Medizinrecht

Genehmigungsfiktion – Mamillenpigmentierung durch Tätowierer

Aktenzeichen  L 20 KR 306/19

Datum:
27.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
ASR – 2020, 109
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3a

 

Leitsatz

Ein Ausschluss von „Leistungen, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen“ aus dem Anwendungsbereich der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V setzt neben der Tatsache, dass die Leistung (objektiv) nicht vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst ist, weiter voraus, dass der Antragsteller (subjektiv) dies weiß oder infolge grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt nicht weiß.  (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 11 KR 188/18 2019-04-02 Urt SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 02.04.2019 sowie der Bescheid vom 08.03.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.04.2018 werden aufgehoben. Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten der beim Tätowierer A. E. vorgenommenen Pigmentierung einer Mamille (Rechnung vom 30.03.2017) in Höhe von 833,- EUR zu erstatten.
II. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und auch begründet.
Die Klägerin hat einen Anspruch aus § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V auf Kostenerstattung für die bei ihr vom Tätowierer A. E. durchgeführte und abgerechnete Mamillenpigmentierung. Es liegen die Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V vor.
Nach § 13 Abs. 3a SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antrageingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. Der MDK nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung. Kann die Krankenkasse die Frist nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie das den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (§ 13 Abs. 3a Satz 5 SGB V). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V). Beschaffen sich die Leistungsberechtigten nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (§ 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V).
Dafür, dass eine Leistung als genehmigt gelten kann, bedarf es eines fiktionsfähigen Antrags. Die Fiktion kann nur dann eintreten, wenn der Antrag so bestimmt gestellt ist, dass die auf der Grundlage des Antrags fingierte Genehmigung ihrerseits im Sinne von § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) hinreichend bestimmt ist. Inhaltlich hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt dann, wenn sein Adressat objektiv in der Lage ist, den Regelungsgehalt des Verfügungssatzes zu erkennen und der Verfügungssatz ggf. eine geeignete Grundlage für seine zwangsweise Durchsetzung bildet (ständige Rspr., vgl. z.B. Bundessozialgericht – BSG -, Urteil vom 26.02.2019, B 1 KR 33/17 R – m.w.N.).
Unter dem Gesichtspunkt, dass die Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V nicht zum Rechtsmissbrauch einladen soll, hat die Rspr. mit dem Hinweis auf den Regelungszusammenhang und -zweck (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R) zwei im Gesetzestext selbst nicht ausdrücklich verankerte Komponenten zur Vermeidung von Rechtsmissbrauch eingeführt. Die beantragte Leistung dürfe nicht objektiv offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegen und müsse vom Antragsteller subjektiv für erforderlich gehalten werden dürfen und (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R: „Der Antrag des Klägers betraf eine Leistung, die er für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV lag.“, und BSG, Beschluss vom 11.10.2019, B 1 KR 66/18 B: „Das betrifft zum einen objektiv Leistungen, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen, sodass die Genehmigungsfiktion Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwinden würde, die jedem Versicherten klar sein müssen (vgl ebenda). Es betrifft zum anderen Leistungen, bei denen es rechtsmissbräuchlich wäre, wenn der Berechtigte sie subjektiv für erforderlich hält (vgl ebenda).“):
* Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein die Genehmigungsfiktion ausschließender Rechtsmissbrauch „objektiv Leistungen, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen“ (BSG, Beschluss vom 11.10.2019, B 1 KR 66/18 B; vgl. auch Urteile vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R, vom 11.07.2017, B 1 KR 26/16 R, vom 06.11.2018, B 1 KR 30/18 R, und vom 27.08.2019, B 1 KR 1/19 R, B 1 KR 8/19 R und B 1 KR 9/19 R), betreffe, und umschreibt dies in den genannten Entscheidungen regelmäßig damit, dass die die Genehmigungsfiktion beschränkenden Leistungsgrenzen der gesetzlichen Krankenversicherung „jedem Versicherten klar“ sein müssten. Das BSG legt insofern eine objektivierte Sichtweise zugrunde und unterstellt ein für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs erforderliches individuelles Fehlverhalten des Versicherten für alle Fälle, in denen es nach allgemeinen Erfahrungssätzen so gut wie ausgeschlossen ist, dass dem Versicherte das Überschreiten der Grenzen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung bei seiner Antragstellung nicht bewusst ist, ohne aber ein individuelles Verschulden noch zu prüfen.
