Verwaltungsrecht

Familienflüchtlingsschutz

Aktenzeichen  Au 6 K 17.35193

Datum:
16.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 23571
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3a, § 4, § 26, § 77 Abs. 1 S. 1, § 83b
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3, Art. 15 Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 1 S.1
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4

 

Leitsatz

Tenor

I. Unter Aufhebung von Ziffern 1, 3 bis 6 ihres Bescheids vom 24. Oktober 2017 wird die Beklagte verpflichtet, der Klägerin zu 1 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu einem Viertel tragen, die Kläger zu drei Vierteln.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässigen Klagen sind nur teilweise begründet. Die Klägerin zu 1 hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Kläger zu 2 bis 4 haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 24. Oktober 2017 ist daher teilweise rechtswidrig und im Übrigen rechtmäßig und verletzt die Kläger nur teilweise in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); er ist daher im tenorierten Umfang aufzuheben:
1. Nur die Klägerin zu 1 hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassen-den Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 5, 8 – im Folgenden: Lagebericht). Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (Lagebericht ebenda S. 8; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wird Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 7; Lagebericht ebenda S. 8).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 189.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 117.000 Personen in Polizeigewahrsam genommen, darunter über 53.000 Personen in Untersuchungshaft. Über 154.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen; darunter wohl rund 107.000 Personen endgültig entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumt und mehrfach verlängert wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 12 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 9, 15, 31).
Der nach zwei Jahren am 18. Juli 2018 ausgelaufene Ausnahmezustand wurde zwar nicht mehr verlängert, aber zentrale Inhalte in Gesetzesform dauerhaft gesichert, insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 8).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 10 f.) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung hat die Klägerin zu 1 im Fall einer Rückkehr in die Türkei zu befürchten.
Aktuell liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. oben). Unklar ist dabei, nach welchen Kriterien türkische Behörden eine Person als „Anhänger“ einstuften. Türkische Behörden und Gerichte können eine Person bereits dann als solchen „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Mitglied der Gülen-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält, eine von der Bewegung betriebene Schule besucht hat oder im Besitz von Schriften Gülens ist. Als besonders starkes Indiz werden finanzielle Beziehungen von Personen zu Einrichtungen gewertet, die der Gülen-Bewegung nahe stehen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 11 – im Folgenden: Lagebericht). „FETÖ“ sei die Abkürzung für „Fethullah Gülen Terrororganisation“ und als Ausdruck ab dem Jahr 2013 aufgekommen, als die bis dahin eng mit der regierenden AKP zusammenarbeitende Gülen-Bewegung den ersten Aufstand geprobt und durch der Gülen-Bewegung angehörende Staatsanwälte und Richter gegen mehrere amtierende Minister wegen Bestechung und Bestechlichkeit Strafverfahren eingeleitet habe, was das große Zerwürfnis zwischen Gülen und dem damaligen Vorsitzenden der AKP Erdoğan hervorrief (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.).
Zum Stand August 2016 seien 35 Gesundheitseinrichtungen, 1.045 Bildungsinstitutionen, 104 Stiftungen, 1.125 Vereine, 15 Universitäten sowie 29 Gewerkschaften wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung geschlossen worden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Kurzinformation vom 4.8.2016, S. 1 m.w.N.) sowie insgesamt über 5.000 Vereinigungen einschließlich Menschenrechtsorganisationen (Lagebericht ebenda S. 10).
Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Ob bereits eine vermutete Gülen-Anhängerschaft ausreicht, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 36), hängt vom Einzelfall und den plausibel geltend gemachten Ansatzpunkten ab, die aus Sicht des türkischen Staats eine solche Zurechnung tragen würden. Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14).
Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. Einzahlungen nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 bei der Bank Asya, der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution – z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der (vormaligen) Gülen-Zeitung „Zaman“ oder der Besitz von Gülens Büchern (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14 m.w.N.). Nutzer der Smartphone-Anwendung „ByLock“ stehen ebenfalls in Verdacht, 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 14 m.w.N.).
Die Klägerin zu 1 hat im Fall ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung zu befürchten, weil die Klägerin nach eigenen Angaben einige der Risikoprofil-Kriterien, welche der türkische Staat auf vermeintliche Gülen-Anhänger anwendet, erfüllt, auch wenn sie bisher selbst keine konkreten Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat. Sie hat aber in Anknüpfung an ihre politische Überzeugung als Verfolgungsmerkmal künftig eine Verfolgung durch den türkischen Staat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu gegenwärtigen:
