Kriterien der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Die Klägerin hat ausweislich des in der Behördenakte befindlichen Eurodac-Treffers bereits in Italien einen Asylantrag gestellt, so dass zwar grundsätzlich die italienischen Behörden für die Prüfung des Antrags zuständig sind.
Nach den Regelungen der Dublin III-VO ist eine Zuständigkeit Italiens allerdings nicht mehr gegeben, da die Klägerin eine Schwangerschaft nachgewiesen hat und eine Überstellung nach Italien wegen dort bestehender systemischer Mängel für besonders schutzbedürftige Personen im Sinne des Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie), zu denen auch Schwangere gehören, nach Auffassung der Einzelrichterin derzeit nicht möglich ist.
Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO besteht ein Überstellungshindernis, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem an sich zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU – Grundrechtecharta mit sich bringen. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO beruht auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass das in Art. 4 der EU – Grundrechtecharta enthaltene Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von fundamentaler Bedeutung ist und aufgrund der engen Verbindung zur Achtung der Würde des Menschen (Art. 1 der EU – Grundrechtecharta) und seines daraus resultierenden absoluten Charakters auch bei Überstellungen von Asylbewerbern nach der Dublin-Verordnung vollumfänglich beachtet werden muss (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417; U.v. 5.4.2016 – C-404/15, C-659/15 – NJW 2016, 1709 Rn. 85, 86; U.v. 16.2.2017 – C-578/16 – NVwZ 2017, 691 Rn. 59).
Das gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) beruht auf dem „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“ bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“, dass alle daran beteiligten Mitgliedstaaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), dem Protokoll von 1967 und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 79). Dies begründet die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta (GR-Charta) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80). Hierbei handelt es sich zwar um eine widerlegliche Vermutung. Die Anforderungen an die Feststellung systemischer Mängel und eine daraus resultierende Widerlegung der Sicherheitsvermutung sind allerdings hoch. Im Hinblick auf das Ziel der Dublin III-VO, zügig und effektiv den für das Asylverfahren zuständigen Staat zu bestimmen, können geringfügige Verstöße hierfür nicht ausreichen. Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller defizitärer Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 der GR-Charta droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 6; EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41). Erforderlich ist insoweit die real bestehende Gefahr, dass in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, die grundlegende Ausstattung mit den notwenigen, zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse elementaren Mitteln so defizitär ist, dass der materielle Mindeststandard nicht erreicht wird und der betreffende Mitgliedstaat dieser Situation nicht mit geeigneten Maßnahmen, sondern mit Gleichgültigkeit begegnet (vgl. OVG Lüneburg, U.v. 29.1.2018 – 10 LB 82/17 – juris Rn. 34 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) kann allerdings die bloße schlechtere wirtschaftliche oder soziale Stellung der Person in dem zu überstellenden Mitgliedstaat nicht für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK ausreichen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – 27725/10 – ZAR 2013, 336, 70 f.). Der EGMR führt in seiner Entscheidung aus, dass Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung der Vertragsparteien enthalte, jede Person innerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs mit Obdach zu versorgen oder finanzielle Leistungen zu gewähren, um ihnen dadurch einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Einer Dublin-Überstellung stünden nur außergewöhnliche zwingende humanitäre Gründe entgegen.
Entsprechend vorstehender Ausführungen geht das Gericht auf Basis einer Gesamtwürdigung nach dem aktuellen Erkenntnisstand und im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht davon aus, dass das Asylverfahren in Italien generell unionsrechtlichen Maßstäben widerspricht bzw. dort unzureichende Aufnahmebedingungen herrschen, die zu einer Verletzung der durch Art. 4 der GR-Charta gewährleisteten Rechte führen. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Italien ist als Mitgliedstaat der Europäischen Union ein sicherer Drittstaat im Sinne der Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a AsylG. Es ist davon auszugehen, dass das Asylrecht in Italien zumindest den internationalen und europäischen Mindeststandards entspricht und jedenfalls elementare Bedürfnisse der Asylbewerber gedeckt werden können.