Mit Gerlach (vgl. ders., Anmerkungen zum Urteil des BSG vom 06.11.2018, B 1 KR 13/17 R, in: NZS 2019, 496, 500: „Sie“ – gemeint ist die beantragte Leistung – „darf für ihn“ – gemeint ist der Versicherte – „nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen.“ [Unterstreichung durch den Senat]) versteht der Senat den Begriff des Offensichtlich-außerhalb-des-Leistungskatalogs-der-gesetzlichen-Krankenversicherung-Liegens hingegen nicht rein objektiv, wie dies das BSG wohl tut, sondern unter Zugrundelegung eines subjektiven Sorgfaltsmaßstabs, der bei der Beantwortung der Frage, ob die beantragte Leistung nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, zu beachten ist. Dies folgt für den Senat zwingend daraus, dass das Institut des Rechtsmissbrauchs, wie ihn das BSG als Begründung für die von ihm praktizierte Einführung der weiteren Prüfungsgesichtspunkte über den Gesetzeswortlaut hinaus zugrunde gelegt hat, ohne dass es dafür eine Stütze in den Gesetzesmaterialen zu § 13 Abs. 3a SGB V gäbe – diese haben die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V lediglich mit der „Sanktionsmöglichkeit gegen die Krankenkasse“ (Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten – Bundestags-Drucksache 17/10488, S. 32) begründet, ohne Anlass für eine Begrenzung dieser Sanktionsmöglichkeit zu sehen -, schon begrifflich eine auch subjektive Betrachtungsweise verlangt. Denn ein Rechtsmissbrauch setzt voraus, dass ein Recht in einer offenkundig missbräuchlichen Art und Weise geltend gemacht wird (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG -, Beschluss vom 03.11.2015, 2 BvR 2019/09); es ist also erforderlich, dass der Betroffene wider besseres Wissen oder zumindest in grob fahrlässiger Unkenntnis handelt und sein Begehren offensichtlich keine Grundlage hat. Diese Auslegung, die eine subjektive Komponente als unverzichtbare Voraussetzung für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs voraussetzt, entspricht auch der historischen Entwicklung des Rechtsmissbrauchsbegriffs als einem individuell geprägten Rechtsinstitut, bei dem das Unwerturteil – in Abgrenzung zum hier nicht einschlägigen institutionellen Rechtsmissbrauch, bei dem die aus einem Rechtsinstitut ergebenden Rechtsfolgen deshalb zurücktreten müssen, weil sie zu einem untragbareren Ergebnis führen würden – aus dem individuellen Verhalten der Partei resultiert (vgl. z.B. Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 242, Rdnrn. 204 ff., 239).
Zudem wird auch aus der gesetzlichen Regelung in § 18 Abs. 5 SGB IX, die sich nach ihrer Gesetzesbegründung an der Rechtsprechung zur Konkretisierung der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V orientiert (vgl. die Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen [Bundesteilhabegesetz – BTHG] – Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 238) und die eine Erstattungspflicht infolge der Genehmigungsfiktion nur bei positiver Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis ausschließt, klar, dass das Offensichtlich-außerhalb-des-Leistungskatalogs-der-gesetzlichen-Krankenversicherung-Liegen unter Zugrundelegung eines subjektiven Sorgfaltsmaßstabs aus der Sicht des Betroffenen mit seinen individuellen Erkenntnismöglichkeiten zu beurteilen ist. Denn die Regelung des § 18 Abs. 5 SGB IX orientiert sich an der Vorschrift des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X, die einen Vertrauensschutz ausschließt, wenn der Betroffene die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (so auch die Gesetzesbegründung zum Entwurf des BTHG, a.a.O., S. 238: „Maßgeblich für einen etwaigen Ausschluss der Kostenerstattung ist lediglich der auch nach dem allgemeinen Sozialverfahrensrecht bestehende Verschuldensmaßstab für die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte, ohne hierbei den Leistungsberechtigten eine besondere Kenntnispflicht des Rehabilitationsrechts aufzubürden.“). Insofern hat der Gesetzgeber – zumindest nachträglich – zum Ausdruck gebracht, dass er auch bei § 13 Abs. 3a SGB V keine rein objektive Sichtweise gewollt hat, sondern ein individuelles Verschulden voraussetzt, um von einem Rechtsmissbrauch auszugehen.
Ein Ausschluss von „Leistungen, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen“ (BSG, Beschluss vom 11.10.2019, B 1 KR 66/18 B), aus dem Anwendungsbereich der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V setzt daher neben der Tatsache, dass die Leistung (objektiv) nicht vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst ist, weiter voraus, dass der Antragsteller (subjektiv) dies weiß oder infolge grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt nicht weiß (so auch die Regelung in § 18 Abs. 5 SGB IX). Eine bloße Rechtsunkenntnis, die ein einfaches Verschulden im Sinne einfacher Fahrlässigkeit begründen würde, weil wegen des Grundsatzes der formellen Publizität bei der Verkündung von Gesetzen Gesetze mit ihrer Verkündung allen Normadressaten als bekannt gelten und zwar ohne Rücksicht darauf, ob und wann diese tatsächlich davon Kenntnis davon erhalten haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.1999, 2 BvR 729/96; BSG, Urteil vom 06.05.2010, B 13 R 44/09 R), genügt nicht. Eine grob fahrlässige Unkenntnis in diesem Sinne ist einem Antragsteller (erst) dann vorzuwerfen, wenn er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (so die gesetzliche Definition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X), er also – in anderen Worten – „unter Berücksichtigung seiner individuellen Urteils- und Kritikfähigkeit seine Sorgfaltspflicht in außergewöhnlich großem Maße, dh in einem das gewöhnliche Maß einer Fahrlässigkeit in erheblich übersteigendem Ausmaß verletzt hat“ (BSG, Urteil vom 14.06.1984, 10 RKg 21/83). Der subjektive Sorgfaltsmaßstab bringt es mit sich, dass auf die individuellen Möglichkeiten des Betroffenen abzustellen ist und besondere in seiner Person liegende Umstände zu beachten sind (vgl. zu der wertungsmäßig entsprechenden Regelung des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X: Padé, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. Stand: 10.02.2020, § 45 SGB X, Rdnr. 94 f., und Merten, in: Hauck/Noftz, SGB, Stand 04/2018, § 45 SGB X, Rdnr. 68 ff.). Daher kann „grobe Fahrlässigkeit … nicht ohne weiteres deshalb bejaht werden, weil sich dem Versicherten die Erkenntnis bestimmter rechtlicher Merkmale ?aufdrängen mußte“ (BSG, Urteil vom 14.06.1984, 10 RKg 21/83), sondern es kommt auf die individuellen Umstände und Gründe an, also auch darauf, ob der Versicherte über besondere – medizinische oder juristische – Fachkenntnisse oder nur über einen laienhaften, möglicherweise auch aufgrund der individuellen Gegebenheiten besonderes niedrigen Wissensstand verfügt (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.2019, B 1 KR 36/18 R).
