Medizinrecht

Medizinische Notwendigkeit zahnärztlicher Behandlung

Aktenzeichen  8 U 861/17

Datum:
30.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 34020
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG § 14, § 192 Abs. 1, Abs. 2
MB/KK 94 § 1 Abs. 1 lit. a
BGB § 630a Abs. 1, § 138
GOZ aF § 2 Abs. 1, Abs.  2, § 5 Abs. 1 S. 1, § 10 Abs. 3 S. 1

 

Leitsatz

1. Hat der Versicherungsnehmer einer privaten Krankheitskostenversicherung mit dem ihn behandelnden Arzt eine schriftliche Vereinbarung über von der Gebührenordnung abweichende Gebührensätze geschlossen, muss das Überschreiten des durchschnittlichen Steigerungssatzes in der Abrechnung nicht gesondert begründet werden (Anschluss an OLG Köln BeckRS 2020, 13559 Rn. 38; LG Düsseldorf BeckRS 2011, 26123). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Behauptet der Versicherer ein auffälliges Missverhältnis iSv § 192 Abs. 2 VVG, bedarf es der konkreten Darlegung, dass das abgerechnete Entgelt deutlich über dem üblichen Wert der jeweils erbrachten Leistung liegt (Anschluss an OLG Köln BeckRS 2020, 13559 Rn. 32). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

8 O 6848/12 2017-04-06 Urt LGNUERNBERGFUERTH LG Nürnberg-Fürth

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 06.04.2017, Az. 8 O 6848/12, wie folgt abgeändert:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 6.378,93 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23.09.2019 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten beider Rechtszüge hat die Beklagte zu tragen.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 6.433,71 € festgesetzt.

