Sozialrecht

Trägererstattung bei rückwirkender Erwerbsminderungsrente

Aktenzeichen  S 23 R 31/21

Datum:
7.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30391
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB III § 112
SGB VI § 116 Abs. 3
SGB IX § 72 Abs. 1 Nr. 4
SGB X § 104, § 107

 

Leitsatz

1. Erwerbsminderungsrenten werden auf Übergangsgeld angerechnet, wenn sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf die Höhe des Übergangsgeldes nicht  ausgewirkt hat (hier: Berechnung aus vorherigem Krankengeld).  (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 116 Abs. 3 S. 1 SGB VI regelt wie § 107 Abs. 1 SGB X – ausschließlich die Erfüllung eines Anspruches des Versicherten.  (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin das für den Zeitraum vom 01.05.2020 bis 03.09.2020 gewährte Übergangsgeld in Höhe von 5.027,46 EUR zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.027,46 EUR festgesetzt.

Gründe

Das Sozialgericht Nürnberg ist sachlich und örtlich gemäß §§ 51, 57 SGG zuständig.
Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Abs. 1 SGG konnte ergehen. Die Beteiligten wurden dazu angehört. Die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt.
1. Der von der Klägerin mit Schriftsatz vom 14.01.2021 gestellte Antrag zu 1. war unter Berücksichtigung des bisherigen Vortrags dahingehend auszulegen, dass die Erstattung des von ihr gezahlten Übergangsgeldes in der Zeit vom 01.05.2020 bis 03.09.2020 in Höhe von 5.027,46 EUR, begrenzt auf den Zahlbetrag der Rente, begehrt wird (zur Auslegung von Anträgen vgl. Schmidt in: Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer/ Schmidt, SGG-Kommentar, 13. Auflage 2020, § 92, Rdnr. 12 m.w.N. und SG Karlsruhe, Urteil vom 14.07.2011, Az. S 11 R 5530/10).
Der Brutto-Betrag der Rente in Höhe von 1.353,608 EUR monatlich vermindert sich um die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung gemäß dem Schriftsatz der Beklagten vom 22.06.2021 auf einen Zahlbetrag in Höhe von 1.204,93 EUR für die Monate Mai und Juni 2020. Ab Juli 2020 beträgt der Zahlbetrag der Rente 1.246,48 EUR.
Insgesamt ergibt sich daher der mögliche Erstattungsbetrag in Höhe von 5.027,46 EUR (1.204,93 EUR x 2 Monate zuzüglich 1.246,48 EUR x 2 Monate zuzüglich 124,64 EUR (= Rentenzahlbetrag für 3 Tage)).
2. Die ordnungsgemäß und fristgerecht eingereichte Leistungsklage ist zulässig und begründet.
Der Klägerin steht gegenüber der Beklagten ein Erstattungsanspruch infolge des an den Versicherten im Zeitraum vom 01.05.2020 bis zum 03.09.2020 gewährten Übergangsgeldes i. H. v. 5.027,46 EUR zu.
Bei diesem Betrag handelt es sich um den Teil des Übergangsgeldes, das der Versicherte im Zeitraum vom 01.05.2020 bis 03.09.2020 tatsächlich bezog, begrenzt auf den Rentenzahlbetrag, und auf welches die Erwerbsminderungsrente – bei rechtzeitiger Bewilligung – anzurechnen gewesen wäre.
Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X). Nachrangig verpflichtet ist nach Satz 2 der Regelung ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre.
Diese Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind erfüllt. Denn die Klägerin war im Verhältnis zur Beklagten nachrangig zur Leistung verpflichtet, weil bei rechtzeitiger Bewilligung (und Zahlung) der Rente wegen Erwerbsminderung (Leistungsbeginn: 01.05.2020) von der Klägerin Übergangsgeld für den streitigen Zeitraum nur unter Anrechnung der Rente hätte gezahlt werden müssen.
Diese Anrechnung folgt – wovon die Klägerin zutreffend ausgeht – aus § 72 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX. Nach dieser Regelung werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf das Übergangsgeld angerechnet, wenn sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf die Höhe des Übergangsgeldes nicht ausgewirkt hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Nachdem die Klägerin die Höhe des Übergangsgeldes auf der Grundlage des Arbeitsentgeltes der vorbezogenen Leistung (Krankengeld) zugrunde legte (§ 69 SGB IX) und damit aus einem Einkommen, das vor Eintritt der Erwerbsminderung am 04.03.2019 lag, errechnet hatte, wirkte sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht auf die Höhe des Übergangsgeldes aus (dazu statt Vieler Jabben in: Neumann/ Pahlen/ Greiner/ Winkler/ Jabben, SGB IX, 14. Auflage 2020, § 72, Rdnr. 11).
Gerade aus dem Regelungsgehalt des § 72 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX (Anrechnung bei rechtzeitiger Leistungsbewilligung und deshalb gleichzeitigen Bezuges) folgt das Vorrang-/Nachrangverhältnis zwischen den Leistungen Übergangsgeld und Erwerbsminderungsrente (siehe generell bei fehlender ausdrücklicher gesetzlicher Verweisung auf § 104 SGB X Roos in: von Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 104 Rdnr. 6).
