Europarecht

Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik

Aktenzeichen  AN 11 K 18.01995

Datum:
20.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 21317
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 4a, § 5 Abs. 4, § 6 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

1. § 6 FreizügG/EU normiert ein dreistufiges, am Maß der Integration des Betroffenen orientiertes System aufeinander aufbauender Schutzstufen bei Ausweisungen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgeblich für den Erhalt der stärksten Schutzstufe des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist, dass ein Kläger entsprechend in der Bundesrepublik Deutschland integriert war. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die der Verurteilung des Klägers wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren zu Grunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine schwerwiegende gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid vom 12. September 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes, § 113 Abs. 5 VwGO.
Die in Ziffer I verfügte Verlustfeststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland ist ebenso wenig zu beanstanden, wie die in Ziffer III und IV verfügten Annexentscheidungen. Auch begegnet die unter Ziffer II verfügte Befristung der Wirkungen der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts auf die Dauer von acht Jahren ab Ausreise/Abschiebung derzeit keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
I.
Zu dem hier für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 91 ff.; BayVGH, U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – VGH n.F. 64, 263, juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Ls 2.) liegen die Voraussetzungen für die von der Beklagten verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt beim Kläger vor. Die Kammer ist dabei zu der Überzeugung gelangt, dass die Beklagte ihre Entscheidung zu Recht auf § 6 Abs. 1 i.V.m Abs. 4 FreizügG/EU gestützt hat (1.), dessen Tatbestand erfüllt ist, wobei insbesondere von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist (2.) und die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat (3.).
1. Das Gericht geht mit der Beklagten zu Gunsten des Klägers, ohne die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU im Einzelnen zu prüfen, davon aus, dass der Kläger schon auf Grund seiner italienischen Staatsangehörigkeit ein freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ist und gemäß § 4a FreizügG/EU ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat, sodass die Verlustfeststellung ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 FreizügG/EU findet. Demnach darf der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
Nicht zu folgen vermag die Kammer der Auffassung des Klägerbevollmächtigen, dass der Kläger in den Schutzkreis des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU miteinzubeziehen sei, unabhängig davon, dass die Verlustfeststellung vorliegend aufgrund der Umstände, des in der Anlassstraftat gezeigten persönlichen Verhaltens des Klägers, auch nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU rechtmäßig ist. § 6 FreizügG/EU normiert ein dreistufiges, am Maß der Integration des Betroffenen orientiertes System aufeinander aufbauender Schutzstufen bei Ausweisungen (vgl. BayVGH, U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – juris Rn. 37). Während die Verlustfeststellung in der ersten Stufe nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bereits aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erfolgen kann, ist dies nach Erwerb eines Daueraufenthaltsrecht nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU nur noch aus schwerwiegenden Gründen möglich. Nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU kann schließlich die Verlustfeststellung bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Hintergrund der gestuften Regel ist, dass nach den Vorgaben der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl EG Nr. L 158 S. 77; im Folgenden: Freizügigkeits-RL), die Anforderungen an eine Aufenthaltsbeendigung in dem Maße zunehmen, wie die Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 6 FreizügG/EU Rn. 3). Für das Erreichen der höchsten Schutzstufe genügt daher ein rein tatsächlicher Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. Aufnahmemitgliedstaat von zehn Jahren – unabhängig von seiner Rechtmäßigkeit – nicht (vgl. BayVGH, U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – juris Rn. 39). Insbesondere können zuvor geknüpfte Integrationsverbindungen durch die Verbüßung einer Freiheitsstrafe abreißen, mit der Folge, dass kein ununterbrochener Aufenthalt von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Freizügigkeits-RL vorliegt und damit kein besonderer Schutz vor Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU besteht (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 40). Voraussetzung ist, dass eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte zu dem Schluss führt, dass die Integrationsbande, die ihn mit dem Aufnahmemitgliedstaat verbinden, durch die Haft abgerissen sind. Zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der haftbegründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/16 – juris Rn. 70 ff.). Dabei geht der Gerichtshof der Europäischen Union davon aus, „dass, je fester diese Integrationsbande zu dem besagten Staat insbesondere in gesellschaftlicher, kultureller und familiärer Hinsicht sind – in einem Maße beispielsweise, dass sie zu einer echten Verwurzelung in der Gesellschaft dieses Staates geführt haben, (…) -, umso geringer die Wahrscheinlichkeit sein wird, dass eine Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu einem Abreißen der Integrationsbande und damit zu einer Diskontinuität des Aufenthalts von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Freizügigkeits-RL geführt haben kann“ (vgl. EuGH, a.a.O. Rn. 72).