Als Beispiele dafür, welche Leistungen insbesondere nach der Rechtsprechung des BSG objektiv offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegen (sog. Evidenzfälle), sind folgende zu nennen:
o Mit Blick auf die Gesetzesmaterialien zu § 13 Abs. 3a SGB V hat das BSG den vom Versicherten zu tragenden Eigenanteil bei der Versorgung mit Zahnersatz genannt (vgl. BSG, Urteile vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R – unter Hinweis auf Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 17/11710, S. 30 -, und vom 27.08.2019, B 1 KR 9/19 R), wobei sich die grobe Fahrlässigkeit in solchen Fällen daraus ergeben dürfte, dass infolge der Hinweise im Heil- und Kostenplan auf den vom Versicherten zu tragenden Eigenanteil dieser positiv weiß, dass dieser Eigenanteil nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehört.
o Aus der Begründung des späteren Gesetzentwurfs eines Bundesteilhabegesetzes zur vergleichbaren Neuregelung in § 18 Abs. 3 SGB IX hat das BSG den Evidenzfall „Urlaub auf Mallorca“ abgeleitet (vgl. BSG, Urteile vom 26.02.2019, B 1 KR 18/18 R, und vom 27.08.2019, B 1 KR 36/18 R – jeweils mit Hinweis auf den Entwurf des BTHG, Bundesrats-Drucksache 428/16, S. 236, ebenso Bundestags-Drucksache 18/9522, S. 238).
o Die Gesetzesbegründung zum BTHG wiederum hat sich bei der Nennung des Evidenzfalls „Urlaub auf Mallorca“ auf die sozialgerichtliche Rechtsprechung zur Konkretisierung der Genehmigungsfunktion nach § 13 Abs. 3a SGB V gestützt (vgl. a.a.O.). Bei der sozialgerichtlichen Rechtsprechung, auf die die Gesetzesbegründung aufbaut, handelt es sich – die in der Datenbank Juris veröffentlichten Entscheidungen zugrunde gelegt – durchweg um erstinstanzliche Entscheidungen, nämlich der Sozialgerichte Mannheim (Urteil vom 03.06.2014, S 9 KR 3174/13), Koblenz (Urteil vom 23.03.2015, S 13 KR 977/14), Detmold (Urteil vom 09.07.2015, S 24 KR 254/14) und Frankfurt (Urteil vom 17.08.2015, S 18 KR 454/14), die weitgehend wortgleich als Beispielsfälle für sogenannte „Evidenzfälle“ nicht nur den „Mallorca-Urlaub“, sondern auch die „Versorgung mit Heroin oder anderen illegalen Drogen“ und die „Antragstellung durch eine Person, die gar nicht Mitglied der betreffenden Krankenkasse ist“, anführen.
o In seinen Urteilen vom 27.08.2019 ist das BSG davon ausgegangen, dass es für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs genüge, „dass das Gesetz formale oder jedem deutliche Anspruchsvoraussetzungen wie etwa Altersgrenzen regelt, die bei Antragstellung nicht erfüllt sind oder später entfallen. Solche gesetzlichen Voraussetzungen müssen jedem Versicherten geläufig sein“ (beispielhaft: BSG, Urteil vom 27.08.2019, B 1 KR 9/19 R), wobei dies dem Senat als problematisch erscheint. Denn das BSG unterstellt damit, dass formale Anspruchsvoraussetzungen wie Altersgrenzen jedermann bekannt sein müssten und die fehlende Kenntnis davon grobe Fahrlässigkeit begründen würde. Damit werden nach der Meinung des Senats überzogenen Anforderungen an die Gesetzeskenntnis gestellt.
* Die Frage des Subjektiv-für-erforderlich-halten-Dürfens beurteilt sich nach der Rechtsprechung des BSG anhand aller Umstände des konkreten Einzelfalls und auf der Grundlage des tatsächlichen individuellen Kenntnisstands des Versicherten (vgl. BSG, Urteile vom 27.08.2019, B 1 KR 36/18 R, und vom 27.08.2019, B 1 KR 1/19 R, Beschluss vom 11.10.2019, B 1 KR 66/18 B). Subjektiv für erforderlich halten darf ein Antragsteller eine medizinische Leistung insbesondere dann, wenn sie von seinem behandelnden Arzt fachlich befürwortet wird (vgl. BSG, Urteile 11.07.2017, B 1 KR 1/17 R, und vom 26.02.2019, B 1 KR 33/17 R). Bei unterschiedlichen (ärztlichen) Empfehlungen darf sich der Versicherte auf die für ihn günstigste Einschätzung stützen, ohne dass dies rechtsmissbräuchlich wäre (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.2019, B 1 KR 36/18 R).
