Medizinrecht

Einstweilige Anordnung auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung

Aktenzeichen  M 18 E 19.3248

Datum:
6.8.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 41598
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 24 Abs. 3
VwGO § 123

 

Leitsatz

1. Der Anspruch auf Nachweis eines Platzes in einer Kindertageseinrichtung zu einem bestimmten Eintrittstermin muss einige Zeit vor diesem Termin liegen, um den Eltern eine gewisse Planungssicherheit zu gewähren; ab Juli des jeweiligen Jahres muss es möglich sein, Nachweise für Plätze zum Beginn des neuen Kindergartenjahres im September zu erbringen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Anspruch nach § 24 Abs. 3 S. 2 SGB VIII bezieht sich lediglich auf einen Halbtagesplatz; es ist jedoch mindestens eine zusammenhängende Stundenanzahl von sechs Zeitstunden abzudecken, um wenigstens eine Halbtagsberufstätigkeit inklusive Fahrtwege zu ermöglichen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit das Verfahren für erledigt erklärt wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller innerhalb von zwei Wochen ab Zugang dieses Beschlusses einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung vom 1. September 2019 bis einschließlich 20. Oktober 2019 nachzuweisen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Rahmen einer einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihm einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Kindergartenplatz nachzuweisen.
Der Antragsteller ist am 23. August 2016 geboren und besucht bis Ende August 2019 eine Krippe.
Mit E-Mail vom 4. Juni 2019 wandte sich die Mutter des Antragstellers mit der Bitte um Vermittlung eines Kindergartenplatzes an die Elternberatungsstelle der Antragsgegnerin. Sie hätten bisher keine Zusage für einen Kindergartenplatz, der über den „Kitafinder“ der Antragsgegnerin gesucht worden sei, bekommen. Die Eltern seien beide berufstätig und hätten keine Familie in der Nähe, weshalb ein Kindergartenplatz enorm wichtig sei.
Bei einem Telefongespräch zwischen einer Mitarbeiterin der Antragsgegnerin und der Mutter des Antragstellers vom 13. Juni 2019 wurden Alter und Adresse des Antragstellers aufgenommen. Am 18. Juni 2019 ging bei der Antragsgegnerin das Bedarfsformular ein, aus dem sich ergibt, dass ein ganztägiger Kindergartenplatz ab dem 1. September 2019 beantragt wird und nur ein PKW zur Verfügung stehe.
Mit Schriftsatz vom 8. Juli 2019 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers beim Bayerischen Verwaltungsgericht Klage auf Verpflichtung des Beklagten, einen bedarfsgerechten Kindergartenplatz ab dem 1. September 2019 nachzuweisen (M 18 K 19.3247). Mit Schriftsatz vom selben Tag stellte der Bevollmächtigte den Antrag,
die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu verpflichten, dem Antragsteller einen den individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung ab dem 1. September 2019 nachzuweisen.
Es wurde zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Antragsgegnerin habe dem Antragsteller keinen zumutbaren Betreuungsplatz angeboten. Trotz aller Bemühungen der Eltern sei bisher auch kein Betreuungsplatz selbst gefunden worden. Der Vater arbeite in Vollzeit, die Mutter arbeite 30 Wochenstunden. Ein Anordnungsanspruch ergebe sich aus § 24 Abs. 3 SGB VIII. Der individuelle Bedarf des Antragstellers umfasse eine ausreichend lange Betreuungszeit, sodass die Eltern des Antragstellers ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen könnten. Es liege auch ein Anordnungsgrund vor, da ohne sofortige Zuweisung eines Betreuungsplatzes die Eltern des Antragstellers ihrer Berufstätigkeit nicht wie zuvor fortführen könnten und der Antragsteller Gefahr liefe, nicht die altersgemäße frühkindliche Förderung zu erhalten, die der Gesetzgeber vorgesehen habe.
Die Antragsgegnerin teilte dem Vater des Antragstellers am 11. Juli 2019 telefonisch mit, dass ab dem 21. Oktober 2019 ein Kindergartenplatz über 8 Betreuungsstunden in der Einrichtung in der M.-P.-Str. nachgewiesen werde.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 18. Juli 2019, den Antrag abzulehnen.
Die Antragsgegnerin erklärt, dass der Antrag mangels Anordnungsanspruchs unbegründet sei, da der Antragsteller derzeit einen Kindertageseinrichtungsplatz besuche. Im Rahmen einer angemessenen Vermittlungsfrist (Art. 45a AGSG) sei bezüglich des geltend gemachten Bedarfs für September 2019 ein Kindergartenplatz am 12. Juli 2019 nachgewiesen worden, so dass es eines Antrags gemäß § 123 VwGO nicht bedurft hätte.
