Verwaltungsrecht

Einstweiliger Rechtsschutz gegen vollständige Minderung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II

Aktenzeichen  L 11 AS 356/18 B ER

Datum:
24.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 12106
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 22
SGB II § 31
SGB II § 22, § 31, § 31a Abs. 1 S. 3, S. 4

 

Leitsatz

Keine Aussetzung der Vollziehung bei vollständiger Minderung der Leistungen, wenn die Interessenabwägung auch hinsichtlich der gesondert zu prüfenden KdU zu Ungunsten des Antragstellers ausfällt. (Rn. 14 – 18)

Verfahrensgang

S 10 AS 107/18 ER 2018-04-03 Bes SGWUERZBURG SG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde gegen Punkt I. und II. des Beschlusses des Sozialgerichts Würzburg vom 03.04.2018 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Streitig ist die vollständige Minderung des Anspruches auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II -Alg II-) gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 01.03.2018 bis 31.05.2018.
Der Antragsteller (ASt) bezieht Alg II (zuletzt Bescheid vom 26.10.2017 für die Zeit vom 01.12.2017 bis 31.05.2018), jedoch erfolgten wegen wiederholter Pflichtverletzungen bereits vollständige Minderungen (zuletzt Bescheid vom 24.11.2017 und 08.01.2018).
Auf den Vermittlungsvorschlag vom 29.01.2018 hin bewarb sich der ASt anonym beim angegebenen Arbeitgeber, habe aber nicht dessen Bitte vom 02.02.2018 um eine aussagekräftige Bewerbung (so Auskunft des potenziellen Arbeitgebers) entsprochen.
Mit Bescheid vom 20.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2018 lehnte der Antragsgegner (Ag) den Anspruch auf Alg II vollständig für die Zeit vom 01.03.2018 bis 31.05.2018 ab und hob die Bewilligung entsprechend auf. Der ASt habe sich zunächst nur anonym beworben und sei der Bitte des potenziellen Arbeitgebers um eine aussagekräftige Bewerbung nicht nachgekommen. Damit habe er die Anbahnung eines Beschäftigungsverhältnisses verhindert, ohne hierfür einen wichtigen Grund zu haben. Dagegen hat der ASt nach Auskunft des Ag Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben (S 10 AS 182/18), über die noch nicht entschieden worden sei.
Bereits am 07.03.2018 hat der ASt einstweiligen Rechtsschutz beim SG dahingehend begehrt, Alg II ungekürzt ab 01.03.2018 zu erhalten. Der potenzielle Arbeitgeber habe ihm mit E-Mail vom 19.02.2018 den Bewerbungseingang bestätigt und gebeten, die weitere Prüfung abzuwarten.
Das SG hat den Antrag des ASt als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ausgelegt und abgelehnt (Punkt I. und II. des Beschlusses vom 03.04.2018). Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des Minderungsbescheides sei nicht gegeben. Trotz schriftlicher Rechtsfolgenbelehrung habe der ASt die Anbahnung eines möglichen Arbeitsverhältnisses verhindert. Der vom ASt vorgelegte E-Mail-Verkehr sei nicht von außen prüfbar.
Der ASt hat dagegen Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) erhoben. Er habe sich bereits Anfang Januar 2018 bei dem potenziellen Arbeitgeber beworben und sich daher auf den einen Monat später erfolgten Vermittlungsvorschlag hin nur noch in Kurzform gemeldet, wobei er alle Unterlagen per Post direkt an die Arbeitsstelle in G. gesandt habe.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Akten des Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), aber nicht begründet. Das SG hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des ASt gegen den Bescheid vom 20.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2018 im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Streitgegenstand ist vorliegend allein die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 01.03.2018 bis 31.05.2018 infolge der Feststellung einer wiederholten Pflichtverletzung. Im Falle einer erfolgreichen Anfechtungsklage im Rahmen der Hauptsache würde der Minderungsbescheid samt Aufhebungsbescheid aufgehoben werden und der ASt könnte wieder die bereits bewilligten und nicht anderweitig aufgehobenen Leistungen beanspruchen.
Die Klage gegen den Bescheid vom 20.02.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2018 hat nicht bereits selbst aufschiebende Wirkung nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG. Diese tritt vorliegend nicht ein, da sich Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt richten, der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt bzw. die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruches feststellt (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG iVm § 39 Nr. 1 SGB II). In den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen (§ 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage ist nur möglich, wenn das besondere Interesse des ASt an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das vom Gesetz vorausgesetzte Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt, wobei bei der Prüfung der Interessen zuerst auf die Erfolgsaussicht in der Hauptsache abzustellen ist.