Zum maßgeblichen Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Verlustfeststellung (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/16 – juris Rn.88; BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 40) am 20. September 2018 erfüllte der seit 16. Februar 2017 inhaftierte Kläger nicht die Voraussetzung eines ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalts. Denn bei Würdigung sämtlicher vorgenannter Aspekte ist im Falle des Klägers davon auszugehen, dass die zuvor geknüpften Integrationsverbindungen (spätestens) durch Verbüßung seiner Freiheitsstrafe und Maßregel von fünf Jahren abgerissen sind mit der Folge, dass kein ununterbrochener Aufenthalt von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Freizügigkeits-RL vorliegt und damit kein besonderer Schutz vor Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU besteht.
Zunächst erkennt das Gericht, dass der Kläger zumindest formal gesehen vom 20. September 2018 zurückgerechnet, einen längeren Aufenthalt als den geforderten zehnjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte. Der Kläger hielt sich ab dem Jahr 2002 bis zu seiner Inhaftierung in Italien im November 2005 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Zumindest seit Haftentlassung in Italien im Juni 2006 hielt er sich ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland auf. Dieser langjährige Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist zugunsten des Klägers in die Beurteilung einzubeziehen. Jedoch ist auch festzustellen, dass der Kläger seitdem er sich in der Bundesrepublik Deutschland befindet nur sporadisch beruflichen Beschäftigungen nachgegangen ist. Er arbeitete bei seiner Schwester als Pizzabäcker und war als Saisonarbeiter tätig. Es handelte sich um Aushilfstätigkeiten und 400 €-Jobs in der Wurstverpackung und zwischen 2007 und 2009 in der Bäckerei seines Bruders. In der Zeit vor seiner letztmaligen Inhaftierung lebte der Kläger von Sozialhilfe und ging keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach. Eine nachhaltige wirtschaftliche Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ist ihm damit vor seiner Inhaftierung zu keiner Zeit gelungen. Die Kammer erkennt zwar, dass der Kläger familiäre Bindungen mit seiner Schwester und seinem damals noch lebenden Bruder im Bundesgebiet aufbauen konnte und auch seit mehreren Jahren eine deutsche Partnerin hat. Der Kläger ist jedoch nicht verheiratet und lebt auch nicht mit seiner Partnerin zusammen. Er hat in der Bundesrepublik Deutschland keine Kinder. Der volljährige Sohn des Klägers, zu dem dieser nach eigener Aussage keinen Kontakt mehr hat, lebt in Italien. Eine zentrale Rolle im Leben des Klägers nahm nach Überzeugung der Kammer der Konsum von Drogen ein, aufgrund dessen der Kläger bereits vor seiner letztmaligen Inhaftierung im Februar 2017 mehrfach in Strafhaft oder Entzugsbehandlung war. So befand sich der Kläger bereits von November 2002 bis März 2003 und zwischen August 2004 und Mai 2005 wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz in Strafhaft. Auf Grund von Vermögensdelikten verbüßte der Kläger in den Jahren 2007, 2008 und zu Beginn des Jahres 2009 kürzere Freiheitsstrafen. Nach einem Therapieabbruch war der Kläger zwischen November 2009 und Ende Juli 2010 zur Vollstreckung von Reststrafen der früheren Drogendelikte erneut inhaftiert worden. In den haftfreien Zeiten absolvierte der Kläger nach Aktenlage mindestens vier Drogentherapien, die entweder zunächst erfolgreich abgeschlossen oder durch Therapieabbruch beendet wurden. Wie sich aus den Feststellungen des Urteils des Landgerichts … (Az.: …*) ergibt, konsumierte der Kläger zudem auch mit seiner gemeinsamen Lebensgefährtin Drogen. Dass ihm die Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland über die Jahre hinweg nicht gelungen ist, zeigt sich auch daran, dass der Kläger immer wieder straffällig geworden ist.