Ein Fall des § 103 Abs. 1 SGB X liegt nicht vor. Nach dieser Regelung ist ein für die entsprechende Leistung zuständiger Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein anderer Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise entfallen ist, soweit der eigentlich zuständige Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Einen Wegfall des Anspruches auf Übergangsgeld im Falle der Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ordnet das Gesetz nicht an (zum Anwendungsbereich des § 103 Abs. 1 SGB X siehe Kater in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, September 2020, § 103 SGB X, Rdnr. 8 ff.).
Da somit der Anspruch auf Übergangsgeld gegenüber dem von der Beklagten zu erfüllenden Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nachrangig ist, leistete die Klägerin an den Versicherten im Umfang der anzurechnenden Rente als vorrangiger Leistungsträger. Da die Beklagte die bewilligte Rente für den streitigen Zeitraum an den Versicherten nicht auszahlte, sind die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X erfüllt.
Auf eine Erfüllungsfiktion § 116 Abs. 3 Satz 1 SGB VI kann sich die Beklagte jedenfalls im Verhältnis zur Klägerin nicht berufen. Denn auch § 116 Abs. 3 Satz 1 SGB VI bewirkt lediglich eine dem § 107 Abs. 1 SGB X entsprechende Erfüllungsfiktion und entfaltet damit ausschließlich Wirkung gegenüber dem Versicherten und gerade nicht gegenüber der Klägerin. Dies ergibt sich bereits aus Wortlaut und Systematik der Regelung. Nach § 116 Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz SGB VI „gilt dieser Anspruch bis zur Höhe des gezahlten Übergangsgeldes als erfüllt.“ Der dort genannte Anspruch („dieser Anspruch“) kann sich gesetzessystematisch nur auf den in § 116 Abs. 3 Satz 1 erster Halbsatz SGB VI genannten Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit beziehen und gerade nicht auf einen Erstattungsanspruch eines anderen Sozialleistungsträgers (vgl. SG Karlsruhe, Urteil vom 14.07.2011, S 11 R 5530/10, juris Rdnr. 15; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.05.2014, L 10 R 5615/11; aus der Literatur: Pflüger in: Schlegel/ Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Auflage, § 116 SGB VI, Rdnr. 61). Damit regelt § 116 Abs. 3 Satz 1 SGB VI – wie § 107 Abs. 1 SGB X – ausschließlich die Erfüllung eines Anspruches des Versicherten. Vorliegend steht aber nicht ein Anspruch des Versicherten, sondern ein hiervon rechtlich unabhängiger, weil an eigenständige Voraussetzungen geknüpfter, Erstattungsanspruch der Klägerin im Raum.
Nach alledem steht der Klägerin gegenüber der Beklagten der geltend gemachte Erstattungsanspruch zu. Die Beklagte war demgemäß zu verurteilen, der Klägerin das im Zeitraum vom 01.05.2020 bis 03.09.2020 dem Versicherten gewährte Übergangsgeld, begrenzt auf den Rentenzahlbetrag i. H. v. 5.027,46 EUR zu erstatten.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 105 Abs. 1 Satz 3, 197a SGG i.V. m. §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und orientiert sich am Ergebnis in der Hauptsache.
Nach § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) ist der Streitwert grundsätzlich nach der sich aus dem Antrag der Klägerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Betrifft der Antrag der Klägerin eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, so richtet sich die Höhe des Streitwerts gemäß § 52 Abs. 3 GKG nach der Höhe dieser Geldleistung. Die Klägerin hat einen Erstattungsanspruch in Höhe von letztlich 5.027,46 EUR geltend gemacht. Der Streitwert war in dieser Höhe festzusetzen.
Gegen das Urteil ist das Rechtsmittel der Berufung nicht gegeben, da Streitgegenstand eine Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts ist, welche 10.000,00 EUR nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG). Ein Grund, die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, ist für das Gericht nicht ersichtlich. Die zur streitgegenständlichen Problematik vorhandene Rechtsprechung und die geltenden Vorschriften sind eindeutig.


Ähnliche Artikel

BAföG – das Bundesausbildungsförderungsgesetz einfach erklärt

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz, kurz BAföG, sorgt seit über 50 Jahren für finanzielle Entlastung bei Studium und Ausbildung. Der folgende Artikel erläutert, wer Anspruch auf diese wichtige Förderung hat, wovon ihre Höhe abhängt und welche Besonderheiten es bei Studium und Ausbildung gibt.
Mehr lesen

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben