Medizinrecht

Leistungen, Krankenkasse, Arzt, Versorgung, Vertragsarzt, Beschwerde, Arbeitszeit, Bescheid, Disziplinarverfahren, Behandlung, Leistung, Rehabilitation, Sachleistung, Verletzung, eigene Kosten

Aktenzeichen  S 28 KA 116/18

Datum:
23.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 12199
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Die Weigerung eines Vertragsarztes, eine Versicherte wegen kapazitätsmäßiger Überlastung als Kassenpatientin zu behandeln und die stattdessen am selben Tag erfolgende Behandlung der Versicherten aufgrund Privatliquidation stellen einen Verstoß gegen das Sachleistungsprinzip sowie gegen die Vorschrift des § 128 Abs. 5a SGB V dar.

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Der Disziplinarbescheid vom 18.4.2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Anfechtungsklage liegen vor. Ein Vorverfahren war nicht durchzuführen (§ 81 Abs. 5 Satz 4 SGB V).
Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Disziplinarbescheid vom 18.4.2018 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids.
Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Insbesondere hat der Vorstand der Beklagten innerhalb von zwei Jahren ab Bekanntwerden der Verfehlung das Disziplinarverfahren eingeleitet (§ 18 Abs. 3 der Satzung der Beklagten).
Der Disziplinarbescheid vom 18.4.2018 ist auch materiellrechtlich nicht zu beanstanden.
Vorab weist das Gericht darauf hin, dass sich der Kläger vorliegend nicht auf das Urteil des AG K. vom 11.5.2017 berufen kann. Unabhängig davon, dass das Urteil einen anderen Streitgegenstand betrifft, erstreckt sich seine Rechtskraft nur auf die Parteien des zivilgerichtlichen Rechtsstreits (§ 325 ZPO); die hiesige Beklagte war dort nicht beteiligt.
Hinsichtlich des gerichtlichen Prüfmaßstabs gilt folgendes:
„Die gerichtliche Nachprüfung von Disziplinarmaßnahmen erfolgt in zwei Schritten. Das Vorliegen des schuldhaften Pflichtenverstoßes als tatbestandliche Voraussetzung ist uneingeschränkt nachprüfbar. Bei der Auswahl der Maßnahme steht den Disziplinarorganen ein Ermessensspielraum zu. Ergibt sich bei der gerichtlichen Nachprüfung von Pflichtverstößen, dass einige der bei der Verhängung der Maßnahme zugrunde gelegten Vorwürfe entfallen, so ist der Bescheid nicht rechtswidrig, wenn die übrigen Vorwürfe die ausgesprochene Maßnahme nach Art und Höhe und Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtfertigen und vom Disziplinarorgan dargelegte Ermessenserwägungen nicht entgegenstehen“ (Steinmann-Munzinger in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. (Stand: 15.06.2020), § 81 Rn. 98 m.w.N.).
Die Beklagte hat zutreffend festgestellt, dass der Kläger zumindest grob fahrlässig gegen das Sachleistungsprinzip verstoßen und unzulässig doppelt abgerechnet hat.
Nach dem Sachleistungsprinzip hat der Arzt seine Leistung als Sachleistung, das heißt für den Kassenpatienten gänzlich kostenfrei zu erbringen (BayLSG, Urteil vom 15.1.2014, Az. L 12 KA 91/13, Rn. 17).
Zur ärztlichen Behandlung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung gehören auch ärztliche Leistungen bei interkurrenten Erkrankungen während ambulanter Vorsorgeleistungen in anerkannten Kurorten sowie ambulant ausgeführte Leistungen, die während einer stationären Rehabilitation erforderlich werden und nicht mit dem Heilbehandlungsleiden im Zusammenhang stehen (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 BMV-Ä).