Die damit allenfalls dürftigen Integrationsverbindungen des Klägers sind durch seine letztmalige Inhaftierung sowie die anschließende Strafhaft und Maßregel abgerissen. Dabei hat sich bereits in der Art der Straftat und den Umständen ihrer Begehung gezeigt, in welchem Maß der Kläger sich von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates entfremdet hat. Bei dem vom Kläger begangenen Rausgifthandel handelt es sich um eine besonders schwere Straftat. Denn illegaler Drogenhandel stellt eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten dar (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 46). Zwar ist dem Klägerbevollmächtigten zuzustimmen, dass der Kläger sich während des Vollzugs der Strafe und der Maßnahme nach § 64 StGB bis zur gegenständlichen Entscheidung kooperativ verhalten hat, gleichwohl fällt dies in der Abwägung nicht ausreichend zur Anerkennung des Schutzstatus nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ins Gewicht; zumal die Kooperation des Klägers wohl insbesondere auf Grund des Begehrens baldmöglichster Wiedererlangung seiner Freiheit erfolgte. Die Kammer hat in die Beurteilung explizit auch mit einbezogen, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht mehr in Strafhaft, sehr wohl aber dem auch der Resozialisierung dienenden Maßregelvollzug befunden hat. Die Argumentation des Klägerbevollmächtigten, dass die Anordnung einer Maßnahme nach § 64 StGB und keiner reinen Haftstrafe dem Abreißen des Integrationsbandes entgegenstehen könnte, verfängt jedoch nach Ansicht der Kammer nicht. Maßgeblich für den Erhalt der stärksten Schutzstufe des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist, dass der Kläger entsprechend in der Bundesrepublik integriert war. Denn aus dem Erwägungsgrund 24 der Freizügigkeits-RL ergibt sich, dass der Schutz vor Ausweisungen in dem Maße zunimmt, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind. Demnach – und nichts Anderes ergibt sich aus der aufgezeigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – ist nach den dargelegten Maßgaben stets eine Prüfung im Einzelfall vorzunehmen, ob und inwieweit eine Integrationsverbindung besteht und ob und inwieweit diese Verbindung durch eine Straftat und die damit verbundenen Konsequenzen abgerissen sein könnte. Maßgeblich ist dabei nach Überzeugung der Kammer stets der Blick auf die Integrationsverbindung sowie die umfassende Betrachtung des Einzelfalls und nicht die Frage, ob es sich bei der zu verbüßenden Maßnahme um Strafhaft oder eine Maßregel handelt. Die Tatsache, dass sich der Kläger zunächst ein Jahr in Vorwegvollzug und anschließend in einer Maßnahme nach § 64 StGB befand und sich entsprechend bemüht hat, konnte ausreichend – aber nicht ausschlaggebend – bei dieser umfassenden Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden. Sie ist insbesondere deswegen nicht ins Gewicht gefallen, da die zuvor geknüpften Integrationsverbindungen allenfalls als gering bewertet werden konnten und das in der Straftat verwirklichte Verhalten des Klägers gezeigt hat, wie weit sich dieser von der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland entfernt hat. Zudem ist zu beachten, dass entsprechend der Strafhaft der Normzweck des Maßregelvollzugs in erster Linie der Schutz der Öffentlichkeit vor gefährlichen Tätern ist und nicht die mögliche Resozialisierung der Straftäter (vgl. dazu van Gemmeren, Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2016, § 64 StGB Rn. 1 m.w.N.). Dass die aufgezeigte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht rein formalistisch allein auf die Verbüßung von Strafhaft Anwendung findet, hat auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mehrfach im Rahmen einer Unterbrechung des Aufenthalts durch Untersuchungshaft festgestellt. Demnach ist auch eine Untersuchungshaft, die in einer Strafhaft mündet, dazu angetan, deutlich zu machen, dass der Betroffene die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet, so dass derartige Zeiten grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts unterbrechen (vgl. BayVGH, B.v. 21.1.2020 – 10 ZB 19.2250 – juris Rn. 6 m.w.N.). Zudem ist zu beachten, dass es sich bei der Maßregel nach § 64 StGB ebenso wie bei der Strafhaft um eine freiheitsentziehende Maßnahme handelt, deren Vollzug nach § 67 Abs. 4 StGB auf die Strafe angerechnet wird, bis zwei Drittel der Strafe erledigt sind.
Im Übrigen ist die Aberkennung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland auch dann rechtmäßig, wenn man von einem Ausweisungsschutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ausgehen würde (vgl. zum Schutzumfang ausführlich BayVGH, B.v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – juris Rn. 7 ff.). Denn die Verlustfeststellung kann auch aufgrund zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit getroffen werden, da die der Tat zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten des Klägers erkennen haben lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (zur Wiederholungsgefahr sogleich). Zwingende Gründe können vorliegend entsprechend § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU vorliegen, da der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt worden ist. Zudem handelt es sich bei der Verhinderung von Drogenhandel nach der gebotenen Prüfung des vorliegenden Einzelfalls um einen zwingenden Grund der öffentlichen Sicherheit (vgl. EuGH, U. v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 39 ff.).
