Sozialrecht

Einhaltung der Jahresfrist zur Aufhebung der Leistungsbewilligung

Aktenzeichen  L 11 AS 788/18 B PKH

Datum:
4.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 22398
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 45
SGG § 73a
ZPO § 114

 

Leitsatz

Die Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X beginnt regelmäßig nach erfolgter Anhörung zu laufen, es sei denn, es hat zu einem vorhergehenden Zeitpunkt bereits eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger (äußerer und innerer) Tatsachen bestanden. (Rn. 12)

Verfahrensgang

S 15 AS 592/17 PKH 2018-06-27 Bes SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 27.06.2018 wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II -Alg II-) gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und die Erstattung überzahlter Leistungen in Höhe von 11.004,91 €.
Die Klägerin bezog Alg II ohne Angabe einer bestehenden Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Partner (zuletzt Bescheid vom 07.04.2016: Vorläufige Leistungsbewilligung vom 01.05.2016 bis 31.10.2016).
Nach Hinweisen auf einen Leistungsmissbrauch wegen Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft hob der Beklagte die Bewilligung für die Zukunft ab 01.05.2016 mit Bescheid vom 13.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2016 auf. Wegen des Bestehens einer Bedarfsgemeinschaft stehe ihr nur 50% der Unterkunfts- und Heizungskosten zu und beide Personen der Bedarfsgemeinschaft müssten einen Antrag stellen. Klage hiergegen hat die Klägerin nicht erhoben.
Auf Nachfrage beim Vermieter insbesondere zum Originalmietvertrag legte dieser am 16.06.2016 einen bisher dem Beklagten nicht bekannten, von der Klägerin und ihrem Partner unterschriebenen Mietvertrag vor, der dem von der Klägerin vorgelegten nicht entsprach. Nach Anhörung vom 22.05.2017 hob der Beklagte mit Bescheid vom 07.06.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2017 die Leistungsbewilligung für die Vergangenheit teilweise auf und forderte die Erstattung überzahlter Leistungen in Höhe von 11.004,91 € von der Klägerin. Die Jahresfrist für die Aufhebung habe frühestens mit Vorlage des Originalmietvertrages am 16.06.2016 zu laufen begonnen.
Die Klägerin hat beim Sozialgericht Nürnberg (SG) die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) für eine dagegen zu erhebende Klage begehrt. Die Jahresfrist zur Aufhebung der Bewilligung sei nicht eingehalten worden.
Bereits mit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 02.06.2016 habe sichere Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rücknahme der bewilligten Leistungen beim Beklagten bestanden, so dass die Aufhebung spätestens am 02.06.2017 hätte erfolgen müssen. Mit Beschluss vom 27.06.2018 hat das SG den Antrag auf Bewilligung von PKH abgelehnt. Zwar sei für den Beginn der Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) regelmäßig auf die Anhörung abzustellen, die erforderlich sei, um das Vorliegen der Voraussetzungen des subjektiven Tatbestandes aufzuklären, wobei vorliegend zwischen der Aufhebung für die Zukunft und der Aufhebung für die Vergangenheit zu unterscheiden sei. Als frühestmöglicher Zeitpunkt einer sicheren Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufhebung käme allenfalls der Zeitpunkt der Vorlage des Originalmietvertrages am 16.06.2016 in Betracht. Aber selbst dann wäre die Jahresfrist vom Beklagten eingehalten worden.
Dagegen hat die Klägerin Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht (LSG) erhoben. Sichere Kenntnis habe vor dem 16.06.2016 bestanden, denn der Beklagte habe die Bewilligung für die Zukunft bereits mit Bescheid vom 13.04.2016 aufgehoben, sei also schon am 12.04.2016 vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine Rücknahme ausgegangen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist nicht begründet. Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überspannt werden. Es reicht für die Prüfung der Erfolgsaussicht aus, dass der Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.1998 – B 13 RJ 83/97 R – SozR 3-1500 § 62 Nr.19). Diese gewisse Wahrscheinlichkeit ist in aller Regel dann anzunehmen, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Beteiligten aufgrund der Sachverhaltsschilderung und der vorgelegten Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit des Obsiegens des PKHBeantragenden ebenso wahrscheinlich ist wie sein Unterliegen (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. § 73a Rn.7ff.).
Schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen sind nicht im PKH-Verfahren zu entscheiden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.07.1993 – 1 BvR 1523/92 – NJW 1994, 241f). PKH muss jedoch nicht schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als „schwierig“ erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990 – 2 BvR 94/88 (Rn. 29) – BVerfGE 81, 347ff). Ist dies dagegen nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der unbemittelten Partei wegen der fehlenden Erfolgsaussichten ihres Begehrens PKH vorzuenthalten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.02.2008 – 1 BvR 1807/07 – NJW 2008, 1060ff).
Vorliegend besteht keine solche hinreichende Erfolgsaussicht. Selbst wenn nicht auf den Zeitpunkt des Ablaufes der Anhörungsfrist abzustellen sein sollte, wobei regelmäßig erst hierdurch die inneren Tatbestandsmerkmale (Bösgläubigkeit) abschließend ermittelt werden können (vgl. Vogelsang in Hauck/Noftz, SGB X, Stand April 2018, § 45 Rn. 147 und 152 ff; BSG, Urteil vom 27.07.2000 – B 7 AL 88/99 R – veröffentlicht in Juris) – der Beklagte hat im streitgegenständlichen Verfahren die Bösgläubigkeit der Klägerin bereits bei der Aufhebung für die Zukunft mit Bescheid vom 13.04.2016 angenommen und weitere Ermittlungen nicht für erforderlich gehalten; er ist also bereits zu diesem Zeitpunkt vom Vorliegen der Bösgläubigkeit ausgegangen (dazu vergleichbar: BSG, Urteil vom 06.04.2006 – B 7a AL 64/05 R – veröffentlicht in Juris) – ist die Jahresfrist vom Beklagten eingehalten worden. Es ist dann nämlich der Zeitpunkt der Kenntnisnahme des Originalmietvertrages am 16.06.2016 entscheidend, denn erst hierdurch war für den Beklagten mangels vernünftiger, objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen gegeben (vgl. dazu: BSG, Urteil vom 27.07.2000 aaO, Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, § 45 Rn. 83). Erst zu diesem Zeitpunkt stand klar und eindeutig fest, dass die Wohnung von Anfang an von der Klägerin und ihrem Partner angemietet worden war und nur eine Neben- und Betriebskostenabrechnung anfiel, obwohl der Beklagte nach den vorgelegten Unterlagen von unterschiedlichen Mietverträgen und Nebenkostenabrechnungen ausgegangen war. Diese Erkenntnisse waren für die Aufhebung für die Zukunft mit Bescheid vom 13.04.2016 nicht erforderlich gewesen, denn für die Zukunft stand nach den aktuellen Kenntnissen klar und eindeutig fest, dass die Klägerin und ihr Partner in dieser Wohnung zusammenwohnten und sich die vorgelegten Mietvertrage auf diese Wohnung bezogen. Somit kann hinsichtlich der Aufhebung für die Vergangenheit mit Bescheid vom 07.06.2017 nicht davon ausgegangen werden, dass bei Erlass des Bescheides vom 13.04.2016 bereits alle Erkenntnisse für eine Aufhebung für die Vergangenheit vorgelegen haben. Damit aber erlangt die von der Klägerin angeführte Rechtsprechung des SG Heilbronn (Urteil vom 24.11.2010 – S 7 AL 2628/07 – veröffentlicht in Juris) keine Bedeutung, denn zwischen der Erkenntnis hinsichtlich der Rücknahmemöglichkeit am 16.06.2016 und der Anhörung mit Schreiben vom 22.05.2016 lag kein ganzes Jahr.
Im Ergebnis hat der Beklagte den Aufhebungsbescheid vom 07.06.2017 noch innerhalb der Jahresfrist erlassen, auch wenn er nicht beachtet hat, dass für die (kurzfristig) erforderliche Einstellung der Leistung für die Zukunft nach Erkenntnissen von einer Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung § 40 Abs. 2 SGB II i.V.m. § 331 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) die erforderliche Rechtsgrundlage bietet, eine (vorschnelle) Aufhebung somit nicht erforderlich ist. Auf die Frage, ob die Aufhebung für die Zukunft rechtmäßig gewesen ist, war allerdings vorliegend nicht weiter einzugehen.
Nachdem die Klägerin lediglich die Einhaltung der Jahresfrist moniert, bestehen am Vorliegen der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen wie auch der inneren Tatsachen für eine Rücknahme derzeit keine Zweifel, so dass eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht erkennbar ist.
Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.
Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar (§ 177 SGG).


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