Sozialrecht

Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung

Aktenzeichen  S 16 R 168/19

Datum:
14.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 55959
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI § 43

 

Leitsatz

Psychische Erkrankungen sind indes erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (vgl. z. B. Bayer. LSG, Urteil vom 15.11.2017, Az.: L 19 R 66/15). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 09.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2018 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
Der Bescheid vom 09.08.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.12.2018 ist rechtmäßig ergangen und verletzt den Kläger in seinen Rechten nicht. Der Kläger hat keinen Anspruch mehr auf die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Der Antrag auf Weitergewährung der Rente über den 31.10.2018 hinaus wurde daher zutreffend abgelehnt.
Gemäß § 43 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen wieder imstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Diese Beurteilung des Leistungsvermögens ergibt sich unter Berücksichtigung aller Einzelumstände des vorliegenden Falles und aus einer Gesamtschau der über den Gesundheitszustand des Klägers vorliegenden ärztlichen Unterlagen sowie insbesondere dem Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie J. vom 13.03.2020. Aufgrund der überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen J. ist die Kammer von einem vollschichtigen Leistungsvermögen des Klägers ab dem 01.11.2018 überzeugt.
Der Sachverständige J. hat in seinem Gutachten folgende Gesundheitsstörungen beim Kläger festgestellt:
1. Rezidivierend depressive Störung, gegenwärtig remittiert (ICD-10: F33.4)
2. Psychische und Verhaltensstörung durch Alkohol, Abhängigkeit, derzeit abstinent (ICD-10: F10.20)
3. Psychische und Verhaltensstörung durch Nikotin, Abhängigkeit (ICD-10: F17.24)
4. Degenerative Wirbelsäulenerkrankung ohne Nervenwurzelreizerscheinungen (ICD-10: M54).
Im Einzelnen hat der Sachverständige J. ausgeführt, dass zum Untersuchungszeitpunkt keine tiefergehende depressive Stimmungsauslenkung habe festgestellt werden können. Somit befinde sich die rezidivierend depressive Störung derzeit in Remission (ICD-10: F33.4). Für die jeweiligen depressiven Episoden scheine die narzisstische Persönlichkeitsstruktur und die Tendenz des Klägers, Konflikte nach außen zu projizieren, verantwortlich zu sein. Insofern handele es sich um eine neurotische Entwicklung, die sich schon in seiner frühen Jugend bei sehr strengem Erziehungsstil des Vaters und verwöhnender Haltung der Mutter manifestiert habe. Auf diesen Hintergrund habe der Kläger keine adäquaten Bewältigungs- und Konfliktstrategien erlernen und entwickeln können. Zum jetzigen Zeitpunkt scheine er in einer regressiven und inaktiven Haltung zu verharren, in der er sich belastungsgemindert fühle und deswegen unterstützt oder versorgt werden wolle, statt eigene aktive Verhaltensmuster zu mobilisieren.
Der Sachverständige hat ausgeführt, dass dem Kläger unter Berücksichtigung der oben angegebenen Gesundheitsstörungen zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch eine mindestens sechsstündige Tätigkeit zumutbar sei. Wegen der degenerativen Wirbelsäulenerkrankung sollten überwiegend leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten, ohne Körperzwangshaltungen oder besonderen Belastung der Lendenwirbelsäule durchgeführt werden. Tätigkeiten, bei denen der Kläger mit Alkohol in Kontakt kommen könnte, sollten bei Alkoholabhängigkeit vermieden werden. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sei gegenüber der sozialmedizinischen Beurteilung im Entlassungsbrief der Klinik B. und der I. keine abweichende sozialmedizinische Einschätzung vorgenommen worden. Eine Verschlechterung oder wesentliche Besserung der Abschlussbefunde der obigen Kliniken habe nicht festgestellt werden können. Die behandelnden Kollegen hätten schon eine gute Stabilisierung der psychischen Verfassung des Klägers attestiert. Eine Heilbehandlung scheine nicht indiziert zu sein. Dem Kläger sei dringend die regelmäßige Teilnahme an der Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke angeraten worden. Des Weiteren bedürfe er einer regelmäßigen ambulanten psychotherapeutischen Behandlung, die in den letzten Jahren nicht durchgeführt worden sei.
Die Kammer folgt der überzeugenden Beurteilung durch den Sachverständigen J.. Die Kammer hatte keinen Anlass an der Sachkunde des im Rentenrecht sehr erfahrenen Facharztes sowie an der Richtigkeit seiner Feststellungen zu zweifeln. Der Sachverständige stützt seine ausführlich und schlüssig begründeten Schlussfolgerungen nicht nur auf die eingehende Untersuchung des Klägers und die sorgfältige Befunderhebung, sondern auch auf die Auswertung der im Untersuchungszeitraum aktenkundigen ärztlichen Unterlagen. Für die Kammer überzeugend hat er die oben genannten Gesundheitsstörungen sowie die hieraus resultierenden Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Klägers festgestellt. Anhaltspunkte für eine unvollständige Befunderhebung oder eine unzutreffende Leistungsbeurteilung sind für die Kammer nicht ersichtlich. Die Ausführungen des Sachverständigen sind schlüssig, in sich widerspruchsfrei und überzeugend begründet.
Die Einwendungen des Klägers vermögen dagegen nicht zu überzeugen. Soweit der Kläger auf die Stellungnahme seines behandelnden Psychiaters Dr. H. vom 15.04.2020 verweist, so hat der Sachverständige J. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14.08.2020 überzeugend begründet, dass er ausführlich und differenziert die soziale und persönliche Entwicklung des Klägers dargestellt habe. Aus diesen Zusammenhängen habe er die entsprechenden Diagnosen, Therapieoptionen und die sich daraus ergebende sozialmedizinische Beurteilung abgeleitet. Die Fortführung der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung werde von ihm weiterhin empfohlen.
Weder die Ausführungen des behandelnden Arztes Dr. H. noch die Bescheinigung der den Kläger seit dem 21.04.2020 behandelnden Dipl.-Psychologin S. vom 29.09.2020, wonach beim Kläger ein Alkoholrückfall eingetreten sei, vermögen eine andere leistungsrechtliche Beurteilung des Klägers zu begründen. Es liegen keine objektivierbaren Befunde vor, die dazu führen, dass der Kläger nicht mehr sechs Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten kann. Das Vorliegen einer vollen oder zumindest teilweisen Erwerbsminderung ist damit nicht nachgewiesen.
Zudem ist auch nach Empfehlung der Dipl.-Psychologin ein stationärer Aufenthalt des Klägers dringend empfohlen. Psychische Erkrankungen sind indes erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant und stationär) davon auszugehen ist, dass ein Versicherter die psychischen Einschränkungen dauerhaft nicht überwinden kann – weder aus eigener Kraft, noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe (vgl. z. B. Bayer. LSG, Urteil vom 15.11.2017, Az.: L 19 R 66/15; zitiert nach juris).
Nach alledem ist der angefochtene Ablehnungsbescheid rechtmäßig ergangen. Die Klage war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.


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