2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 i.V.m Abs. 4 FreizügG/EU sind erfüllt.
a) Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden, wobei dieser Begriff weder in der Freizügigkeits-RL noch im FreizügG/EU erläutert wird; nach der Rechtsprechung liegen in Anlehnung an 6.4.1 AVV „schwerwiegende Gründe“ insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen vor, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 32). Nach dem Gefahrenmaßstab des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Dieser Maßstab verweist – anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht – nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (vgl. NdsOVG, B.v. 5.9.2019 – 13 ME 278/19 – juris Rn. 6). Eine strafrechtliche Verurteilung kann eine Verlustfeststellung nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/16 – juris Rn. 92; U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 – DVBl. 2004, 876, Rn. 67 m.w.N.). Es besteht keine dahingehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten allein die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet (vgl. BVerwG, B.v. 30.6.1998 – 1 C 27.95 – InfAuslR 1999, 59). Ob die Begehung einer Straftat nach deren Art und Schwere (vgl. EuGH, U.v. 29.4.2004, a.a.O., Rn. 99) ein persönliches Verhalten erkennen lässt, welches ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, kann nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilt werden.
Nach diesen Grundsätzen rechtfertigt das sich in der Anlasstat gezeigte persönliche Verhalten des Klägers die Verlustfeststellung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Denn die der Verurteilung des Klägers vom 4. September 2017 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren zu Grunde liegenden Umstände lassen ein persönliches Verhalten erkennen, das eine schwerwiegende gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt. Nach den Feststellungen des Landgerichts … kam der Kläger gemeinsam mit seinem Bruder im Februar 2017 darin überein, größere Mengen Heroin von einem nicht identifizierten Lieferanten zu kaufen und im Raum … gewinnbringend weiterzuverkaufen. Der Bruder des Klägers bestellte ungefähr 170 g Heroin, woraufhin am darauffolgenden Morgen an ihn die Gesamtmenge von 180,93 g Heroin übergeben wurde. Der Neffe des Klägers erhielt vom Bruder des Klägers aus dieser Gesamtmenge insgesamt 14,73 g Heroin, um dieses Betäubungsmittel in einem Brillenetui versteckt an einen Abnehmer zu übergeben. Die 14,73 g Heroin wurden bei der Festnahme des Neffen des Klägers sichergestellt. Kurze Zeit später wurde der Bruder des Klägers auf dem Weg zu einem Betäubungsmittelgeschäft mit einem Abnehmer in der … Straße in … bei … festgenommen. Er führte 111,68 g Heroin bei sich, die daraufhin sichergestellt wurden. In der Wohnung des Klägers in der … … in … wurden 54,52 g Heroin sichergestellt, die ihm aus der gelieferten Gesamtmenge aufgrund des gemeinsamen Tatplans zum gewinnbringenden Weiterverkauf durch seinen Bruder übergeben worden waren. Der Kläger und die übrigen Beteiligten wussten, dass sie nicht die für den Umgang mit Betäubungsmitteln erforderliche Erlaubnis besaßen. Die Feststellungen haben außerdem ergeben, dass der Kläger an einem Abhängigkeitssyndrom von multiplen psychotropen Substanzen leidet.
Der Europäische Gerichtshof hat festgestellt, dass der illegale Drogenhandel eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt (vgl. EuGH, U. v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 46). Da die Rauschgiftsucht ein großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit sei, könnte der Handel mit Betäubungsmitteln ein Maß an Intensität erreichen, durch das die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung insgesamt oder eines großen Teils derselben unmittelbar bedroht werden (vgl. EuGH, U. v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 47). Durch den vom Kläger betriebenen Handel mit Heroin, einer besonders gefährlichen Droge mit hohem Suchtpotenzial, hat er andere Personen in ihrer Gesundheit gefährdet und dazu beigetragen, dass diese süchtig werden, aufgrund ihrer Rauschmittelsucht erkranken oder sogar zu Tode kommen. Der Kläger ist zudem bereits in den Jahren 2002 und 2005 auf Grund von Drogendelikten strafrechtlich verurteilt worden. Mithin ist nach Überzeugung der Kammer im Verhalten des Klägers eine Gefährdung zu sehen, welche auch ein schwerwiegendes Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
b) Diese Gefährdung ist auch gegenwärtig im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU, da trotz der abgeschlossenen Therapie in der Person des Klägers weiterhin von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben insoweit nach ständiger Rechtsprechung bei der Prüfung, ob im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch ein persönliches Verhalten des Betroffenen zu erkennen ist, ebenso wie bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung, eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 – 1 B 39/15 – InfAuslR 2016, 1; BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 19 ZB 19.914 – juris Rn. 9 m.w.N.). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und die Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu berücksichtigen. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 19 ZB 19.914 – juris Rn. 9).