Mit Blick darauf, dass von einem der Genehmigungsfiktion entgegenstehenden Rechtsmissbrauch dann auszugehen ist, wenn es sich bei der beantragten Leistung um eine solche handelt, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, wobei dies nach der Rechtsauffassung des Senats auch voraussetzt, dass dem Versicherten im konkreten Einzelfall entweder eine individuelle grob fahrlässige Unkenntnis oder eine positive Kenntnis vorgehalten werden kann, sieht der Senat für das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des Subjektiv-für-erforderlich-halten-Dürfens nur noch eine geringe praxisrelevante Bedeutung. Im Wesentlichen wird das Tatbestandsmerkmal des Subjektiv-für-erforderlich-halten-Dürfens nur dann noch eine eigenständige Bedeutung erhalten, wenn ein Versicherter eine Leistung beantragt, die im Leistungskatalog enthalten ist, die aber für ihn überhaupt nicht in Betracht kommt, weil keinerlei Bedürfnis und kein sachlicher Grund für die Inanspruchnahme dieser Leistung erkennbar sind.
Die objektive Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich ein Rechtsmissbrauch ergeben könnte, trägt nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen der, der aus dem Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs Rechtsvorteile erzielt, also hier der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (zur Beweislast für das Vorliegen von Rechtsmissbrauch: vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.06.1963, 1 BvR 345/61; BSG, Urteile vom 19.12.1968, 5 RKn 57/67, und vom 20.11.2008, B 3 KN 1/08 KR R; Bundesfinanzhof, Urteil vom 29.01.1975, I R 135/70).
Unter Beachtung der aufgezeigten Vorgaben ist ein Anspruch aus § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V im vorliegenden Verfahren zu bejahen:
1. Fiktionsfähiger Antrag
Ein fiktionsfähiger Antrag liegt mit dem Schreiben der Klägerin vom 20.01.2017 vor.
1.1. Hinreichende Bestimmtheit des Antrags
Der Antrag im Schreiben der Klägerin vom 20.01.2017 ist hinreichend bestimmt.
Die Klägerin hat die Kostenübernahme für eine Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E. zum Abschluss der Brustrekonstruktion nach einem Mammakarzinom beantragt. Die beantragte Leistung ist damit inhaltlich hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB X beschrieben.
1.2. Kein Rechtsmissbrauch der Klägerin
Der Antrag der Klägerin auf eine Mamillenpigmentierung bei dem Tätowierer A. E. im Schreiben vom 20.01.2017 war nicht rechtsmissbräuchlich.
1.2.1. Keine offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegende Leistung Die beantragte Leistung (Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E.) liegt nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. unten Ziff. 1.2.1.1.). Auch sieht der Senat kein individuelles Verschulden, wie es nach seiner Rechtsansicht für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs erforderlich wäre (vgl. unten Ziff. 1.2.1.2.).
Bei der Frage, ob die Leistung offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt und dies der Antragsteller weiß oder grob fahrlässig nicht weiß, geht der Senat davon aus, dass dabei nicht nur auf die beantragte Leistung an sich unabhängig davon, durch wen sie erbracht wird, abzustellen ist, sondern dass die Leistung in einer Gesamtschau, die sowohl die Art der Leistungserbringung als auch die Person des Leistungserbringers einbezieht, zu bewerten ist.
1.2.1.1. Die beantragte Leistung liegt, ohne dass die Frage einer Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Klägerin geprüft wäre, zwar objektiv außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht aber offensichtlich außerhalb.
Dass eine Mamillenpigmentierung zur onkoplastischen Rekonstruktion der Brust im Rahmen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung möglich und im Falle der Klägerin auch zum Abschluss der Brustrekonstruktion geboten ist, ist unstreitig; auch die Beklagte hat dies nicht infrage gestellt.
Eine Mamillenpigmentierung in der hier vorliegenden Form, nämlich durch einen Tätowierer als selbstständigen Leistungserbringer, ist zwar im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht enthalten, da ein eigenverantwortlich tätiger Tätowierer kein Leistungserbringer im Sinne des SGB V ist. Es kann aber vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass dies offensichtlich wäre.
Von einem Offensichtlich-außerhalb-des-Leistungskatalogs-der-gesetzlichen-Krankenversicherung-Liegen kann jedenfalls dann nicht ausgegangen werden, wenn allein darauf abgestellt wird, dass die Tätigkeit der Mamillenpigmentierung an sich durch einen Tätowierer vorgenommen wird. Zum einen handelt es sich bei der Pigmentierung der Mamille nicht um eine Verrichtung, die allein Ärzten vorbehalten wäre. Vielmehr ist eine Tätigkeit, die aus dem Einbringen von Farbpigmenten in Hautschichten besteht, schon keine Tätigkeit, die dem Erlaubnisvorbehalt des § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz unterfällt und daher nur von Ärzten und Heilpraktikern ausgeübt werden dürfte, sondern wird in der Regel von Tätowierern oder Kosmetikern durchgeführt, die nur hygienerechtlichen Vorgaben, nicht aber berufsrechtlichen Reglementierungen unterliegen (vgl. Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 14.11.2001, 6 U 33/01; Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 19.04.2002, M 16 S 02.306). Auch der Inhalt der Beklagtenakte und der dort dokumentierte Hinweis, dass eine Mamillenpigmentierung durch einen Tätowierer dann zu Lasten der gesetzlichen Krankversicherung möglich sei, wenn die Abrechnung durch ein Krankenhaus erfolge (Akteneintrag vom 02.03.2017), zeigt deutlich, dass allein die Vornahme einer Mamillenpigmentierung durch einen Tätowierer nicht nur nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, sondern eine Mamillenpigmentierung durch einen Tätowierer als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung auch nach Ansicht der Beklagten durchaus möglich ist, nämlich wenn sie eingebettet in eine ärztliche Behandlung und unter ärztlicher Verantwortung erfolgt.