Mit Schriftsätzen vom 17. und 18. Juli 2019 erklärte der Bevollmächtige u.a., dass eine Erledigung nicht eingetreten sei, da der Bedarf vom 1. September 2019 bis zum 20. Oktober 2019 nicht gedeckt sei.
Der Bevollmächtigte erklärte das Verfahren mit Fax vom 5. August 2019 für den Zeitraum ab dem 21. Oktober 2019 für erledigt und erklärte, dass die Betreuung bis zum 20. Oktober 2019 noch ungeklärt sei. Das alternierende Nehmen von unbezahlten Urlaubstagen für jeweils ein Elternteil sei nach Rücksprache mit den Eltern des Antragstellers zwar möglich, erfordere aber eine Einigung bezüglich des Verdienstausfalls und sonstiger etwaiger Betreuungskosten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der übersandten Behördenakte sowie der Gerichtsakten, auch im Verfahren M 18 K 19.3248, Bezug genommen.
II.
Soweit die Parteien das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärten, ist das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO analog. Aus den Ausführungen der Antragserwiderung vom 18. Juli 2019 ergibt sich eine vorsorgliche Zustimmung zur teilweisen Hauptsacheerledigungserklärung des Antragstellers vom 5. August 2019.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist im Übrigen zulässig und begründet.
Der Antrag auf § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig.
Dem Antragsteller fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis, weil er derzeit in einer Kinderkrippe betreut ist. Der Vertrag des Antragstellers mit der derzeit besuchten Kinderkrippe endet am 31. August 2019, so dass dem Antragsteller ab dem 1. September 2019 kein Platz im öffentlich-rechtlich geförderten Kinderbetreuungssystem mehr zur Verfügung steht und dementsprechend eine Eilbedürftigkeit vorliegt. Die Eltern des Antragstellers hatten sich auch zunächst erfolglos an den Antragsgegner gewandt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 28.5.2019 – OVG 6 S 25.19 – juris Rn. 4).
Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
Wird mit der begehrten Regelung wie hier die Hauptsache vorweggenommen, gelten gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs. Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht nach § 123 Abs. 1 VwGO grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und einem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang dasjenige gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte. Dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache gilt im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) dann nicht, wenn der Antragsteller sonst Nachteile zu erwarten hätte, die für ihn unzumutbar wären, und schon bei summarischer Prüfung ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht. Besonders schwerwiegende Nachteile im Falle des Abwartens des Hauptsacheverfahrens liegen vor, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (VG Gera, B.v. 16.4.2019 – 6 E 557719 – juris Rn. 30 m.w.N.) .
Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Platzes in einer Kindertageseinrichtung glaubhaft gemacht.
Gemäß § 24 Abs. 3 S. 1 SGB VIII hat ein Kind, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, bis zum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Der Antragsteller ist am 23. August 2016 geboren und hat somit ab 23. August 2019 einen entsprechenden Anspruch. Seine Eltern haben in seinem Namen den Bedarf auch gegenüber dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe spätestens mit E-Mail vom 4. Juni 2019 geltend gemacht.
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist der Anspruch auf einen Betreuungsplatz auch nicht abhängig von der Einhaltung der Frist des § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, da die dort geregelte Anmeldungsfrist nur für den Nachweis eines Betreuungsplatzes gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII gilt; nicht jedoch für den Nachweis eines Betreuungsplatzes nach § 24 Abs. 3 SGB VIII.
Da der Anspruch nach derzeitiger Sachlage erst ab dem 21. Oktober 2019 erfüllt sein wird, besteht zeitlich weiterhin ein Anspruch zwischen dem beantragten 1. September 2019 und dem 20. Oktober 2019 auf Nachweis eines bedarfsgerechten Kindergartenplatzes.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund.