Es kann offenbleiben, ob im Fall der Versicherten W. B. ein Notfall i.S.d. § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V vorlag oder nicht. Unabhängig von der Frage der dringenden Behandlungsbedürftigkeit war die Versicherte am 21.9.2015 auf jeden Fall behandlungsbedürftig. Dies ergibt sich aus ihren damals unstreitig bestehenden Beschwerden (vgl. auch die klägerische Dokumentation: „Jucken, Rötung, Schwellung seit 17.9.“), aus dem Umstand, dass der Kläger eine Talgzyste am Augenlid der Versicherten entfernte sowie aus der Beschwerdebegründung der Versicherten, wonach im Anschluss an die Behandlung vom 21.9.2015 ein Nachsorgetermin beim Kläger vereinbart worden war.
Nach Überzeugung der Kammer hatte der Kläger die Pflicht, die Versicherte W. B. am 21.9.2015 zu behandeln. Gem. § 13 Abs. 7 Satz 3 BMV-Ä darf der Vertragsarzt, sofern kein Fall des § 13 Abs. 7 Sätze 1, 2 BMV-Ä vorliegt, die Behandlung eines Versicherten nur in begründeten Fällen ablehnen. Grundsätzlich kann eine kapazitätsmäßige Überlastung des Arztes einen derartigen begründeten Ablehnungsgrund darstellen (Trieb in Schiller (Hrsg.): Bundesmantelvertrag Ärzte, 2014, § 13 Rn. 33). Am Montag, den 21.9.2015, lag eine solche Überlastung beim Kläger jedoch entgegen seiner Behauptung nicht vor. Andernfalls hätte der Kläger keine Zeit gehabt, bei der Versicherten an diesem Tag eine – lt. Klägervortrag ausführliche – privatärztliche Behandlung inkl. kleinchirurgischen Eingriff vorzunehmen.
Indem der Kläger die von der Versicherten begehrte GKV-Behandlung am 21.9.2015 als privatärztliche Behandlung anbot und abrechnete, verstieß er gegen das Sachleistungsprinzip sowie gegen die Vorschrift des § 128 Abs. 5a SGB V. Diese lautet: Vertragsärzte, die unzulässige Zuwendungen fordern oder annehmen oder Versicherte zur Inanspruchnahme einer privatärztlichen Versorgung anstelle der ihnen zustehenden Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung beeinflussen, verstoßen gegen ihre vertragsärztlichen Pflichten.
Der Kläger kann sich auch nicht auf die Vertragsfreiheit berufen. Der Vertragsfreiheit steht die dem Kläger gegenüber der Versicherten W. B. obliegende Behandlungspflicht gem. § 13 Abs. 7 BMV-Ä entgegen. Über diese Behandlungspflicht hat der Kläger die Versicherte fehlerhaft informiert und somit unzulässig zur Unterzeichnung der Einverständniserklärung und Zahlung von 40,00 € „motiviert“. Auch im Übrigen kann die Kammer die vom Kläger verwendete Einverständniserklärung nicht nachvollziehen. Gegenstand der „vereinbarten“ privatärztlichen Behandlung war offensichtlich keine Zweitmeinung, sondern eine „Erstmeinung“ des Klägers zu den aktuellen Beschwerden der Versicherten. Aus den obigen Ausführungen ergibt sich auch eindeutig, dass es sich um eine GKV-Leistung und gerade nicht um eine individuelle Gesundheitsleistung (IGEL-Leistung) handelte. Schließlich widerspricht die gegenüber der Beklagten erfolgte Abrechnung (Ziffern 06212 und 02301 EBM) der Aussage der privatärztlichen „Einverständniserklärung“, wonach die vereinbarten Leistung(en) nicht mit der Krankenkasse der Versicherten abgerechnet werden könnten.
Dementsprechend liegen auch die Voraussetzungen des § 18 Abs. 8 Satz 3 Nr. 2 BMV-Ä nicht vor, wonach der Vertragsarzt von einem Versicherten eine Vergütung nur fordern darf, wenn und soweit der Versicherte vor Beginn der Behandlung ausdrücklich verlangt, auf eigene Kosten behandelt zu werden, und dieses dem Vertragsarzt schriftlich bestätigt. Es ist offensichtlich, dass ein solches ausdrückliches Verlangen der Versicherten vor Beginn der Behandlung nicht erfolgte. Indem der Kläger die Versicherte fehlerhaft über seine (tatsächlich bestehende) Behandlungspflicht sowie die Voraussetzungen und Rechtmäßigkeit einer Privatliquidation aufklärte und die (mögliche) Doppelabrechnung bei der Beklagten verschwieg, beeinflusste der Kläger die Versicherte auf unzulässige Weise dazu, ihr schriftliches Einverständnis zur Zahlung von 40,00 € für eine „Zweitmeinung“ zu geben (vgl. zum Ganzen auch Hesral in: Ehlers (Hrsg.), Disziplinarrecht für Ärzte und Zahnärzte, 2. Auflage 2013, Rn. 107ff. sowie auch BSG, Urteil vom 14.3.2001, Az. B 6 KA 67/00 R, Rn. 21 zum Ausnutzen einer Zwangssituation eines Patienten durch einen Arzt).