Zu Gunsten des Klägers bezieht die Kammer in ihre Prognoseentscheidung ausdrücklich ein, dass dieser derzeit einer beruflichen Beschäftigung nachgeht. Mit Blick auf das Therapieende am 10. März 2020 und die Tatsache, dass die berufliche Beschäftigung zuvor Teil der Therapiemaßnahme und damit notwendig für deren Abschluss war, kann jedoch noch nicht von einer dauerhaften beruflichen Integration des Klägers ausgegangen werden. Die Kammer hat zudem erkannt, dass der Maßregelvollzug des Klägers mit Beschluss des Landgerichts … vom 26. Februar 2020 zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Dabei ist das Landgericht zu Gunsten des Klägers von einer günstigen Legalprognose ausgegangen und hat sich insoweit den Ausführungen des Therapieberichts des Bezirkskrankenhauses … vom 18. Dezember 2019 angeschlossen. Dieser Einschätzung vermag die Kammer jedoch explizit nicht zu folgen.
Dabei ist zunächst klarzustellen, dass Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei der Bewertung der Wiederholungsgefahr an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden sind (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 14 ff.). Die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 (oder § 67d Abs. 2) StGB sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar, von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus. Sie haben auch nicht zur Folge, dass die Wiederholungsgefahr zumindest in der Regel wegfällt (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Denn es ist zu berücksichtigen, dass vorzeitige Haftentlassung und Verlustfeststellung unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen: Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB (hier § 67d StGB) geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft bzw. im Maßregelvollzug befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit offen inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Verlustfeststellung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss (vgl. BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn.11 m.w.N.).
Der Beschluss des Landgerichts … vom 26. Februar 2020 ist maßgeblich auf den Bericht des Bezirkskrankenhauses … vom 12. September 2019 gestützt, dem sich die Strafvollstreckungskammer in den eigenen Ausführungen im Wesentlichen angeschlossen hat. Bezüglich des Berichts des Bezirkskrankenhauses … ist jedoch zu berücksichtigen, dass Therapieberichte keine objektiven Bewertungen oder gar Begutachtungen darstellen, vielmehr sind diese aufgrund des Näheverhältnisses zwischen Berater und Klient, als einseitige Stellungnahmen zu bewerten (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 23). Der Beschluss spricht eine Vielzahl von Anhaltspunkten nicht an, die zwar für die Aussetzungsentscheidungen allgemein unwesentlich sein mögen, weil bei einem Fehlen anderer Alternativen auf der in dem Therapieabschluss liegenden Chance aufgebaut werden muss, die aber für den ausländerrechtlichen Prognosehorizont wesentlich sind.
Maßgeblich für die aus ausländerrechtlicher Sicht nach wie vor bestehende Wiederholungsgefahr ist, dass der Kläger bereits seit über 20 Jahren (drogenfreie Zeiten eingeschlossen, die zu einer Suchbewältigung nicht geführt haben) betäubungsmittelsüchtig gewesen ist; zudem handelt es sich bei den vom Kläger konsumierten Drogen um sog. harte Drogen, die ein enormes Suchtpotenzial aufweisen. Hierauf stellt das Landgericht gerade nicht ab.