Der Anspruch auf Nachweis eines Platzes zum 1. September 2019 besteht bereits im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Denn der Anspruch auf Nachweis eines Platzes zu einem bestimmten Eintrittstermin muss einige Zeit vor diesem Termin liegen um den Eltern eine gewisse Planungssicherheit zu gewähren (vgl. VG Leipzig, B.v. 23.3.2017 – 5 L 24/17 – juris Rn. 17 m.w.N.). Angesichts der weitgehend im Juni 2019 abgeschlossenen Verteilung von Kinderbetreuungsplätzen muss es der Antragsgegnerin auch möglich sein, ab Juli des jeweiligen Jahres Nachweise für Plätze zum Beginn des neuen Kindergartenjahres im September zu erbringen.
Es liegt auch ein besonderer Anordnungsgrund vor, der es rechtfertigt, die Hauptsache vorweg zu nehmen (VGH BW B.v. 18.7.18 – 12 S 643/18 – Rn. 20). Denn die Eltern des Antragstellers sind beide in erheblichen Umfang berufstätig und benötigen daher für den Antragsteller eine relativ nahtlose Weiterbetreuung. Eine Betreuungslücke von 7 Wochen kann nicht zumutbar durch die Eltern mit Urlaubstagen abgedeckt werden, auch wenn der Bevollmächtigte mit Schreiben vom 5. August 2019 mitteilt, dass alternierend unbezahlter Urlaub genommen werden könnte, sofern die Parteien sich über den Verdienstausfall einigen würden. Eine solche Einigung liegt derzeit nicht vor und kann auf Grund der vorliegenden Eilbedürftigkeit auch nicht abgewartete werden. Die Antragsgegnerin ist im Rahmen ihrer Planungsverpflichtung nach § 79 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII verpflichtet, ab dem 3. Lebensjahr ausreichend Plätze zur Verfügung zur stellen (vgl zu § 24 Abs. 2 SGB VIII: BVerwG, Urteil vom 26.10.2017 – 5 C 19/16 Rn. 35).
Das Verwaltungsgericht hält es in Ausübung des ihm nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 938 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessens für erforderlich, dem Antragsgegner eine Umsetzungsfrist von zwei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 28.5.2019 – OVG 6 S 25.19 – juris Rn. 5).
Das Gericht weist jedoch darauf hin, dass sich der Anspruch nach § 24 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII lediglich auf einen Halbtagesplatz bezieht. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut und der Systematik der gesetzlichen Regelung (vgl. Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 24 SGB VIII, Rn. 21; Hauck/Noftz, SGB-VIII Kommentar, Stand 01/19, § 24 SGB VIII Rn. 49f., 56; Beck-OK zum SGB VIII, Winkler, § 24 SGB VIII, 1.6.2019, Rn. 43; Kunkel/Kepert SGB VIII, 7. Auflage 2008, § 24 Rn. 34 f.; Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 8. Auflage 2019, § 24 SGB VIII Rn. 47 ff.; OVG Lüneburg, B.v. 20.6.2019 – 10 ME 134/19 – juris Rn. 3ff.; VG Frankfurt a.M., B.v. 18.2.2011 – 7 L 341/11- juris Leitsätze 3 und 4). Dass ein zeitlicher Umfang des Anspruchs von drei bis vier Stunden dem grundlegenden Überlegungen des Bayerischen Landesgesetzgeber zum zeitlichen Umfang entspricht, kann man dem Basiswert aus Art. 21 Abs. 3 S. 1 BayKiBiG entnehmen. Nach der nunmehr überwiegenden Meinung ist jedoch mindestens eine zusammenhängende Stundenanzahl von sechs Zeitstunden abzudecken, um wenigstens eine Halbtagsberufstätigkeit inklusive Fahrtwege zu ermöglichen (vgl. Hauck/Noftz, SGB-VIII Kommentar, Stand 01/19, § 24 SGB VIII Rn. 55 ff. (56); Kunkel/Kepert SGB VIII, 7. Auflage 2008, § 24 Rn. 34; Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 8. Auflage 2019, § 24 SGB VIII Rn. 47 ff.).
Es wird im vorliegenden Fall nach summarischer Prüfung zudem als zumutbar erachtet, wenn ein einmaliger Einrichtungswechsel zum 21. Oktober 2019 stattfinden müsste (vgl. BayVGH, U.v. 22.7.2016 – 12 BV 15.719 – juris Rn. 74 ff.), so dass die Antragsgegnerin nicht dazu verpflichtet ist, einen Platz in der ab 21. Oktober 2019 vermittelten Einrichtung für den Überbrückungszeitraum anzubieten, sondern auch auf Plätze anderer zumutbarer und bedarfsdeckender Einrichtungen zurückgreifen kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 S. 1, 161 Abs. 2 Abs. 2 S. 1 VwGO. Billigem Ermessen entspricht es bezüglich des erledigenden Teils die Kosten der Antragsgegnerin aufzuerlegen, da vorliegend mehr als sechs Wochen nach der E-Mail der Mutter des Antragstellers vergangen sind, bevor ein Platz vermittelt wurde.
Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO.


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