Asylbewerber haben in Italien entsprechend dem Grundrecht auf Asyl Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten. Über den Ablauf des Asylverfahrens wird über Informationsbroschüren in unterschiedlichen sprachlichen Fassungen sowie über Betreuungsdienste Auskunft gegeben. Bei Dublin-Rückkehrern ist im Regelfall gewährleistet, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Italien ihren ursprünglichen Antrag auf internationalen Schutz weiterverfolgen oder erstmals einen Asylantrag stellen können. Im Falle einer negativen Verbescheidung kann ein Wiederaufnahmeantrag gestellt werden oder Beschwerde gegen den negativen Bescheid eingelegt werden. Das Asylverfahren soll zwar grundsätzlich nicht länger als sechs Monate dauern (vgl. Amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG NRW vom 23. Februar 2016). Der Umstand, dass diese Verfahrensdauer aufgrund der aktuellen Belastungssituation nicht immer eingehalten werden kann, rechtfertigt jedoch nicht die Annahme eines unzureichenden Asylverfahrens, zumal diesbezügliche Schwierigkeiten wegen des enormen Zustroms an Schutzsuchenden nicht nur in Italien, sondern in vielen europäischen Ländern bestehen.
Weiterhin erhalten Asylsuchende während des Asylverfahrens in Italien Leistungen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, insbesondere Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Italien, Stand: 27.9.2018 m.w.N.). Auch wenn Italien diesbezüglich hinter den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland zurückbleibt und insbesondere kein umfassendes Sozialsystem kennt, so begründet dies entsprechend der obigen Ausführungen keine generellen systemischen Mängel.
Italien verfügt über ein umfassendes Gesundheitssystem, das medizinische Behandlungsmöglichkeiten auf hohem Niveau bereitstellt. Asylbewerber haben in gleicher Weise wie italienische Bürger einen Anspruch auf medizinische Versorgung, der mit der Registrierung eines Asylantrags entsteht. Bis zum Zeitpunkt der Registrierung werden gleichwohl medizinische Basisleistungen, wie beispielsweise kostenfreie Notfallversorgung, gewährleistet (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Italien, Stand: 27.9.2018, S.17).
Während des Asylverfahrens haben Asylbewerber einen Anspruch auf Unterbringung. Grundsätzlich werden zahlreiche Plätze für Asylsuchende und Dublin-Rückkehrer in verschiedenen staatlichen Unterkünften zur Verfügung gestellt, die über ganz Italien verteilt sind. Sowohl das BAMF als auch Asylum Information Database (im Folgenden: AIDA) gehen von einer Gesamtkapazität von über 175.000 Plätzen aus (vgl. BAMF, Länderinformation: Italien, Stand: Mai 2017, S. 2; AIDA, Country Report: Italy, Stand: März 2018, http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_it_ 2017 update.pdf, S. 80 ff.), so dass angesichts der hohen Zahl von Asylbewerbern nach wie vor eine Überbelegung anzunehmen ist. Nach italienischem Recht sind bei der Unterbringung die besonderen Bedürfnisse von Asylbewerbern, insbesondere vulnerabler Personen, zu berücksichtigen. Geeignete Einrichtungen für vulnerable Personen stehen hauptsächlich in den sogenannten SPRAR („Sistema di protezione per richiedenti asilo e refugiati“) – Unterkünften zur Verfügung, in denen entsprechende Unterstützungsleistungen gewährt werden. Es handelt sich hierbei um ein Unterbringungssystem auf kommunaler Ebene, das vom italienischen Staat zentral verwaltet wird und eine Unterbringung bei privaten oder kommunalen Trägern vorsieht (vgl. Amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG NRW vom 23. Februar 2016). Diese machen jedoch einen eher geringeren Prozentsatz der staatlichen Unterbringungsmöglichkeiten aus, so dass nicht jeder Asylsuchende einen Platz erhalten kann und die Zuteilung häufig mit langen Wartezeiten verbunden ist (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Stand: März 2018, S. 51, 76; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 41). Neben den staatlichen Einrichtungen existieren