Weiterhin erwähnt der Beschluss nicht, dass der Kläger bereits mehrfach Drogenbehandlungen absolviert hatte und anschließend wieder rückfällig wurde. Dies ist gerade deshalb von Bedeutung, weil die Erfolgschancen einer Therapie, die im Allgemeinen bereits deutlich unter 50 v.H. liegen, umso geringer sind, je mehr letztlich erfolglose Therapien vorangegangen sind (vgl. auch BayVGH, B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 26 m.w.N.). Nach Aktenlage befand sich der Kläger bereits vor seiner ersten Straftat in Deutschland seit 2000 in einem Methadonsubstitutionsprogramm in Italien. Auch in Deutschland hat der Kläger spätestens ab dem Jahr 2004 eine Substitutionstherapie mit Subotex erhalten, die ihn nicht davon abgehalten hat, weiter Drogen zu konsumieren. Von 11. Mai 2005 bis 2. September 2005 befand sich der Kläger in stationärer Langzeittherapie, die zunächst erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Bereits im Jahr 2005 gingen die Therapeuten ausweislich des Therapieberichts vom 6. September 2005 davon aus, dass Gefährdungen, die zu einer Rückkehr in den Drogenkonsum führen könnten, nicht zu erkennen seien und deswegen die Prognose eher günstig sei. Eine erneute Drogentherapie ab Juni 2009 wurde im Oktober 2009 abgebrochen, da der Kläger während der Therapie rückfällig geworden ist. Nach dem folgenden Gefängnisaufenthalt, befand sich der Kläger im Jahr 2010 erneut in Therapie. Trotzdem erfolgte spätestens im Jahr 2017 ein neuerlicher Drogenrückfall, der schließlich zur Anlasstat geführt hat. Damit hat der Kläger bereits mindestens fünf im Ergebnis erfolglose Versuche unternommen, seine Drogensucht zu bekämpfen. Bereits aus diesem Gesichtspunkt zweifelt die Kammer daran, dass die nun – zumindest nach Aussage des Therapieberichts – zunächst erfolgreiche Therapie von dauerhaftem Erfolg gekennzeichnet ist. Zu beachten ist zudem, dass der Kläger ausweislich der Gründe des Beschlusses des Landgerichts … vom 26. Februar 2020, im Sommer 2019 während der laufenden Entziehungsmaßnahme mit Alkohol rückfällig geworden sei. Deswegen wurde die Unterbringung zuvor durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … vom 26. September 2019 nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Kläger befindet sich zudem immer noch in einer Substitutionsbehandlung. Dies vermag zwar, wie der Klägerbevollmächtigte ausgeführt hat, zu einer Verminderung des Suchtdrucks führen, jedoch hat der Kläger bereits in der Vergangenheit zusätzlich zu seinen Substitutionsmedikamenten noch Drogen zu sich genommen. So ist den Feststellungen des Landgerichts … vom 4. September 2017 zu entnehmen, dass der Kläger neben dem täglichen Konsum seines Substitutionsmittels Methadon in den letzten sechs bis sieben Monaten vor der Tat mit seiner Partnerin 25-30 g Heroin pro Monat und zudem in regelmäßigen Abständen Kokain und MDMA konsumierte.
Auch der soziale Rückzugsraum des Klägers hat sich im Vergleich zu der Zeit vor seiner letztmaligen Inhaftierung nicht wesentlich verändert. Der Kläger hat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren selbst vorgetragen, dass er im selben Haus wie seine Schwester wohne und seit nunmehr acht Jahren mit einer deutschen Lebenspartnerin zusammen sei. Das Gericht vermag in dieser Konstellation keine Zäsur zu sehen, die für geänderte Lebensverhältnisse des Klägers spricht. Im Gegenteil: Der Kläger lebte bereits vor der letztmaligen Verurteilung im räumlichen Umfeld seiner Schwester und der Kläger war auch bereits vor der letztmaligen Verurteilung mit der Lebenspartnerin liiert. Gleichwohl hat ihn dies nicht davon abgehalten, die Anlassstraftat zu begehen. Erschwerend kommt sogar noch hinzu, dass ausweislich der Feststellungen des Landgerichts … vom 4. September 2017 der Kläger gemeinsam mit seiner Partnerin Drogen konsumierte. Seine Partnerin war somit bereits zum damaligen Zeitpunkt dem Kläger keine Unterstützung, sondern vielmehr Beteiligte an seinem schädlichen Drogenkonsum.
Auch die derzeitige Drogen- und Straffreiheit des Klägers vermag die Prognose zur Wiederholungsgefahr nicht zu erschüttern. Denn es entspricht allgemeiner Erfahrung, dass die Möglichkeit, eine zur Bewährung verfügte Strafaussetzung/Strafrestaussetzung zu widerrufen, einen erheblichen Legalbewährungsdruck darstellt, also zu erheblichen Anstrengungen in Richtung Selbstdisziplin und Lebensordnung führen kann. Weiterhin ist dem Kläger durch den vorliegend streitgegenständlichen Bescheid vom 12. September 2018 das Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland aberkannt worden. Eine damit drohende Aufenthaltsbeendigung erzeugt auch bei Personen mit Hafterfahrung häufig einen Legalbewährungsdruck, der über denjenigen einer drohenden Inhaftierung hinausgeht. Hierzu kann insbesondere der Umstand beitragen, dass in derartigen Rechtsstreitigkeiten aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen sind (vgl. zu einer Ausweisung BayVGH, B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 35).