Gründe

II.
Die zulässige Berufung hat überwiegend Erfolg und führt in diesem Umfang zur Abänderung des erstinstanzlichen Urteils.
1. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen vertraglichen Erstattungsanspruch aus § 192 Abs. 1 VVG, § 1 Abs. 1 Buchst. a) MB/KK 94 in Höhe von 6.378,93 €. Insoweit ist die Klage begründet.
a) Aus den im Hinweis- und Beweisbeschluss des Senats vom 20.11.2017 dargelegten Gründen beruhte das angefochtene Urteil des Landgerichts auf einem Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1 ZPO) und das Berufungsgericht war abweichend von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht an die tatsächlichen Feststellungen der ersten Instanz gebunden.
b) Die vom 24.03.2011 bis 27.07.2011 bei dem Kläger von dem Zahnarzt … durchgeführte Heilbehandlung war medizinisch notwendig im Sinne der genannten Anspruchsgrundlage.
aa) Dem Kläger als Versicherungsnehmer oblag der Beweis, dass die sich aus der Rechnung vom 03.08.2011 (Nr. 25222/6308; Anlage K 7) ergebenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen nach objektiven medizinischen Befunden und Erkenntnissen im Zeitpunkt ihrer Vornahme vertretbar waren (vgl. BGH, Beschluss vom 28.04.2004 – IV ZR 42/03, NJW-RR 2004, 1399). Nicht erforderlich ist, dass die gewählte Behandlungsmethode wissenschaftlich zweifelsfrei anerkannt wird. Insoweit ist wegen der Besonderheiten der Medizin und dem Fortschreiten ihrer Erkenntnisse einerseits und der Unsicherheiten bei der Diagnostik anderseits ein Behandlungskorridor eröffnet (vgl. Prölss/Martin/Voit, VVG, 30. Aufl., § 192 Rn. 61). Ebenso wenig besteht ein Grundsatz, dass nur die kostengünstigere Behandlung notwendig ist, denn die gesetzlichen und vertraglichen Regelungen stellen nicht auf die wirtschaftliche Notwendigkeit ab (vgl. BGH, Urteil vom 12.03.2003 – IV ZR 278/01, NJW 2003, 1596, 1599).
bb) Den notwendigen Beweis hat der Kläger erbracht. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht mit der erforderlichen Gewissheit fest, dass die zahnmedizinischen Maßnahmen zur Behandlung der Erkrankung des Klägers geeignet und erforderlich waren.
Dies ergibt sich aus dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen …. Der Sachverständige, Zahnarzt und Direktor der zahnmedizinischen Abteilung des Universitätsklinikums … gelangte anhand des ihm vom Senat vorgegebenen rechtlichen Rahmens sowie nach persönlicher Auswertung der umfangreichen und detaillierten Behandlungsdokumentation (einschl. Röntgenbildern, Modellen und Fotos) zu dem in jeder Hinsicht nachvollziehbaren Ergebnis, dass die streitgegenständlichen Behandlungsmaßnahmen medizinisch geboten waren. Er hat im Rahmen der mündlichen Anhörung am 12.10.2020 im Einzelnen dargelegt, woraus sich die Behandlungsbedürftigkeit ergeben hat und dass die konkreten Befunde zweifelsfrei festzustellen waren. Auf Vorhalt hat der Sachverständige Art und Umfang einzelner geltend gemachter Zahnbehandlungen aus medizinischer Sicht als plausibel bezeichnet. Er hat auch ausgeführt, dass der behandelnde Arzt … offensichtlich ein umfassenderes Behandlungskonzept verfolgt habe, welches auch mit ausgiebigen Untersuchungen zu Kopfschmerzen, Verspannungen, Bisslage und Okklusion verbunden war. Der behandelnde Zahnarzt habe sehr gründlich und akribisch gearbeitet. Einzelne Behandlungs- und Befunderhebungsmaßnahmen seinen jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer Vornahme üblich gewesen und daher fachlich nicht zu beanstanden.
Ansatzpunkte für eine fehlende medizinische Notwendigkeit ergaben sich für den Sachverständigen zu keiner der streitgegenständlichen Rechnungspositionen. Dieser Einschätzung des Sachverständigen … gegen dessen Fachkunde keinerlei Bedenken bestehen, schließt sich der Senat nach eigener Überzeugungsbildung an.
c) Der behandelnde Zahnarzt … hatte einen wirksamen und fälligen Vergütungsanspruch gegen den Kläger (§ 630a Abs. 1 BGB n.F.), so dass die hierauf geleistete Zahlung im zuerkannten Umfang zu erstatten ist.
aa) Eine formell ordnungsgemäße Abrechnung der zahnärztlichen Vergütung liegt vor (§ 10 Abs. 1 und 2 GOZ a.F.). Die Rechnung Nr. 25222/6308 vom 03.08.2011 (Anlage K 7) enthält Gebühren bis zum gesetzlichen Höchstgebührensatz von 3,5 (§ 5 Abs. 1 Satz 1 GOZ a.F.). Bis zu diesem Höchstsatz sind zahnärztliche Leistungen gemäß Ziffer 5.1.2 der Tarifbedingungen „VE“ erstattungsfähig.
Soweit hinsichtlich einzelner Abrechnungspositionen der durchschnittliche Gebührensatz von 2,3 (§ 5 Abs. 2 Satz 4 GOZ a.F.) überschritten worden ist, bedurfte es gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 GOZ a.F. grundsätzlich der schriftlichen Begründung. Allerdings hatte der Kläger mit dem behandelnden Arzt am 24.03.2011 eine schriftliche Vereinbarung über abweichende Gebührensätze geschlossen (§ 2 Abs. 1 und 2 GOZ a.F.). Das Überschreiten des durchschnittlichen Steigerungssatzes musste daher in der Abrechnung nicht gesondert begründet werden (vgl. OLG Köln, Urteil vom 14.01.2020 – 9 U 39/19, juris Rn. 37; LG Düsseldorf, BeckRS 2011, 26123; Laux, juris-PR-VersR 10/2014 Anm. 4). Gegen die Wirksamkeit dieser Vereinbarung bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Dies gilt auch, soweit die in der Vereinbarung enthaltenen Steigerungssätze zum Teil deutlich über dem gesetzlichen Höchstsatz liegen. Angesichts der gutachterlich festgestellten hohen Qualität der durchgeführten Behandlung und des damit verbundenen überdurchschnittlichen zeitlichen Aufwandes erscheinen die vereinbarten Steigerungssätze nicht gänzlich unangemessen und begründen nicht den Einwand der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB). Unstreitig handelte es sich um eine besonders schwierige Zahnbehandlungsmaßnahme. Sonstige substantielle Einwendungen gegen die genannte Honorarvereinbarung hat die Beklagte nicht vorgebracht. Sie hat die Wirksamkeit allenfalls „ins Blaue hinein“ – und damit prozessual unbeachtlich – bestritten.