Aber auch dann, wenn berücksichtigt wird, dass die Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E. – wie hier – als dessen selbstständige Leistungserbringung erfolgt ist, liegt diese Leistungserbringung im vorliegenden Fall nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung.
Zwar hat es das BSG bislang offengelassen, ob bei einem Antrag auf Leistungserbringung durch einen nicht zugelassenen Leistungserbringer von einem Antrag auf eine offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegende Leistung auszugehen ist, die dem Eintritt der Genehmigungsfiktion entgegensteht (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 11.07.2017, B 1 KR 26/16 R). Diese allgemein gehaltene Fragestellung bedarf jedoch auch vorliegend keiner Entscheidung, da die Frage, ob eine beantragte Leistung offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu beantworten ist. Angesichts der speziellen Umstände im vorliegenden Fall – Bestätigungsschreiben der Brustzentren, (anonymisierte) Kostenübernahmeerklärung der Beklagten für eine Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E. in einem anderen Fall – ist der hier zu entscheidende Fall so speziell gelagert, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass die beantragte Leistung offensichtlich, d.h. für jeden Versicherten klar erkennbar, außerhalb des Leistungskatalogs liegt. Wenn sowohl anerkannte Leistungserbringer der gesetzlichen Krankenversicherung in Form von Brustzentren als auch die Beklagte selbst zum Ausdruck bringen, dass eine Mamillenpigmentierung durch einen Tätowierer als Teil der medizinischen Leistungen im Rahmen einer onkoplastischen Rekonstruktion der Brust zu betrachten ist, für die die Beklagte auch schon die Kosten in einem anderen Fall übernommen hat, ist kein Raum für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs. Die Klägerin kann nicht mit einem Versicherten gleichgestellt werden, der einen Urlaub in Mallorca oder eine Versorgung mit einer illegalen Droge wie Heroin beantragt oder der sich an eine Krankenkasse wendet, obwohl er überhaupt nicht deren Mitglied ist. In einer solchen Gleichstellung würde der Senat einen eklatanten Wertungswiderspruch sehen.
1.2.1.2. Dieses Ergebnis findet erst recht seine Bestätigung, wenn, wie dies der oben aufgezeigten Auffassung des Senats entspricht, im Rahmen der Frage, ob eine beantragte Leistung offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, auch die Frage zu prüfen ist, ob der Klägerin als Antragstellerin ein zumindest grob fahrlässiges Verhalten vorzuhalten ist, wenn sie bei der Beklagten die Versorgung mit einer Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E. beantragt.
Angesichts der Bestätigung des Brustzentrums, wie sie von der Klägerin im Rahmen der Antragstellung vorgelegt worden ist, kann der Klägerin zumindest keine grobe Fahrlässigkeit vorgehalten werden. Es kann keine Rede davon sein, dass die Klägerin nur einfachste, ganz naheliegende Überlegungen hätte anstellen müssen, um zu erkennen, dass die Leistungserbringung durch den Tätowierer nicht vom Leistungskatalog umfasst wäre. Dazu war sie gerade nicht gehalten. Die von ihr zusammen mit dem Antrag vorgelegte Bestätigung des Brustzentrums hat den Eindruck erweckt, dass die Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E. Teil der medizinisch erforderlichen und von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistenden Brustrekonstruktion sei. Auch der Hinweis in der Bestätigung, dass das Brustzentrum die Übernahme der Kosten des Tätowierers A. E. durch die gesetzlichen Krankenkassen befürworte, hat der Klägerin berechtigten Anlass dafür gegeben, dass sie davon ausgegangen ist, dass die Mamillenpigmentierung durch den genannten Tätowierer von der Beklagten übernommen werde, also dass eine Kostenübernahme durchaus möglich sei. Der Klägerin kann insofern keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, weil sie die Bestätigung des Brustzentrums nicht weiter infrage gestellt hat.
Sofern die Beklagte unter Hinweis auf die Gesprächsnotizen in ihrer Akte die Ansicht vertritt, die Klägerin hätte positiv gewusst, dass eine Leistungserbringung durch den Tätowierer A. E. außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liege, steht dies der Genehmigungsfiktion nicht entgegen. Denn es ist nicht nachgewiesen, dass die Klägerin die von der Beklagten unterstellte positive Kenntnis davon gehabt hat, dass die Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liege; auch eine grob fahrlässige Unkenntnis ist nicht nachgewiesen.
Wenn die Beklagte den Standpunkt vertritt, aufgrund der vor dem Antrag vom 20.01.2017 mit der Klägerin geführten Telefonate sei dieser bekannt gewesen, dass eine Leistungserbringung durch einen Tätowierer zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht in Betracht komme, lässt sich damit nach der vom Senat vorzunehmenden freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) keine – im Vollbeweis nachzuweisende – positive Kenntnis der Klägerin davon, dass eine Leistungserbringung durch einen Tätowierer nicht möglich sei, begründen. Der Senat hält es schon für fraglich, ob überhaupt mit Akteneinträgen in der Beklagtenakte über Telefonate mit der Klägerin in der vorliegenden Form der Nachweis über bestimmte Tatsachen geführt werden kann. Denn Telefonnotizen in einer stark verkürzten Form, wie sie hier vorliegen, geben nicht zwingend auch den Inhalt von geführten Gesprächen wieder. Insbesondere ist zu bedenken, dass Gesprächszusammenfassungen in dieser Form lediglich die subjektive Sichtweise des den Telefonvermerk anfertigenden Gesprächspartners, hier also des Mitarbeiters der Beklagten, darstellen, nicht aber unbedingt auch den objektiven Inhalt oder gar das, was subjektiv beim Gesprächspartner angekommen ist. Darüber hinaus sind die vorliegenden Gesprächsnotizen in der Beklagtenakte, ganz abgesehen davon, dass sie aufgrund ihrer Kürze ohnehin nicht einen zweifelsfreien Rückschluss auf die korrekte Wiedergabe der Telefonate hinsichtlich Inhalt und Vollständigkeit zulassen, auch in sich nicht widerspruchsfrei. Dies ergibt sich aus folgenden Gesichtspunkten:
Zunächst ist schon fraglich, warum die Akteneinträge zu Telefonaten unter einem Betreff „Vorgang: Diverse Leistungen – Mamillenpigmentierung + Augmentation mittels Filler-Injektion – Antrag vom 29.04.2016“ dokumentiert sind, obwohl das erste Telefonat unter diesen Betreff bereits zuvor, nämlich am 06.04.2016 geführt worden ist. Der Senat kann sich dies allenfalls dadurch erklären, dass der Betreff erst später eingefügt worden ist. Weiter ist nicht schlüssig erkennbar, wie das im Betreff genannte Datum eines Antrags vom „29.04.2016“ zu erklären ist. Ein Telefonat an diesem Tag ist jedenfalls in der Akte der Beklagten nicht dokumentiert. Das Datum könnte allenfalls dadurch erklärt werden, dass das mit dem Betreff „Klärung der Kostenübernahme“ versehene Schreiben der Klägerin vom 26.04.2016 möglicherweise am 29.04.2016 bei der Beklagten eingegangen ist. Einen Antrag zu einer Mamillenpigmentierung enthält dieses Schreiben samt den beigefügten Anlagen aber nicht; im Schreiben des Brustzentrums O-Stadt vom 14.03.2016 ist lediglich eine noch anstehende Augmentation mittels Filler-Injektion angesprochen. Zudem ist festzuhalten, dass die Beklagtenakte vor der schriftlichen Antragstellung der Klägerin am 20.01.2017 lediglich Hinweise auf zwei Gespräche enthält, bei denen die Frage der Mamillenpigmentierung thematisiert worden ist. Nach der Telefonnotiz vom 03.05.2016 ist der Klägerin die Auskunft gegeben worden, dass eine Mamillenpigmentierung möglich sei, wenn diese von einem Vertragsarzt durchgeführt werde. Hinweise darauf, dass die Klägerin bereits damals explizit darüber aufgeklärt worden wäre, dass eine Mamillenpigmentierung durch einen Tätowierer im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht möglich sei, enthält die Akte nicht. Dass die Klägerin die Mamillenpigmentierung gegebenenfalls durch einen Tätowierer durchführen lassen wollte, ist nach den Akteneinträgen erstmals am 06.12.2016, also lange nach dem Telefonat vom 03.05.2016, thematisiert worden. Dabei sei – so der Akteneintrag – der Klägerin folgende Auskunft gegeben worden: „Leider haben wir keine Möglichkeit die Kosten zu übernehmen. Die Pigmentierung muss im Rahmen einer ärztlichen Behandlung erfolgen.“ Weiter ist vermerkt – so der Akteneintrag -, dass die Klägerin dies nicht nachvollziehen könne, weil ihr bekannt sei, dass andere Krankenkassen hier anders entschieden hätten. Ob die von der Beklagten telefonisch erteilte Auskunft zur Vornahme im Rahmen einer ärztlichen Behandlung so klar gegenüber der Klägerin gegeben worden ist, dass diese keine Zweifel mehr daran hätte haben dürfen, dass die Vornahme der Mamillenpigmentierung durch einen Tätowierer im Rahmen der Leistungserbringung durch die Beklagte nicht zulässig sei, hält der Senat für zweifelhaft. Diese Zweifel an einer klaren Aussage der Beklagten im Telefonat stützt der Senat auch darauf, dass spätere Telefonnotizen durchaus unklare Auskünfte von Mitarbeitern der Beklagten erkennen lassen. So ist der Klägerin am 02.03.2017 telefonisch die Auskunft gegeben worden, dass eine Mamillenpigmentierung durch Tätowierer ausgeschlossen sei. Am Folgetag ist der Klägerin aber erläutert worden, dass die Pigmentierung im Krankenhaus durch einen Tätowierer grundsätzlich möglich sei, wenn die Rechnung vom Krankenhaus gestellt werde. Zwar handelt es sich hierbei um Auskünfte nach der Antragstellung; dass aber bereits vorher, nämlich am 06.12.2016 die Auskünfte in ähnlicher Weise unklar (und widersprüchlich) gewesen sind, liegt für den Senat nahe. Auch hat die Klägerin auf Befragung des Senats hin nicht bestätigt, dass ihr vor der Antragstellung die klare Auskunft der Beklagten gegeben worden sei, dass eine Leistungserbringung durch den Tätowierer nicht möglich sei; in den Telefonaten seien – so die Klägerin – auch andere medizinische Maßnahmen im Rahmen der Brustrekonstruktion besprochen worden, die gegenüber der Mamillenpigmentierung zeitlich vorrangig gewesen seien. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin insofern unzutreffende Angaben gemacht haben könnte, sieht der Senat nicht; der Senat hält die Angaben der Klägerin für glaubwürdig.
