Verwaltungsrecht

Beschwerde, Prozesskostenhilfe, Prozesskostenhilfeantrag, Bewilligung, Bescheid, Lebensunterhalt, Beiordnung, Verwaltungsgerichtshof, Verletzung, Ausschlussfrist, Gegenvorstellung, Klageverfahren, Auskunft, Verfahren, sofortige Beschwerde, Aussicht auf Erfolg, beabsichtigte Rechtsverfolgung

Aktenzeichen  98 F 20.1724

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 55693
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

I. Das Verfahren beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Az. 98 F 19.2483, wird fortgeführt.
II. Der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Juli 2020 (Az. 98 F 19.2483) wird abgeändert. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer hinsichtlich des Verfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg mit dem Az. RN 9 K 16.959 (später RN 9 K 19.897) bis zu einem Betrag von 500 Euro für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, bewilligt und Rechtsanwalt Dr. S1., Neumarkt, beigeordnet, wenn sie diese Klage binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses durch einen gemäß § 67 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 VwGO postulationsfähigen Bevollmächtigten beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erhebt.
III. Im Übrigen bleibt der Beschluss vom 14. Juli 2020 aufrechterhalten.

Gründe

1. Die von der Antragstellerin mit Schreiben vom 25. Juli 2020 erhobene sofortige Beschwerde, hilfsweise Anhörungsrüge und Gegenvorstellung, war insgesamt als Anhörungsrüge auszulegen, da sich die Antragstellerin auf die Verletzung rechtlichen Gehörs beruft. Eine Gegenvorstellung ist insoweit nicht (mehr) möglich.
Die Anhörungsrüge der Antragstellerin gemäß § 152a Abs. 1 VwGO ist begründet. Das Verfahren war gemäß § 152a Abs. 5 Satz 1 VwGO fortzuführen, da der Beschluss des Senats vom 14. Juli 2020 den Anspruch der Antragstellerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 91 Abs. 1 BV) verletzt.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ging in seinem Beschluss davon aus, dass der vollständige Prozesskostenhilfeantrag der Antragstellerin entsprechend dem angebrachten Eingangsstempel erst am 19. Dezember 2019 und damit nach Ablauf der Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG (am 18.12.2019) beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingegangen ist. Tatsächlich sind, wie die Verwaltung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs durch Auskunft der Deutschen Post AG ermittelt hat, die für einen vollständigen Prozesskostenhilfeantrag erforderlichen Belege bereits am 18. Dezember 2019 in das Postfach des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bei der Deutschen Post AG eingelegt worden und damit zugegangen (vgl. Schübel-Pfister in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 81 Rn. 19 m.w.N.). Da der Bayerische Verwaltungsgerichtshof der Antragstellerin mit Schreiben vom 20. Dezember 2019 bestätigt hat, dass ihr „Antrag“ am 18. Dezember 2019 eingegangen ist, hatte sie keine Veranlassung, vorzutragen, dass die erforderlichen Belege innerhalb der Ausschlussfrist in das Postfach des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bei der Deutschen Post AG eingelegt worden sind. Insoweit handelt es sich um eine Überraschungsentscheidung, die das rechtliche Gehör der Antragstellerin verletzt.
2. Der Beschluss des Senats vom 14. Juli 2020 ist hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer des im Tenor genannten Verfahrens abzuändern. Soweit die Antragstellerin in ihrer Anhörungsrüge auch das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Regensburg Az. RN 9 K 17.630 erwähnt, wurde ihr bereits mit Beschluss des Senats vom 14. Juli 2020 Prozesskostenhilfe bewilligt. Insoweit ist eine Abänderung auch nicht beantragt. Im Übrigen und hinsichtlich der weiteren Ablehnung von Prozesskostenhilfe war auszusprechen, dass der Beschluss vom 14. Juli 2020 aufrechtzuerhalten ist (§ 152a Abs. 5 Satz 4 VwGO i.V.m. § 343 ZPO analog).
Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinsichtlich des Verfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg mit dem Az. RN 9 K 16.959 (später RN 9 K 19.897) bestehen Erfolgsaussichten für die beabsichtigte Klage der Antragstellerin auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer im tenorierten Umfang. Die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ist durch die rechtzeitige Stellung des vollständigen Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gewahrt (vgl. oben Nr. 1).