Von einem wirklichen Therapieerfolg, mit dauerhaftem Einstellungswandel und innerlich gefestigter Verhaltensänderung, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs erst gesprochen werden, wenn sich der Ausländer außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat (BayVGH, B.v. 15.10.2019 – 19 ZB 19.914 – juris Rn. 15; B.v. 2.1.2019 – 10 ZB 18.1638 – juris 6). Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Prognosekriterien ist es trotz des Abschlusses der Drogentherapie im Hinblick auf die längerfristig angelegte ausländerrechtliche Gefahrenprognose und den Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter hinreichend wahrscheinlich, dass der Kläger sich zur Finanzierung seiner – noch nicht dauerhaft überwundenen – Betäubungsmittelsucht erneut dem Drogenhandel zuwenden wird.
Die in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge des Klägerbevollmächtigen waren abzulehnen, da die Kammer die Wiederholungsgefahr auf Grund einer eigenen Prognoseentscheidung zu treffen vermochte. Nach ständiger Rechtsprechung bewegt sich die Kammer als Tatsachengericht bei der Gefahrenprognose im Fall der Freizügigkeitsaberkennung eines strafgerichtlich verurteilen Ausländers, regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind (vgl. BVerwG, B.v. 11.9.2015 – 1 B 39/15 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – juris Rn. 8). Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose auf Grund besonderer Umstände nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende, fachliche Erkenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 5). Im Übrigen kann auch ein Sachverständigengutachten die Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern nur eine Hilfestellung anbieten (vgl. BayVGH, B. v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – juris Rn. 8). Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass im Fall des Klägers die Prognoseentscheidung nicht ohne weiteres Sachverständigengutachten hätte getroffen werden können, liegen nach Ansicht der Kammer nicht vor. Ausweislich des Urteils des Landgerichts … (Az.: …*) leidet der Kläger allein unter diagnostizierten Abhängigkeitserkrankungen, nicht jedoch an psychischen Erkrankungen oder Störungen, deren Bewertung die Hinzuziehung eines Sachverständigen bedurft hätte.
Das soeben aufgezeigte Verhalten des Klägers und die nach wie vor bestehende Wiederholungsgefahr würden zudem auch die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU rechtfertigen, sodass auch zugleich dieser Tatbestand erfüllt ist (s.o.).
3. Die Beklagte hat bei Erlass der Verlustfeststellung das ihr eingeräumte Ermessen pflichtgemäß ausgeübt. Im Rahmen der gebotenen Ermessensentscheidung ist abzuwägen, ob das öffentliche Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung das private Interesse des Unionsbürgers an seinem Verbleib im Bundesgebiet deutlich überwiegt (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris Rn. 27). Es ist insoweit der nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierte Schutz des Familienfriedens zu Gunsten des Unionsbürgers zu beachten. Hierbei sind gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Verlustfeststellung in ihrem Ermessen liegt (vgl. S. 8 f. des Bescheides) und die tatbezogenen Umstände eingehend gewürdigt (vgl. S. 8-10 des Bescheides). Dabei hat die Beklagte berücksichtigt, dass der Kläger in Italien aufgewachsen ist und dort einen Großteil seines Lebens verbracht hat. Auch die nahezu fehlende wirtschaftliche und kulturelle Integration des Klägers in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland wurde angesprochen. Die Beklagte ging zudem davon aus, dass der Kläger keine Schwierigkeiten habe, in Italien sein Leben fortzuführen. In den Blick wurden ebenfalls die in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen Familienbande genommen und dazu ausgeführt, dass diese auch bislang den Kläger davon nicht abgehalten haben, Straftaten zu begehen. Kontakt zu volljährigen Familienangehörigen könne mittels Telekommunikation oder gelegentlichen Besuchen im gemeinsamen Heimatland aufrechterhalten werden.