Selbst dann, wenn – anders als dies vom Senat nach seiner Beweiswürdigung zugrunde gelegt wird (vgl. oben) – der Klägerin von der Beklagten die klare Auskunft gegeben worden wäre, dass eine Kostenübernahme bei einer Leistungserbringung durch einen Tätowierer nicht in Betracht komme, kann daraus keine für die Genehmigungsfiktion schädliche positive Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin abgeleitet werden. Denn die von der Klägerin mit ihrem Antrag vorgelegte Bestätigung des Brustzentrums war geeignet, begründete Zweifel an einer anderslautenden telefonischen Auskunft der Beklagte zu wecken. Darin hatte ein Oberarzt des Brustzentrums M. der M. Klinik W-Stadt bescheinigt, dass der Tätowierer A. E. im Rahmen der Arbeit am zertifizierten Brustzentrum ein Kooperationspartner sei und er die Rekonstruktion eines Mamillenhofes unter dem Aspekt der onkoplastischen Rekonstruktion aus medizinischer Sicht perfekt beherrsche. Weiter ist darin bestätigt worden, dass es sich bei der Mamillenpigmentierung um eine medizinische Leistung im Rahmen der onkoplastischen Rekonstruktion der Brust handle und dass das Brustzentrum die Übernahme der Kosten für die Arbeit des Tätowierers durch die Krankenkasse befürworte.
Dass der Klägerin weder eine schädliche positive Kenntnis noch eine grob fahrlässige Unkenntnis vorgeworfen werden kann, hat sich auch in der mündlichen Verhandlung vom 27.02.2020 klar bestätigt. Die Klägerin hat dort glaubhaft geschildert, dass ihr der Tätowierer vor der Antragstellung die Auskunft gegeben habe, dass Krankenversicherungen die Kosten einer Mamillenpigmentierung bei ihm übernähmen, es aber Schwierigkeiten gerade mit der Beklagten gebe. Insofern wäre es für die Klägerin naheliegend gewesen, für sie negative telefonische Auskünfte der Beklagten als Versuche, berechtigte Ansprüche abzuwehren, zu verstehen. Insofern kann der Klägerin auch keine grobe Fahrlässigkeit dahingehend vorgehalten werden, dass sie sich angesichts der widersprüchlichen Angaben nicht weiter kundig gemacht hat, zumal auch nicht ersichtlich ist, wie und wo die Klägerin weitere Klarheit hätte erhalten sollen (in diesem Sinne vgl. auch BSG, Urteil vom 27.08.2019, B 1 KR 36/18 R, das es für unschädlich erachtet hat, wenn sich ein Versicherter bei unterschiedlichen [ärztlichen] Empfehlungen auf die für ihn günstigste Einschätzung stützt, ohne diese weiter zu hinterfragen).
Der Klägerin kann auch, anders als dies die Beklagte meint, weder wegen ihrer beruflichen Tätigkeit als Krankenschwester noch aus dem Grund, dass sie mit einem Arzt verheiratet ist, eine zumindest grob fahrlässige Unkenntnis davon entgegengehalten werden, dass die Leistungserbringung durch den Tätowierer nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten ist. Eine so weitgehende Rechtskenntnis der Klägerin dahingehend, wer als Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht kommt, kann unter der gebotenen individuellen Betrachtungsweise nicht unterstellt werden. Dass die Klägerin aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit als Krankenschwester über besonderen Kenntnisse des Leistungserbringerrechts verfügen würde, ist weder naheliegend noch nachgewiesen. Gleiches gilt für den Umstand, dass die Klägerin mit einem Arzt verheiratet ist; der Senat geht nicht davon aus, dass sich familiäre Gespräche zwischen Ehegatten, auch wenn einer von beiden – im Übrigen fachfremder – Arzt ist, zwangsläufig auf Details des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung erstrecken.
Für den Senat ist daher nicht in dem dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen, dass die Klägerin aufgrund telefonischer Hinweise der Beklagten, insbesondere im Telefonat vom 06.12.2016, gewusst oder es aufgrund grober Fahrlässigkeit nicht gewusst hat, dass die Vornahme der Mamillenpigmentierung durch einen Tätowierer im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen ist. Der Klägerin kann daher kein Rechtsmissbrauch unterstellt werden, wenn sie mit Schreiben vom 20.01.2017 die Durchführung einer Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E. beantragt hat.
Dass die Klägerin ab Zugang des streitgegenständlichen Bescheides vom 08.03.2017 hätte wissen müssen, dass die Mamillenpigmentierung durch den Tätowierer A. E. außerhalb des Leistungskatalogs liegt, kann schon deshalb keine für die Genehmigungsfiktion schädliche grob fahrlässige Unkenntnis oder positive Kenntnis der Überschreitung des Leistungskatalogs begründen, weil zu diesem Zeitpunkt die Genehmigungsfiktion bereits eingetreten ist. Eine danach eintretende grob fahrlässige Unkenntnis bzw. Kenntnis ist unschädlich, weil dies ansonsten dazu führen würde, dass ein fingierter (genehmigender) Verwaltungsakt unwirksam würde, ohne dass dies in den gesetzlich vorgesehenen Erlöschensgründen des § 39 Abs. 2 SGB X oder in der Regelung des § 13 Abs. 3a SGB V vorgesehen wäre; auch würde die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB weitgehend entwertet, wenn es für eine Erlöschen der Genehmigungsfiktion ausreichen würde, wenn der ablehnende Verwaltungsakt, mit dem die Kenntnis der Überschreitung des Leistungskatalogs vermittelt wird, vor der Selbstbeschaffung bekanntgegeben würde.