a) Der Ablauf des Verfahrens, für das die Antragstellerin nunmehr Entschädigung begehrt, stellt sich wie folgt dar:
Die Klage wurde am 22. Juni 2016 erhoben. Das beklagte Studentenwerk hat am 7. Juli 2016 auf die Klage erwidert. Ebenfalls am 7. Juli 2016 erging ein Widerspruchsbescheid, der in Verbindung mit dem am 8. Juli 2016 ergangenen Änderungsbescheid der Klage teilweise abgeholfen hat. Am 17. Juli 2016 teilte die Antragstellerin auf Anfrage des Verwaltungsgerichts mit, dass die Klage als Verpflichtungsklage aufrechterhalten bleibe. Die angekündigte (weitere) Klagebegründung erfolgte am 9. August 2016. Nach Ergehen des Beschlusses vom 10. August 2016 im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Az. RN 9 E 16.958) hörte das Verwaltungsgericht mit Schreiben vom 12. August 2016 zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid an. Nach Klärung der Frage hinsichtlich einer etwaigen Klagerücknahme reichte die Antragstellerin unter dem 15. September 2016 eine weitere umfangreiche Begründung ein. Unter dem 17. Oktober 2016 aktualisierte die Antragstellerin ihre Angaben zu ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen.
Mit Schreiben vom 23. August 2017 forderte das Verwaltungsgericht die Antragstellerin auf, den Rechtsstreit insoweit für erledigt zu erklären, als der Klage durch den Bescheid vom 8. Juli 2016 abgeholfen wurde. Nachdem die Antragstellerin dies mit Schreiben vom 24. August 2017 abgelehnt, auf den ausstehenden Prozesskostenhilfebeschluss verwiesen sowie mit Schreiben vom 24. September 2017 eine Verzögerungsrüge erhoben hatte, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 8. November 2017 den gestellten Prozesskostenhilfeantrag für das Klageverfahren ab und teilte der Antragstellerin mit Schreiben vom 8. März 2018 mit, dass das Verwaltungsgericht den Ausgang des Beschwerdeverfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Az. 12 C 17.2421), das die Antragstellerin angestrengt hatte, abwarten werde. Am 19. September 2018 wurde das Verfahren statistisch erledigt. Nachdem der Bayerische Verwaltungsgerichtshof unter dem 15. Januar 2019 die Beschwerde der Antragstellerin zurückgewiesen hatte, hörte das Verwaltungsgericht die Beteiligten unter dem 20. Januar 2019 erneut zum Erlass eines Gerichtsbescheids (nunmehr unter dem Az. RN 9 K 19.897) an. Im Februar 2019 wurde zwischen der Antragstellerin und dem Verwaltungsgericht die Frage geklärt, ob die Klage bedingt, also abhängig von der Gewährung von Prozesskostenhilfe erhoben wurde. Nach einer weiteren Verzögerungsrüge der Antragstellerin vom 23. April 2019 wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 16. Mai 2019, der Antragstellerin zugestellt am 18. Mai 2019, die Klage ab.
b) Das Verfahren dauerte somit insgesamt vom 22. Juni 2016 bis 18. Mai 2019, also ca. 35 Monate. Entscheidungsreif wurde die Verwaltungsstreitsache Ende Oktober 2016, also ca. vier Monate nach Klageeingang. Das Verfahren war von überdurchschnittlicher tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeit, da eine Vielzahl von Fragen der Anrechnung oder Freistellung von Vermögensbestandteilen und Unterhaltsfragen im Rahmen der Ausbildungsförderungsgewährung zu beurteilen waren.
Die Bedeutung eines Verfahrens, das die Ausbildungsförderung betrifft, ist in der Regel groß, weil es insoweit um die Deckung des Lebensunterhalts und die Fortführung der begonnenen Ausbildung geht. Hier bestand allerdings die Besonderheit, dass es im Verfahren der Antragstellerin um die Anrechnung bzw. Freistellung von Vermögen ging, ihr Lebensunterhalt also vorläufig sichergestellt war. Zudem war der Klage teilweise abgeholfen worden. Insofern handelte es sich um ein Verfahren, das im normalen Turnus, also nach Eingang zu behandeln war, und weder vorgezogen werden musste noch hintangestellt werden durfte.