verschiedene karitative und kommunale Einrichtungen, die zusätzliche Unterkunftsmöglichkeiten bieten, um Asylbewerber vor Obdachlosigkeit zu schützen. In Einzelfällen ist es gleichwohl möglich, dass Dublin-Rückkehrer keine Unterbringung erhalten und vorübergehend obdachlos sind. Insbesondere kann es zu Problemen kommen, wenn Dublin-Rückkehrer in Italien bereits offiziell untergebracht waren, da der Anspruch auf Unterbringung in staatlichen Einrichtungen untergeht, wenn der Ausländer seine Unterkunft ohne vorherige Bewilligung verlässt oder eine ihm zugewiesene Unterkunft gar nicht erst in Anspruch genommen hat (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Italien, Stand: 27.9.2018, S. 16). Der Anspruch kann zwar wieder aufleben. Insoweit ist allerdings ein vorheriger Antrag bei der Questura erforderlich, die ursprünglich für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig war. Eine Unterbringung in einer staatlichen Einrichtung kann erst dann wieder erfolgen, wenn die Wiederaufnahme genehmigt wurde (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S.28). In dieser Übergangsphase sind Dublin-Rückkehrer auf die Hilfe von Freunden oder karitative Einrichtungen, über deren Aufnahmekapazität es keine gesicherten und aussagekräftigen Unterlagen gibt, angewiesen, um der Obdachlosigkeit entgehen zu können. Im Ergebnis ist die Unterkunftssituation in ihrer Gesamtschau weiterhin problematisch.
Gleichwohl sind diese defizitären Umstände noch nicht als generelle systemische Mängel in Italien zu qualifizieren, zumal die Annahme von Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO entsprechend den oben genannten Maßgaben an hohe Anforderungen geknüpft ist. Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der italienische Staat mit Unterstützung von European Asylum Support Office der Europäischen Union (EASO) geeignete Maßnahmen ergriffen hat, um die Aufnahmekapazitäten stetig zu erhöhen und aktiv darum bemüht ist, diese auch weiterhin zu verbessern (vgl. EASO Special Support Plan to Italy, 11. März 2015). Zudem ist die Anzahl der in Italien ankommenden Asylbewerber seit Beginn des Jahres 2018 stark rückläufig.
Auch unter Auswertung neuerer Erkenntnismittel und auf Basis vorstehender Ausführungen schließt sich das Gericht in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung der Einschätzung zahlreicher anderer Verwaltungsgerichte an, dass Italien grundsätzlich über ausreichende Unterbringungskapazitäten sowie ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes und richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, das trotz bestehender Mängel noch als funktionsfähig betrachtet werden kann (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 18.1.2017 – 12 L 3754/16.A – juris; VG Augsburg, B.v. 1.3.2018 – Au 5 S 18.50329 – juris; VG München, B.v. 6.6.2018 – M 11 S 18.51151 – Beck RS 2018, 15962; B.v. 9.8.2018 – M 26 S 18.52225, BeckRS 2018, 19472; VG Ansbach, U.v. 1.8.2018 – AN 14 K 17.50567 – juris; VG Karlsruhe, U.v. 22.3.2018 – A 5 K 15921/17 – BeckRS 2018, 7260; OVG Lüneburg, B.v. 13.6.2018 – 10 LB 204/18, BeckRS 2018, 22826; B.v. 2.7.2018 – 10 LB 249/18, BeckRS 2018, 24922; BayVGH, U.v. 18.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris; OVG Münster, U.v. 22.9.2016 – 13 A 2448/15.A – juris).
Allerdings ist im Hinblick auf die vulnerable Personengruppe der Schwangeren ein Mangel an geeigneten Unterkunftsmöglichkeiten anzunehmen.
Die Klägerin hat durch Vorlage eines Mutterpasses ihre Schwangerschaft nachgewiesen. Als Schwangere gehört die Klägerin zu einem besonders schutzbedürftigen Personenkreis im Sinne des Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Aufnahmerichtlinie). Nach dieser Regelung ist die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung der Aufnahmerichtlinie zu berücksichtigen. Auch nach italienischem Recht sind schwangere Frauen grundsätzlich als vulnerable Personen anerkannt, auf deren spezifische Bedürfnisse Rücksicht genommen werden muss.
