Europarecht

Wirkung der Rückwirkungsregelungen im Überprüfungsverfahren

Aktenzeichen  S 10 AS 566/17

Datum:
31.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 29849
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
GVG § 17a Abs. 2 S. 1, § 71 Abs. 2 Nr. 2
SGB II § 40 Abs. 1 S. 1
SGB X § 44

 

Leitsatz

1 Die zeitliche Begrenzung der rückwirkenden Erbringung von Sozialleistungen im Überprüfungsverfahren ist dahin auszulegen, dass bereits die Rücknahme des (möglicherweise) rechtswidrigen Verwaltungsaktes bei Eingreifen der „Verfallklausel“ „schlechthin“ ausgeschlossen ist (Anschluss an BSG BeckRS 2014, 70967). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2 Eine Fingierung eines früheren Zeitpunktes der Stellung eines Überprüfungsantrages ist über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht möglich (Anschluss an BSG BeckRS 2014, 71478). (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

1. Das angerufene Gericht ist nur für denjenigen Teil des geltend gemachten Klagebegehrens sachlich zuständig, der sich auf Normen des Grundsicherungsrechts für Arbeitsuchende bezieht (§ 51 Abs. 1 Nr. 4a SGG). Nicht zuständig ist das angerufene Gericht dagegen, soweit Ansprüche auch auf Schadensersatz aus Amtshaftung (§ 839 BGB) gestützt werden. Zuständig für letzteres sind allein die Landgerichte (§ 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG).
Eine teilweise Verweisung des Rechtsstreits war gleichwohl nicht vorzunehmen. Nach § 17a Abs. 2 S. 1 GVG spricht zwar ein Gericht, wenn der beschrittene Rechtsweg unzulässig ist, dies nach Anhörung der Parteien von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges. Dies gilt aber nicht, wenn das angerufene Gericht für den Streitgegenstand zumindest teilweise zuständig ist. Es entspricht der h.M., dass eine teilweise Verweisung eines Rechtsstreits nicht möglich ist. Denn einerseits kennt das GVG keine Teilverweisung, andererseits steht der Verweisung des gesamten Rechtsstreits (Streitgegenstands) der Grundsatz entgegen, dass eine solche nicht erfolgen darf, wenn das angerufene Gericht zumindest für einen Teil der einschlägigen materiellen Ansprüche zuständig ist. Deshalb ist auch von dem Ausspruch einer teilweisen Unzulässigkeit des Rechtsweges und einer teilweisen Verweisung des Rechtsstreits an die für Amtshaftungsansprüche zuständigen ordentlichen Gerichte abzusehen (BSG, Beschluss vom 31.10.2012, Az.: B 13 R 437/11 B, Rn. 10 m.w.N.).
2. Die fristgerecht erhobene und auch im Übrigen – soweit sozialrechtliche Anspruchsgrundlagen betroffen sind – zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
Der Bescheid des Beklagten vom 02.10.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2017 ist rechtmäßig. Der Beklagte hat zu Recht eine entsprechende Aufhebung bzw. Abänderung entgegenstehender früherer Bescheide und die Gewährung höherer Leistungen für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis zum 31.12.2015 abgelehnt.
Gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II in der Fassung des 9. SGB II-ÄndG vom 26.07.2016 (BGBl. I S. 1824) i.V.m. § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Dabei ist gem. § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II die Maßgabe zu beachten, dass rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte nicht später als vier Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem der Verwaltungsakt bekanntgegeben wurde, zurückzunehmen sind; ausreichend ist, wenn die Rücknahme innerhalb dieses Zeitraums beantragt wird,
Einem Anspruch der Klägerin auf Überprüfung/Neuberechnung der Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 01.07.2015 bis zum 31.12.2015 steht hier jedoch von vornherein § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X entgegen.