bb) Soweit die Beklagte die Abrechnungsfähigkeit einzelner Positionen bestritten hat, ist diese nach Durchführung der Beweisaufnahme zu bejahen. Der Sachverständige … hat zwar erklärt, dass er „kein Abrechnungsspezialist“ sei. Es hat sich jedoch gezeigt, dass er auch zu Fragen der GOZ/GOÄ über ausreichende Sachkunde verfügt. Der Sachverständige hat bestätigt, dass die Abrechnung auch inhaltlich nicht zu beanstanden ist. Dies gilt vor dem Hintergrund des Behandlungskonzepts namentlich für die Abrechnung der Mehrschicht- und Aufbaufüllungen sowie des Kurzzeitprovisoriums, ferner für die üblicherweise unter Nr. 203 GOZ a.F. zu fassenden Maßnahmen, die Gingivektomie und die funktionsanalytischen Befunde. Auch die Abrechnung unter Nr. 298 GOÄ a.F. erschien dem Sachverständigen plausibel. Zusammenfassend hat er – jeweils auf Vorhalt – den Sachvortrag des Klägers bestätigt, den dieser mit seinem Replikschriftsatz vom 31.01.2013 (dort Seiten 11 bis 18) gehalten hat. An dieser überzeugenden Einschätzung zu zweifeln, besteht kein Anlass.
cc) Ohne Erfolg bestreitet die Beklagte die Rechtfertigung eines über das 2,3-fache hinausgehenden Steigerungssatzes. Dieses pauschale Bestreiten genügt nicht ansatzweise dem Sachvortrag, der der Beklagten im Rahmen des § 192 Abs. 2 VVG oblag. Es mangelt insbesondere an der erforderlichen konkreten Darlegung, dass das abgerechnete Entgelt deutlich über dem üblichen Wert der jeweils erbrachten Leistung liegt (vgl. OLG Köln, Urteil vom 14.01.2020 – 9 U 39/19, juris Rn. 28 ff.; Bach/Moser/Kalis, Private Krankenversicherung, 5. Aufl., MB/KK § 5 Rn. 129 f.). Mangels derartigen Sachvortrags war hierzu kein weiteres Sachverständigengutachten zu erholen.
d) Die geltenden Tarifbedingungen sehen unter Ziffer 6 grundsätzlich einen Erstattungsprozentsatz von 100 % vor. Lediglich für Zahnersatz sowie für funktionsanalytische und funktionstherapeutische Leistungen ist die Erstattung auf 80 % der Kosten beschränkt. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann die genannte Klausel aus der Sicht eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers allerdings nicht dahin verstanden werden, dass auch die Kosten für das Herstellen einer sog. Aufbaufüllung nur zu 80 % erstattet werden. Insoweit fehlt es an der für eine Beschränkung des Versicherungsschutzes gebotenen Deutlichkeit.
Der Rechnungsbetrag von 6.629,12 € ist daher zunächst in der vom Kläger mit Schriftsatz vom 03.04.2013 beschrieben Weise um 195,41 € zu reduzieren. Darüber hinaus sind in der Laborrechnung vom 03.08.2011 die Positionen „Langzeitprovisorium“ und „Bearbeitung Kronenrand“ im Zusammenhang mit einem Zahnersatz zu sehen. Daher ist eine weitere Reduzierung um 54,78 € veranlasst. Hieraus ergibt sich die zuerkannte Klageforderung.
e) Dass der vertraglich vereinbarte jährliche Selbstbehalt des Klägers von 2.000 € (Ziffer 7 der Tarifbedingungen) bei dem hier maßgeblichen Versicherungsfall ganz oder teilweise in Abzug zu bringen ist, hat die Beklagte nicht vorgebracht.
f) Der Erstattungsanspruch ist schließlich auch fällig (§ 14 Abs. 1 VVG). Es ist nicht ersichtlich, welche weiteren Erhebungen seitens der Beklagten noch notwendig sind bzw. warum diese noch nicht beendet werden konnten. Im Zuge der vom Senat durchgeführten parteiöffentlichen (§§ 525, 357 ZPO) Beweiserhebung hat die Beklagte von den umfangreichen Behandlungsunterlagen Kenntnis nehmen und alle erforderlichen Feststellungen treffen können.
g) Auf den streitgegenständlichen Versicherungsfall sind seitens der Beklagten noch keine (Abschlags-)Zahlungen an den Kläger geleistet worden. Dies haben die Parteien auf klarstellende Nachfrage des Senats übereinstimmend erklärt. Die aus Anlage K 3 ersichtliche Zahlung betrifft einen anderen Versicherungsfall.
2. Die Klageforderung ist gemäß §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 BGB zu verzinsen. Der Verzugseintritt setzt allerdings die Fälligkeit der Forderung voraus (vgl. BeckOK-BGB/Lorenz, § 286 Rn. 4 [Stand: 01.08.2020]). Dies war, wie das Landgericht zutreffend und mit überzeugenden Gründen festgestellt hat, im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung in erster Instanz noch nicht der Fall. Auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (LGU 5-7), denen sich der Senat anschließt, wird zu Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. Fälligkeit i.S.v. § 14 Abs. 1 VVG ist jedoch mit Ablauf der nach Zustellung des schriftlichen Sachverständigengutachtens gemäß §§ 525, 411 Abs. 4 ZPO gesetzten Frist eingetreten, mithin am 22.09.2019. Die Verzinsung beginnt daher am Folgetag.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97 Abs. 1, 269 Abs. 3 Satz 2, 92 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Ob die Beklagte – wie im Schriftsatz vom 09.11.2020 reklamiert – keine Veranlassung zur Klage gegeben hat, ist hierbei unmaßgeblich. Diese Frage würde nur für § 93 ZPO eine Rolle spielen, der hier jedoch nicht einschlägig ist.
Im Übrigen ist für Billigkeitserwägungen im Rahmen der §§ 91 ff. ZPO kein Raum. Vielmehr gilt das Prinzip des formellen Unterliegens (vgl. BeckOK-ZPO/Jaspersen, § 91 Rn. 11 ff. [Stand: 01.09.2020]).
4. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
5. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Der Streitfall wirft keine noch ungeklärten Fragen auf, die nach einer höchstrichterlichen Entscheidung verlangen.
6. Die Festsetzung des Streitwertes erfolgte gemäß §§ 47 Abs. 1 und 2, 48 Abs. 1 GKG.
verkündet am 30.11.2020


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