Der EGMR hat in seiner Tarakhel-Entscheidung vom 4. November 2014 allerdings ausgeführt, dass die allgemeine Situation der Asylbewerber in Italien zwar nicht mit der Griechenlands vergleichbar sei und keine systemischen Mängel vorlägen (EGMR, Tarakhel ./.Schweiz, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127, Rn. 114 ff.). Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Anzahl von Asylbewerbern keine Unterkunft finde oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht sei. Um sicherstellen zu können, dass die Aufnahmebedingungen an die besonderen Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen angepasst seien, müssten vor deren Abschiebung individuelle Garantien von den italienischen Behörden eingeholt werden, dass diese Personen in Einrichtungen und unter Bedingungen aufgenommen werde, die ihrer Schutzbedürftigkeit angemessen seien (Rn. 120, 122).
Auch das Bundesverfassungsgericht vertritt in seinem Beschluss vom 29. August 2017 die Auffassung, dass den Belangen besonders schutzbedürftiger Personen unter Berücksichtigung der Grundsätze der Tarakhel-Entscheidung des EGMR besonders Rechnung getragen werden müsse (BVerfG, B.v. 29.8.2017 – 2 BvR 863/17 – juris Rn.16).
In Ansehung der vorgenannten Entscheidungen und obiger Ausführungen kann aus Sicht der erkennenden Einzelrichterin eine Überstellung nach Italien wegen bestehender Mängel für besonders schutzbedürftige Personen im Sinne des Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU derzeit nicht erfolgen, wenn nicht sicher gewährleistet werden kann, dass diese Personengruppen entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit in angemessenen Verhältnissen untergebracht werden. Eine Verletzung von Art. 4 GR – Charta kann daher nur dann ausgeschlossen werden, wenn die Beklagte vor einer Überstellung nach Italien eine entsprechende individuelle Zusicherung der italienischen Behörden einholt (so auch VG Düsseldorf, B.v. 16.11.2016 – 22 L 3599/16.A – juris; a.A.: VG München, B.v. 23.4.2018 – M 18 S 18.50476 – juris), dass die Klägerin einen sicheren Platz in einer Unterkunft erhält, die für schwangere Frauen eine spezielle Versorgung und Betreuung gewährleistet und zudem individuelle Bedürfnisse und insbesondere eine adäquate hygienische Umgebung und medizinische Versorgung abdeckt, was wohl nur in SPRAR-Unterkünften sichergestellt werden kann.
Dies muss umso mehr gelten, als zum aktuellen Zeitpunkt nicht mehr davon auszugehen ist, dass die Klägerin überhaupt die Möglichkeit auf eine Unterbringung in einer derartigen Unterkunft für schutzbedürftige Personen hat. Das am 5. Oktober 2018 in Kraft getretene Gesetzesdekret des Ministerrates Nr. 113/2018 vom 4. Oktober 2018 (sogenanntes Salvini-Dekret) sieht zahlreiche Verschärfungen im italienischen Asylsystem vor (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Italien, Stand: 27.9.2018, S. 6). Ausweislich dieses Dekrets, dessen fortdauernde Geltung als Gesetz am 29. November 2018 beschlossen wurde, stehen SPRAR-Einrichtungen künftig nur noch unbegleiteten Minderjährigen sowie denjenigen Personen zur Verfügung, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde (vgl. dazu ausführlich VG Berlin, B.v. 14.12.2018 – 3 L 886.18 A – juris Rn. 13 ff.). Eine Unterbringung der Klägerin käme daher nur in den Erstaufnahmeeinrichtungen der CDA („Centri di accoglienza“), CARA („Centri d’accoglienza richiedenti asilo“) oder CAS („Centri di accoglienza straordinaria“) in Betracht. Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich allerdings, dass in diesen Unterkünften, die insgesamt von sehr unterschiedlicher Qualität sind, lediglich eine grundlegende Versorgung gewährleistet werden soll (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Italien, Stand: 27.9.2018, S. 12 ff.). Auch wenn grundsätzlich auf spezifische Bedürfnisse vulnerabler Personen Rücksicht genommen werden soll, ist zweifelhaft, ob die bezeichneten Erstaufnahmeeinrichtungen für die Unterbringung schutzbedürftiger Personen geeignet sind. Dem Gericht liegen einerseits Berichte über Defizite bei der Zuweisung schutzbedürftiger Personen an passende Einrichtungen vor. Weiterhin sind Obdachlosigkeit von Asylbewerbern und Schutzberechtigten in Italien sowie festzustellende Mängel und Defizite in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen ein bestehendes Problem (vgl. US Department of State, Country Report on Human Rights Practices 2017 – Italy, abrufbar unter https://www.ecoi.net/ en/document/1430262.html). Zum Teil wird von sehr niedrigen Hygiene- und Sicherheitsstandards berichtet, wie beispielsweise dem Fehlen von Türen oder Heißwasser, von defekten Duschen, von Überbelegung (z.B. 9 Räume für 165 Betten) oder fehlender Elektrizität und Heizung (vgl. Asylum Information Database, Country Report: Italy, 2017 Update, März 2018, S. 86 ff.).