Auch die vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen neuen Aspekte, insbesondere, dass der Kläger auf Bewährung aus dem Maßregelvollzug entlassen worden sei, im selben Haus wie seine Schwester und sein Schwager wohne, einer Erwerbstätigkeit nachgehen und eine langjährige Lebensgefährtin habe, wurden von der Beklagten im Rahmen der mündlichen Verhandlung aufgenommen und in die Ermessenserwägungen einbezogen. So geht die Beklagte weiterhin von einer bestehenden Wiederholungsgefahr aus, da der Kläger bereits mehrfach Therapien absolviert habe und die Therapie erst kürzlich beendet worden sei. Auch sei bereits nach einer erfolgreichen Substitutionstherapie ein Rückfall erfolgt. Auch die Lebensgefährtin habe den Kläger von der letzten Tatbegehung nicht abhalten können. Das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot sei damit nach wie vor angemessen und entspreche der gleichmäßigen Ermessenshandhabung der Beklagten. Durch die Anpassung und Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen in der mündlichen Verhandlung nach § 114 Satz 2 VwGO ist die Beklagte im Hinblick auf den maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ihrer Pflicht zur ständigen verfahrensbeendenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidung nachgekommen (vgl. Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Aufl. 2020, § 7 Rn. 325).
Die Erwägungen der Beklagten sind durch das Gericht nicht zu beanstanden, sodass die Abwägungsentscheidung der Beklagten, dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr den Vorrang zukommen zu lassen, keinen rechtlichen Bedenken begegnet.
II.
Soweit der Kläger mit seinem nach § 88 VwGO ausgelegten Klageantrag die Festsetzung einer kürzeren Sperrfrist als die mit Bescheid vom 12. September 2018 verfügten acht Jahre begehrt, dringt er damit ebenfalls nicht durch.
Rechtsgrundlage ist insoweit § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Dabei ist jeweils auf die aktuelle Tatsachenlage im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung abzustellen (vgl. EuGH, U.v. 17.7.1997 – C-65/95, C-111/95 – juris Rn. 39 ff.). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU – wie hier – überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris Rn. 23). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs handelt es sich bei der Entscheidung über die Befristung einschließlich der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbotes um eine gerichtlich voll kontrollierbare, gebundene Entscheidung, woran auch die Neufassung des § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberecht und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 nichts geändert habe, da der Wortlaut des § 7 Abs. 2 FreizügG/EU in diesem Zusammenhang nicht verändert worden sei (vgl. BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 50; VGH BW, U.v. 24.3.2016 – 11 S 992/15 – juris Rn. 23).
Die Beklagte geht zutreffend davon aus, dass von dem Kläger auch künftig schwerwiegende Straftaten zu erwarten sind und, dass eine zeitnahe Befristung in Hinblick auf die von dem Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr hinsichtlich neuer Straftaten den Verlustfeststellungszweck konterkarieren würde. Die Kammer geht dabei mit der Beklagten davon aus, dass diese Wiederholungsgefahr auch noch nicht durch die vorerst erfolgreiche Therapie des Klägers entfallen ist. Die auf acht Jahre bestimmte Dauer der Frist begegnet damit auch unter Berücksichtigung der Entwicklungen bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen rechtlichen Bedenken. Ausgehend von der Drogenhistorie des Klägers, der schweren Straftat und der vom Drogenhandel ausgehenden schwersten Gefahren für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erscheint ein an dem mit der Verlustfeststellung verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierter langfristiger Ausschluss der Wiedereinreise angemessen und sachgerecht. Im Rahmen der Abwägung spricht zu Gunsten des Klägers, dass dieser nunmehr die Maßregel erfolgreich absolviert hat und auch einer unbefristeten Arbeitstätigkeit als Produktionshelfer nachgeht. Zudem hat er soziale Anknüpfungspunkte bei seiner Familie und seiner Lebensgefährtin. Gegen den Kläger spricht jedoch, dass dieser jahrelang drogenabhängig war und diesbezüglich bereits mehrfach straffällig geworden ist. Ebenso hat der Kläger bereits mehrfach an Drogentherapien teilgenommen und diese teilweise erfolgreich absolviert, ohne dass dies zu einer nachhaltigen Besserung seiner Sucht geführt hat. Sein ganzer bisheriger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland war von keiner nachhaltigen und dauerhaften Integration in die hiesigen Wirtschafts- und Lebensverhältnisse geprägt. In der Gesamtschau erweist sich daher eine Sperrfrist von acht Jahren als angemessen und sachgerecht.
Einer künftigen positiven Entwicklung des Klägers im Sinne einer gefestigten Verhaltensänderung kann ggf. durch eine nachträgliche Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 Satz 8 FreizügG/EU Rechnung getragen werden (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – DVBl 2015, 780 Rn. 22 ff.).
III.
Gegen die Rechtmäßigkeit der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. III und IV des Bescheids) bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken (§ 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Die Frist, das Bundesgebiet innerhalb von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu verlassen, erscheint angemessen.
IV.
Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ZPO.


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