Nach den genannten Vorschriften in ihrer aktuellen Fassung werden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nur für ein Jahr rückwirkend erbracht.
Da die Klägerin ihren streitgegenständlichen Überprüfungsantrag erst im September 2017 gestellt hat, wäre eine rückwirkende Überprüfung und Nachzahlung von Leistungen allenfalls für die Zeit ab dem 01.01.2016 zulässig. Der Zeitpunkt der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag gestellt worden ist (§ 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 S. 2 und 3 SGB X). Bei der Frist handelt es sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist.
Nachdem eine Nachzahlung von Leistungen für die Zeit vor dem 01.01.2016 – nur um diesen Zeitraum geht es, weil danach die von der Klägerin kritisierte Anrechnung der erhaltenen Abfindung nicht mehr stattgefunden hat – von vornherein ausscheidet, bedarf es auch keiner Entscheidung des Beklagten darüber, ob der Klägerin in dem hier interessierenden Leistungszeitraum bis Ende 2015 Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind oder nicht. Denn die Regelung des § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X ist über ihren engen Wortlaut hinaus dahin auszulegen, dass bereits die Rücknahme des (möglicherweise) belastenden Verwaltungsaktes bei Eingreifen der „Verfallklausel“ des § 44 Abs. 4 SGB X „schlechthin“ ausgeschlossen ist (vgl. BSG, Urteil vom 13.02.2014, Az.: B 4 AS 19/13 R, Rn. 16 m.w.N.).
An dem hier gefundenen Ergebnis würde sich auch nicht durch einen etwaigen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auf Grund einer von der Klägerin behaupteten Verletzung von Beratungs- und Hinweispflichten durch den Beklagten ändern (zu den allgemeinen Voraussetzungen eines solchen Anspruchs siehe u.a. BSG, Urteil vom 18.01.2011, Az.: B 4 AS 29/10 R, Rn. 12).
Denn auch hierfür gilt dann § 44 Abs. 4 SGB X entsprechend, eine Fingierung eines früheren Zeitpunktes der Stellung eines Überprüfungsantrages ist über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht möglich (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 23.08.2013, Az.: L 5 R 359/12, Rn. 75 ff.; skeptisch Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, § 44 Rn. 93 a.E., Stand: 08/17; Hess. LSG inhaltlich bestätigend dagegen BSG, Urteil vom 24.04.2014, Az.: B 13 R 23/13 R, Rn. 20 a.E.).
Soweit die Klägerin in ihrem Schreiben vom 17.12.2017 die Auffassung vertritt, dass bislang keine Verjährung eingetreten wäre und § 45 SGB I durch §§ 44 SGBX i.V.m. § 40 Abs. 1 SGB II nicht außer Kraft gesetzt werde, ändert sich hierdurch nichts an dem weiter oben gefundenen Ergebnis. Die Klägerin verkennt, dass es bei § 44 Abs. 4 SGB X nicht um eine (Sonder-)Vorschrift zum Thema Verjährung geht, sondern dass § 44 Abs. 4 SGB X ganz allgemein den zeitlichen Umfang einer möglichen Durchbrechung der ansonsten nach § 77 SGG zu beachtenden Bestandskraft von unanfechtbar gewordenen Verwaltungsakten regelt. Letzteres ist aber nicht mit der Frage nach einer Verjährung gleichzusetzen.
Der Vollständigkeit halber ist noch anzumerken, dass die Klägerin keinen Überprüfungsantrag hinsichtlich des Bewilligungsbescheides vom 02.10.2015 (sondern lediglich hinsichtlich des Änderungsbescheides vom selben Tag) gestellt hat, der den Zeitraum vom 01.07.2015 bis zum 31.08.2015 betrifft, während die von der Klägerin tatsächlich zur Überprüfung gestellten Bescheide den Zeitraum ab dem 01.09.2015 betreffen. Somit kann die Klage auch aus diesem Grund, der aber auch nur den Zeitraum vom 01.07.2015 bis zum 31.08.2015 betrifft, keinen Erfolg haben.
3. Aus den genannten Gründen war die Klage abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.


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