Ob und inwieweit zukünftig zugunsten schutzbedürftiger Personen Ausnahmen von dem kürzlich beschlossenen Gesetzesdekret gemacht werden, kann derzeit nicht eingeschätzt werden. Jedenfalls kann ohne eine entsprechende konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden nicht darauf vertraut werden, dass die Klägerin als Schwangere ohne vorübergehende Obdachlosigkeit adäquat untergebracht wird, so dass es im Falle der Klägerin eine Verletzung des Art. 4 GR-Charta droht. An einer derartigen Zusicherung im Sinne der Tarakhel-Entscheidung fehlt es zum aktuellen Zeitpunkt. Nach derzeitiger Erkenntnislage steht daher zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Aufnahmebedingungen in Italien für schwangere Frauen systemische Mängel aufweisen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Grundrechtsverletzung nach Art. 4 GR-Charta führen, so dass mangels alternativer Überstellungsmöglichkeit in einen anderen Mitgliedstaat die Zuständigkeit für den Asylantrag der Klägerin nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 a.E. Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen ist.
Ziffer 1 des verfahrensgegenständlichen Bescheides ist mithin aufzuheben. Da der Asylantrag der Klägerin nicht unzulässig ist, sind auch die Ziffern 2 bis 4 rechtswidrig, weswegen der Bescheid vollumfänglich aufzuheben war. Die Feststellung in Ziffer 2, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG betreffend Italien nicht vorlägen, ist rechtswidrig. Nach § 31 Absatz 3 Satz 1 AsylG ist in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen. Nach Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung kann die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG aber nicht mehr auf Grundlage des § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG erfolgen. Auch die Voraussetzungen der auf § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG gestützten Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 und der nach § 11 Abs. 1 AufenthG ergangenen Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots sind nicht gegeben, so dass der Bescheid der Beklagten vom 4. Oktober 2018 insgesamt aufzuheben war.
2.
Im Übrigen war die Klage abzuweisen, weil der klägerische Antrag, die Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bezüglich Italiens zu verpflichten, mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist. Wird die rechtswidrige Unzulässigkeitsentscheidung und die Abschiebungsanordnung nach erfolgreicher Anfechtung aufgehoben, kann die Klägerin nicht mehr nach Italien abgeschoben werden, so dass die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG der Klägerin keinen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil gewährt. Auch im Falle einer erneuten Unzulässigkeitsentscheidung über den Asylantrag der Klägerin, ist das Bundesamt nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG gesetzlich verpflichtet, erneut festzustellen, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Zum aktuellen Zeitpunkt wäre daher eine Entscheidung über Abschiebungsverbote bezüglich Italien verfrüht (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – BVerwGE 157, 18 ff.). Zudem fehlt nach Aufhebung der Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids die erforderliche Rechtsgrundlage, da § 31 Abs. 3 AsylG für die Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten eine Unzulässigkeitsentscheidung voraussetzt, die nunmehr nicht mehr gegeben ist.
3.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kosten ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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