Unter Berücksichtigung des § 39 Nr. 1 SGB II ist von einem Regelausnahmeverhältnis zu Gunsten des Suspensiveffektes auszugehen, da der Gesetzgeber die sofortige Vollziehung zunächst angeordnet hat. Davon abzuweichen, besteht nur ab Anlass, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist (vgl. bereits Beschluss des Senates vom 18.11.2008 – L 11 B 948/08 AS ER). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme bleiben (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage, § 86b RdNr. 12c). Ist der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und ist der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird ausgesetzt, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse oder Interesse eines Dritten an der Vollziehung nicht erkennbar ist. Ist die Klage aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens und die Entscheidung des Gesetzgebers in § 39 Nr. 1 SGB II mitberücksichtigt werden (vgl. zum Ganzen: aaO RdNr. 12f; Beschluss des Senates aaO).
Vorliegend sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens derzeitig nicht eindeutig abschätzbar. Es ist offen, ob der ASt, wie er angibt, aussagekräftige Bewerbungsunterlagen direkt nach G. an die potenzielle Arbeitsstelle geschickt hat. Zudem ist offen, welche Bedeutung die Antwort des potenziellen Arbeitgebers an den ASt in der E-Mail vom 01.02.2018 sowie die E-Mail des potenziellen Arbeitgebers vom 19.02.2018 hat. Dies ist im Rahmen des noch anhängigen Hauptsacheverfahrens zu klären.
Nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II entfällt nach jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II das Alg II vollständig. Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde und nicht der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraumes länger als ein Jahr zurückliegt (§ 31a Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II). Bereits mit Bescheid vom 24.11.2017 wurde eine vollständige Minderung beim ASt festgestellt.
Eine solche weitere wiederholte Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres im Hinblick auf das Verhalten des ASt gegenüber dem potenziellen Arbeitgeber bei der Bewerbung kann jedoch derzeit noch nicht sicher festgestellt werden, denn es kann nach den vorliegenden Unterlagen durchaus in Betracht kommen, dass der potenzielle Arbeitgeber auf die anonyme Bewerbung hin den ASt zunächst mit E-Mail vom 01.02.2018 um ein Abwarten gebeten, danach aber mit E-Mail vom 02.02.2018 weitere Unterlagen gefordert und dann mit E-Mail vom 19.02.2018 den ASt wiederum um ein Abwarten der Entscheidung über die Bewerbung gebeten hat. Dies alles wird im Hauptsacheverfahren noch aufzuklären sein.
Im Hinblick auf die wegen der offenen Erfolgsaussicht vorzunehmende allgemeine Interessenabwägung muss zwischen den Leistungen für den Regelbedarf und denen für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung differenziert werden. Soweit es um den Regelbedarf geht, ist ein überwiegendes Interesse des ASt nicht erkennbar. Der Sanktionszeitraum betrifft die Zeit vom 01.03.2018 bis 31.05.2018 und ist nahezu abgelaufen. Der ASt erhielt durch den Ag Gutscheine zur Sicherung des existenziellen Bedarfes. Dass hier noch eine Beeinträchtigung gravierend fortwirkt, ist weder ersichtlich noch vorgetragen. Damit ist der gesetzlichen Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II der Vorzug zu geben. Eine aufschiebende Wirkung ist daher nicht anzuordnen.
In Bezug auf die Leistungen für Bedarfe der Unterkunft und Heizung kann unter Umständen anders gelten. Durch die Nichtgewährung der entsprechenden Leistungen infolge einer vollständigen Leistungsminderung kann der Fall eintreten, dass es dem Leistungsberechtigten nicht möglich ist, die Mietzinsforderungen des Vermieters zu bedienen und es kann zu Mietrückständen kommen. In Konsequenz könnte dann sogar der Verlust der Wohnung durch eine Kündigung des Vermieters drohen (§ 543 Bürgerliches Gesetzbuch). Auch ist bei Gewährung einstweiligen Rechtschutzes nicht erst abzuwarten, bis tatsächlich eine Räumungsklage vom Vermieter anhängig gemacht wird (vgl. dazu auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 01.08.2017 – 1 BvR 1910/12-).
Vorliegend ist jedoch der ASt mit dem Ag bereits in Verhandlungen wegen einer Mieterschuldenübernahme für den Zeitraum vom 15.01.2018 bis 30.04.2018 auf Darlehensbasis (§ 22 Abs. 8 SGB II), wobei der Ag nach einem Aktenvermerk vom 25.04.2018 einer solchen Darlehensgewährung positiv gegenübersteht. Damit aber überwiegen auch in Bezug auf die von der Minderung betroffenen Leistungen für Bedarfe der Unterkunft und Heizung im Zeitraum von März bis Mai 2018 nicht die Interessen des ASt an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage und es ist der gesetzlichen Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II der Vorzug zu geben. Eine aufschiebende Wirkung ist diesbezüglich nicht anzuordnen.
Damit war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).


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