Die Beklagte hat auch zutreffend festgestellt, dass der Kläger die Behandlung der Versicherten W. B. unerlaubt doppelt abgerechnet hat. Die Privatliquidation sollte offensichtlich pauschal die gesamte Behandlung der Versicherten am 21.9.2015 umfassen; eine nähere Aufschlüsselung der einzelnen Leistungen (vgl. § 12 Abs. 2 GOÄ) erfolgte nicht. Infolgedessen ist die zusätzliche Abrechnung der Ziffern 06212 und 02301 EBM gegenüber der Beklagten als unzulässige Doppelabrechnung einzustufen.
Ein im Hinblick auf die festgestellten Pflichtverstöße des Klägers vorliegender Grundrechtsverstoß ist unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ersichtlich (vgl. auch BayLSG, ebenda, Rn. 19).
Der Kläger handelte auch schuldhaft. Die Beklagte ist zutreffend von einem zumindest grob fahrlässigen Verstoß gegen das Sachleistungsprinzip sowie von einer zumindest grob fahrlässigen unzulässigen Doppelabrechnung des Klägers ausgegangen. Unabhängig von seiner langjährigen vertragsärztlichen Tätigkeit hätte der Klägers spätestens aufgrund seines Disziplinarverfahrens aus dem Jahr 2012, das dem Urteil des BayLSG vom 15.1.2014, Az. L 12 KA 91/13, zugrunde lag und das ebenfalls u.a. einen Verstoß des Klägers gegen das Sachleistungsprinzip zum Gegenstand hatte, wissen müssen, dass er die von der Versicherten erwünschte Leistung hätte kostenfrei erbringen müssen. Auch hätte ihm bewusst sein müssen, dass die Abrechnung der Leistung sowohl als Privatleistung als auch über die Krankenversichertenkarte nicht rechtmäßig ist.
Die Kammer hat auch keine Zweifel, dass die verhängte Geldbuße i.H.v. 2.500,00 € verhältnismäßig und die ihr zugrundeliegende Entscheidung – auch unter Berücksichtigung des lt. Satzung der Beklagten zum Behandlungszeitpunkt am 21.9.2015 noch geltenden Höchstmaßes der Geldbußen i.H.v. 10.000,00 € – ermessensfehlerfrei ist. Die Beklagte hat zutreffend ausgeführt, dass der Kläger mit der Nichtübernahme der Behandlung sowie der Nichtbeachtung des Sachleistungsprinzips gegen eine elementare vertragsärztliche Pflicht verstoßen hat. Trotz mehrfacher Aufforderungen durch die Beklagte hat er sich geweigert, den Betrag von 40,00 € an die Versicherte zurückzuzahlen und damit keine Einsicht in sein pflichtwidriges Verhalten gezeigt. Erschwerend hat die Beklagte berücksichtigt, dass der Kläger bereits disziplinarrechtlich in Erscheinung getreten ist und es bereits der zweite Verstoß des Klägers gegen das Sachleistungsprinzip war. Zu Gunsten des Klägers hat die Beklagte in ihre Entscheidung eingestellt, dass es sich um einen geringfügigen Betrag handelte und die vorliegende Pflichtverletzung einen singulären Behandlungsfall betroffen habe. Ob allerdings letztere Erwägung zu Gunsten des Klägers in die Ermessensentscheidung einzustellen war, lässt das Gericht offen. Die Aussage des Klägers in seinem Telefax vom 1.12.2015, sie böten, insbesondere wenn der Patient im laufenden Quartal schon in vertragsaugenärztlicher Behandlung gewesen sei, an, das Ganze zunächst als „Zweitmeinung“ laufen zu lassen, spricht eher dafür, dass die Privatliquidation der GKV-Leistung bei der Behandlung der Versicherten W. B. kein Einzelfall gewesen ist.
Nach alledem ist der streitgegenständliche Disziplinarbescheid der Beklagten hinsichtlich der Auswahl und der Festsetzung der Höhe der Maßnahme ermessensfehlerfrei.
Die Klage war daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.


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