1.2.2. Leistung, die die Klägerin subjektiv für erforderlich halten durfte Die Klägerin durfte die beantragte Leistung sowohl bei der Antragstellung als auch bei Eintritt der Genehmigungsfiktion subjektiv für erforderlich halten.
Unstreitig zwischen den Beteiligten ist, dass eine Mamillenpigmentierung im Rahmen der Brustrekonstruktion nach Brustkrebs als abschließende Maßnahme medizinisch erforderlich ist.
Nicht entgegen gehalten werden kann der Klägerin, dass sie keinen befundgestützten Antrag auf eine Mamillenpigmentierung gestellt hat. Zwar geht das BSG davon aus, dass es in subjektiver Hinsicht regelmäßig ausreichend ist, wenn der Versicherte sich mit einem befundgestützten Antrag an seine Krankenkasse wendet (vgl. BSG, Urteil vom 26.09.2017, B 1 KR 6/17 R). Zwingend ist die Vorlage eines formalen ärztlichen Befundberichts – wie er hier fehlt – aber nicht. Vielmehr soll mit dem Begriff eines befundgestützten Antrags lediglich eine Abgrenzung zu solchen Anträgen stattfinden, bei denen das Begehren des Versicherten nicht durch eine aus medizinischer (Versicherten-)Sicht plausible Erklärung gestützt wird. Die Frage des Subjektiv-für-erforderlich-halten-Dürfens ist daher nur dann zu verneinen, wenn es an einer „fachkundigen Befürwortung“ (BSG, Urteil vom 26.09.2017, B 1 KR 8/17 R) des Antrags fehlt. Im vorliegenden Fall hat aber auch die Beklagte die medizinische Erforderlichkeit einer Mamillenpigmentierung zum Abschluss der Brustrekonstruktion nicht in Frage gestellt.
Der Klägerin kann daher kein Rechtsmissbrauch unterstellt werden, wenn sie eine Mamillenpigmentierung bei dem Tätowierer A. E. für subjektiv erforderlich gehalten hat und dafür ihre gesetzliche Krankenversicherung in Anspruch nehmen will.
2. Verbescheidungsfrist nicht eingehalten.
Die Beklagte hat den Antrag nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von drei Wochen (§ 13 Abs. 3a Satz 1 Alt. 1 SGB V) verbeschieden. Wann das Antragsschreiben der Klägerin vom 20.01.2017 (Freitag) bei der Beklagten eingegangen ist, ist den Akten der Beklagten nicht zu entnehmen; einen Eingangsstempel hat die Beklagte auf dem Antrag nicht angebracht. Diese Unzulänglichkeit bei der Aktenführung kann nicht unter Beweislastgrundsätzen zu einem Nachteil der Klägerin führen. Bei Berücksichtigung der üblichen Postlaufzeiten, zudem – zu Gunsten der Beklagten – des Umstands, dass der Antrag auf einen Freitag datiert ist und sich daher die Übermittlung ggf. etwas verzögern kann, und in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X und geht der Senat davon aus, dass ein Zugang bei der Beklagten spätestens bis zum Mittwoch der folgenden Woche (25.01.2017) erfolgt ist; ein späterer Zugang ist auch von der Beklagten nie behauptet worden. Dies zugrunde gelegt begann die 3-Wochen-Frist (spätestens) am 26.01.2017 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB -) und endete (spätestens) am 15.02.2017 (§ 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB). Die Verbescheidung erfolgte nach Ablauf der Frist, wobei dahingestellt bleiben kann, ob schon im Telefonat vom 02.03.2107 oder erst im Bescheid vom 08.03.2017 die abschlägige Verbescheidung zu sehen ist. Auch die Beklagte hat es im Übrigen nicht in Frage gestellt, dass sie die Frist des § 13 Abs. 3a Satz 1 Alt. 1 SGB V versäumt hat.
3. Kein Erlöschen der Genehmigungsfiktion
Die infolge des Ablaufs der Verbescheidungsfrist eingetretene Genehmigung ist auch nicht später – durch Rücknahme, Widerruf, anderweitige Aufhebung oder Erledigung durch Zeitablauf oder auf andere Weise – gemäß § 39 Abs. 2 SGB X vor der Selbstbeschaffung der Leistung erloschen.
4. Selbstbeschaffung der Leistung
Die Klägerin hat sich zulässig die beantragte und mittels Genehmigungsfiktion genehmigte Leistung der Mamillenpigmentierung bei dem Tätowierer A. E. selbst am 30.03.2017 und damit zu einem Zeitpunkt beschafft, als die Leistung bereits als genehmigt galt.
5. Entstandene Kosten
Durch die Selbstbeschaffung der Mamillenpigmentierung beim Tätowierer A. E. entstanden der Klägerin Kosten in Höhe von 833,- EUR, die mit der quittierten Rechnung vom 30.03.2017 nachgewiesen sind.
Die Berufung ist erfolgreich; die Beklagte hat der Klägerin die Kosten der am 30.03.2017 durchgeführten Mamillenpigmentierung zu erstatten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG). Insbesondere bedarf es keiner Zulassung, weil es auf die abstrakte Frage, ob bereits die Beantragung einer Versorgung bei einem nicht zugelassenen Leistungserbringer (hier: Tätowierer) dem Eintritt der Genehmigungsfiktion entgegensteht, wegen der besonderen Konstellation im vorliegenden Fall nicht entscheidend ankommt.


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