Verwaltungsrecht

Beschwerde gegen einen sog. Hängebeschluss, Versammlungsverbot, Allgemeinverfügung (der Landeshauptstadt, München) vom 13.01.2022 zu Versammlungen im Zusammenhang mit Protesten gegen Corona-Maßnahmen

Aktenzeichen  10 CS 22.128

Datum:
18.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1929
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 146 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
GG Art. 19 Abs. 4

 

Leitsatz

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 17. Januar 2022 aufgehoben.

Gründe

I.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Antragsgegnerin gegen die vorläufige Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen Ziffern 1 und 2 der „Allgemeinverfügung vom 13.01.2022 zu Versammlungen im Zusammenhang mit Protesten gegen Corona-Maßnahmen“ der Antragsgegnerin (veröffentlicht im Internet unter www.muenchen.de/amtsblatt, in Rundfunk und Presse am 13. Januar 2022).
Diese lautet auszugsweise:
1. Im Stadtgebiet der Landeshauptstadt M. werden alle stationären oder sich fortbewegenden Versammlungen im Zusammenhang mit Protesten gegen Corona-Maßnahmen, wie beispielsweise sog. „Corona“-, „Montags“- oder sonstige „Spaziergänge“ bzw. „Kerzendemos“ untersagt, sofern die Anzeige- und Mitteilungspflicht nach Art. 13 BayVersG nicht eingehalten ist. Das bedeutet, dass sowohl das Veranstalten von als auch die Teilnahme an solchen Versammlungen verboten ist.
2. Ziffer 1 gilt an folgenden Tagen:
Samstag, den 15.01.2022, von 0.00 bis 24.00 Uhr
Montag, den 17.01.2022, von 0.00 bis 24.00 Uhr
Mittwoch, den 19.01.2022, von 0.00 bis 24.00 Uhr
Auf den Eilantrag des Antragstellers vom 17. Januar 2022 hat das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 17. Januar 2022 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffern 1 und 2 der Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 13. Januar 2022 bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag vom 17. Januar 2022 auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vorläufig angeordnet.
Zur Begründung wurde angegeben: Mit einer Zwischenentscheidung (sog. Hänge- bzw. Schiebebeschluss) im Rahmen eines anhängigen Eilrechtsschutzverfahrens könne das Gericht in Ausnahmefällen Regelungen für den Zeitraum zwischen dem Eingang des Eilantrags und der Entscheidung des Gerichts über diesen Antrag treffen, sofern dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG erforderlich sei. Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes sei ein solcher Beschluss (nur) zulässig und erforderlich, wenn die Entscheidungsreife für die vom Antragsteller beantragte Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage noch nicht gegeben sei, der Eilantrag nicht offensichtlich aussichtslos erscheine und aus Gründen eines wirksamen vorläufigen Rechtsschutzes zu Vermeidung irreversibler Zustände bzw. schwerer und unabwendbarer Nachteile nicht bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes abgewartet werden könne. Diese Voraussetzungen seien vorliegend zu bejahen. Die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Allgemeinverfügung seien nach summarischer Prüfung jedenfalls offen. Eine Interessenabwägung gehe zugunsten der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG aus.
Die Antragsgegnerin beantragt mit ihrer Beschwerde sinngemäß,
unter Aufhebung des Hängebeschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 17. Januar 2022 den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen.
Sie trägt vor, ihr sei die Antragsschrift des Antragstellers nicht zugeleitet worden. Im Übrigen werde auf den Sachvortrag im Verfahren M 33 S 22.185 verwiesen; das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht von offenen Erfolgsaussichten aus.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Unterlagen und Schriftsätze wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere ist gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts die Beschwerde gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthaft.
Bei dem Beschluss des Verwaltungsgerichts handelt es sich um eine sogenannte Zwischenentscheidung im Rahmen eines anhängigen Verfahrens auf vorläufigen Rechtsschutz (sog. „Hänge- oder Schiebebeschluss“). Derartige Entscheidungen dienen dazu, eine Regelung für den Zeitraum zwischen dem Eingang des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und der Entscheidung des Gerichts über diesen Eilantrag zu treffen, sofern dies zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG erforderlich erscheint. Die Zwischenentscheidung ist gemäß § 146 Abs. 1 VwGO mit der Beschwerde anfechtbar. Die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Beschwerdemöglichkeit nach § 146 Abs. 2 und 3 VwGO liegen insoweit nicht vor; insbesondere stellt der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts keine prozessleitende Verfügung im Sinne des § 146 Abs. 2 Alt. 1 VwGO dar (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2020 – 15 CS 20.3007 – juris Rn. 11; VGH BW, B.v. 14.10.2021 – 5 S 2503/21 – juris Rn 3 ff.; jew. m.w.N.).
2. Die Beschwerde ist begründet.
Das Beschwerdegericht hat bei der Beschwerde gegen einen Hängebeschluss grundsätzlich nur über diesen, nicht aber über die eigentliche Eilentscheidung zu befinden, die das Verwaltungsgericht auch noch gar nicht getroffen hat. Verfahrensgegenstand im Beschwerdeverfahren und allein entscheidungserheblich ist vielmehr, ob die Voraussetzungen für den Erlass eines Hängebeschlusses vorliegen (vgl. BayVGH, B.v. 17.12.2020 – 15 CS 20.3007 – juris Rn. 13; VGH BW, B. 14.10.2021 – 5 S 2503/21 – juris Rn. 7; jew. m.w.N.). Eine Entscheidung über den Eilantrag in der Sache durch den Senat ist dagegen nicht angezeigt.
Eine Zwischenentscheidung („Hängebeschluss“), wie sie das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 17. Januar 2022 getroffen hat, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Sie ist in der Verwaltungsgerichtsordnung nicht ausdrücklich vorgesehen; die VwGO geht davon aus, dass das Verwaltungsgericht das Verfahren grundsätzlich nach § 80 Abs. 5 VwGO so gestalten kann, dass vorläufiger Rechtsschutz in effektiver Weise gewährt werden kann. Nur wenn effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht anders gewährt werden kann, darf das Verwaltungsgericht einen Hängebeschluss erlassen. Die sich unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebende Befugnis eines Verwaltungsgerichts zum Erlass eines sog. Hängebeschlusses setzt zum einen eine Lage voraus, die einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage noch nicht zugänglich ist, mithin eine fehlende Entscheidungsreife hinsichtlich der vom Antragsteller beantragten Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die von ihm angegriffene Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin. Zum andern muss ein derartiges sofortiges „Vorab-Einschreiten“ des Gerichts unter Zurückstellung der eigentlich verfahrensabschließenden Entscheidung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO im Wege einer Interessenabwägung zur Vermeidung irreversibler Zustände bzw. schwerer und unabwendbarer Nachteile erforderlich sein (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 17.12.2020 – 15 CS 20.3007 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 14.12.2018 – 4 CE 18.2578 – juris Rn. 2; VGH BW, B. 14.10.2021 – 5 S 2503/21 – juris Rn. 9; BVerwG, B.v. 12.11.2020 – 4 VR 6.20 – juris Rn. 2; jew. m.w.N.).
Nach diesem Maßstab erweist sich der Hängebeschluss des Verwaltungsgerichts schon deswegen als nicht gerechtfertigt, weil die Beschlussgründe nicht erkennen lassen, aus welchen Gründen das Gericht fehlende Entscheidungsreife angenommen hat. Das gilt insbesondere mit Blick auf den parallel entschiedenen Eilrechtsschutzfall M 33 S 22.185, der dieselbe Allgemeinverfügung betrifft. Zudem fehlen auch Ausführungen, warum und zur Vermeidung welcher schwerer und unabwendbarer Nachteile für den Antragsteller die Entscheidung geboten war.
Der Hängebeschluss war daher aufzuheben. Soweit der Antrag der Antragsgegnerin auch die Ablehnung des Antrags auf aufschiebende Wirkung umfasst, ist die Entscheidung darüber dem noch ausstehenden abschließenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vorbehalten. Wie der Antragsteller in seiner Stellungnahme zu Recht darlegt, kann der Senat dieser Entscheidung nicht vorgreifen.
3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die durch das Beschwerdeverfahren entstandenen Kosten gehören zu den Kosten des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO, weil das vorliegende Verfahren – einschließlich des ihm zugeordneten Beschwerdeverfahrens – insoweit kein selbständiges Nebenverfahren beinhaltet (BayVGH, B.v. 17.12.2020 – 15 CS 20.3007 – juris Rn. 17).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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