Dem Gericht ist ein Gestaltungsspielraum bei der Verfahrensführung zuzugestehen. Einerseits benötigt es eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und der Komplexität der Rechtssache angemessen ist; andererseits ist zu berücksichtigen, dass gleichzeitig eine Reihe weiterer Streitsachen zu bearbeiten und voranzutreiben ist. Angesichts dessen ist unter Berücksichtigung der hier vorliegenden Komplexität der Streitsache und der Bedeutung des Verfahrens für die Antragstellerin die Grenze des gerichtlichen Gestaltungsspielraums im Klageverfahren der Antragstellerin hier bei 16 Monaten erreicht, zumal die Entscheidungsreife der Streitsache relativ schnell eintrat. Erst dann entstand hier für die Antragstellerin unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls die erforderliche „gewisse Schwere der Belastung“ durch die Verfahrensdauer. Dies hat zur Folge, dass erst ab einer Gesamtverfahrensdauer von sechzehn Monaten eine entschädigungspflichtige Verfahrensverzögerung eingetreten ist. Daraus ergäbe sich eine unangemessene Dauer von 19 Monaten.
Es besteht hier allerdings die Besonderheit, dass das Verwaltungsgericht nach Einlegung der Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss über die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe an einer Entscheidung der Verwaltungsstreitsache durch Urteil gehindert war, weil erst im Beschwerdeverfahren beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geklärt werden musste, ob der Antragstellerin Prozesskostenhilfe und die Beiordnung der von ihr benannten Rechtsanwältin gewährt werden muss. Der Zeitraum von der Einlegung der Beschwerde bis zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde und damit auch eine etwaige unangemessene Dauer des Beschwerdeverfahrens kann insoweit auf die – unangemessene – Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens nicht angerechnet werden, weil das Verwaltungsgericht das Verfahren in dieser Zeit nicht fördern konnte.
Im Hinblick auf die Gesamtverfahrensdauer unter Einbeziehung der Prozesskostenhilfebeschwerde kann die Dauer des Beschwerdeverfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof nicht berücksichtigt werden, weil die Antragstellerin im Beschwerdeverfahren keine Verzögerungsrüge erhoben hat. Es bedarf jedoch einer erneuten Verzögerungsrüge, wenn sich das Verfahren bei einem anderen Gericht (hier: dem Beschwerdegericht) erneut verzögert (§ 198 Abs. 3 Satz 5 GVG). Die Antragstellerin hat zwar mehrmals beim zuständigen Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nachgefragt und auf die Eilbedürftigkeit hingewiesen, hat jedoch auch immer weitere Begründungen in der Sache vorgetragen und im Übrigen davon abgesehen, ausdrücklich eine Verzögerungsrüge zu erheben. Diese Schreiben der Antragstellerin, die ansonsten wohl als Verzögerungsrüge hätten gewertet werden können (vgl. z.B. BVerfG, KB.v. 17.12.2015 – 1 BvR 3164/13 – juris Rn. 31 ff.; BSG, U.v. 27.3.2020 – B 10 ÜG 4/19 – juris Rn. 28 u.a.), können hier nicht als eine solche ausgelegt werden, weil die Antragstellerin im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht in ganz anderer Weise, nämlich durch die ausdrückliche Bezeichnung als Verzögerungsrüge (jeweils in Großschrift) und den Hinweis auf § 198 GVG solche Rügen erhoben hat. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass sie beim zuständigen Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bewusst auf diese Rüge verzichtet hat. Eine objektive Auslegung gegen den angenommenen ausdrücklichen Willen der Antragstellerin ist nicht möglich (vgl. auch OVG NW, U.v. 17.9.2019 – 13 D 60/18.EK – juris Rn. 33 ff.; LSG Berlin-BBg, U.v. 24.1.2019 – L 37 SF 102/18 EK AS WA – juris Rn. 69 m.w.N.).
Die Beschwerdeeinlegung erfolgte hier am 27. November 2017; der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde wurde der Antragstellerin am 22. Januar 2019 zugestellt. Es haben daher vierzehn Monate Verzögerung außer Betracht zu bleiben.
Ausgehend von der Entscheidungsreife von vier Monaten nach Klageeingang, einem Gestaltungsspielraum des Verwaltungsgerichts von zwölf Monaten und dem Abschlag von vierzehn Monaten für die Dauer des Prozesskostenhilfebeschwerdeverfahrens ergibt sich damit eine Überlänge von fünf Monaten. Die Klage hat daher Erfolgsaussichten im Hinblick auf eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von 500 Euro.
3. Einer Kostenentscheidung bedarf es auch im Hinblick auf das Anhörungsrügeverfahren nicht (vgl. KV-Nr. 5400 der Anl. 1 zum GKG). Im Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren fallen weder Gerichtskosten an noch werden dem Gegner entstandene Kosten erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Daher ist auch eine Streitwertfestsetzung entbehrlich.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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