Die Klägerin zu 1 erfüllt einige der Risikoprofil-Kriterien, welche der türkische Staat auf vermeintliche Gülen-Anhänger anwendet, weil sie nach eigenen Angaben in einer zwischenzeitlich geschlossenen Einrichtung (Wohnheim) sowie ehrenamtlich einen Ärzteverein mit anderen Anhängern der Gülen-Bewegung betreut hat (BAMF-Akte Bl. 162), mit ihrem Mann die …-Zeitung abonniert sowie ein Konto bei der Bank … gehabt hat.
aa) Die Klägerin zu 1 hat bis zu ihrer letzten Ausreise keine Vorverfolgung durch türkische Staatsorgane als Verfolger erlitten, so dass keine Herabsetzung des Wahrscheinlichkeitsmaßstabs anzusetzen ist.
Soweit sie geltend macht, das früher von ihr betreute Wohnheim sei geschlossen worden und die Mitarbeiter des von ihr ehrenamtlich betreuten Vereins seien verhaftet und verhört worden, war dies keine gegen die Klägerin zu 1 persönlich gerichtete Verfolgung.
Wie die Beklagte zutreffend erkannt hat, sprechen die zweimalige unbehelligte Ausreise auf dem Luftweg im Jahresabstand und mit eigenem Reisepass trotz der bekannt strengen türkischen Ausreisekontrollen (dazu unten) sowie die zwischenzeitliche Rückkehr mit Aufenthalt von mehr als einem Jahr in der Türkei und die nicht unverzügliche, sondern ein Jahr nach der ersten Einreise erst erfolgte Asylantragstellung gegen eine in jenem Zeitpunkt vorhandene konkrete Verfolgungsfurcht und insgesamt gegen eine Vorverfolgung. Damit steht zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts fest, dass die Klägerin zu 1 damals unverfolgt eingereist ist. Eine Indizwirkung einer Vorverfolgung ist daher zu verneinen.
Allerdings besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch türkische Staatsorgane als Verfolger im Fall einer künftigen Rückkehr:
(1) Die Klägerin zu 1 wird nach dem Sachstand in der mündlichen Verhandlung auf Grund ihrer o.g. biografischen Merkmale seitens des türkischen Staats verfolgt werden, auch wenn gegen sie noch keine Strafverfahren wegen „FETÖ“-Verdachts anhängig bzw. bekannt sind.
Sie gab dazu beim Bundesamt an, sie habe einen Universitätsabschluss in Kommunikationswissenschaften, wozu sie mehrere Nachweise abgab, die in Kopie der Bundesamtsakte beigefügt sind (ebenda Bl. 162, 178f.). Sie habe zuletzt als Leiterin eines Wohnheims für Studenten der medizinischen und der juristischen Fakultät („…“) gearbeitet, und zwar vom 3. Mai 2007 bis zum 31. Januar 2012, wozu sie Versicherungsnachweise aus dem Internet (www…tr) vorlegte (ebenda Bl. 162, 190 f.); Danach sei sie für einen der Gülen-Bewegung nahestehenden Ärzteverein in … („…“) als Koordinatorin tätig gewesen (ebenda Bl. 162). Dies erfüllt zusammen mit dem Konto bei der Bank … in der Summe mehrere aus Sicht des türkischen Staats gewichtige Anhaltspunkte für eine Gülen-Nähe der Klägerin zu 1.
(2) Die Klägerin zu 1 kann im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen, so dass etwa gegen sie eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen, sondern der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung.
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsdekrete und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 17 – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 23 ff.). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Mit dem sog. Sommer-Beschluss wurden im Jahr 2016 beispielsweise 3.228 (2015: 2.664; 2014: 2.517; 2011: 529; 2010: 271) Richter und Staatsanwälte der administrativen Justiz und 518 der zivilen Justiz – insgesamt 3.746 – versetzt. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen, teilweise sogar über ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (vgl. Lagebericht ebenda S. 17; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 25). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ könne nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 17 f.; auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12 ff.).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. So reicht für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams zunächst 7 Tage mit einer einmaligen Verlängerung um weitere 7 Tage. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für 24 Stunden einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten, nachdem Teile dieser Bestimmungen durch eine Änderung der Notstandsdekrete vom 23. Januar 2017 rückgängig gemacht wurden. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert (vgl. Lagebericht ebenda S. 18; zu den Verurteilungen am Putsch Beteiligter BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 28).
Grundsätzliche Probleme werfen die Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte auf, die wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen „Terrorismus“-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 14 ff.)
Dies zusammen genommen hat die Klägerin wegen des Terrorverdachts („FETÖ“) – anders als vielleicht allgemeiner Kriminalität Tatverdächtige – nicht mehr mit einem rechtsstaatlichen Verfahren zu rechnen, da einerseits die Unabhängigkeit der Justiz durch die Entlassungswellen massiv gemindert wurde, andererseits die Chance, auf vertretungsbereite Anwälte als Strafverteidiger zu treffen, wegen der Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte ebenfalls nicht mehr gewährleistet ist.
bb) Die Klägerin zu 1 hat eine Verfolgung in Anknüpfung an ihre politische oder religiöse Überzeugung als Verfolgungsmerkmal zu befürchten.
Wie bereits ausgeführt, hat sich die Klägerin zu 1 als haupt- und ehrenamtliche Leiterin von Gülennahen Einrichtungen (Wohnheim, Ärzteverein) in die Nähe dieser Gruppe begeben. Sie hat nach ihren Angaben weiter bei Wahlen Werbung für Gülen und gegen Erdogan und die AKP gemacht und ein Konto bei der Bank … gehabt, was alles in das Risikoprofil für Gülen-Anhänger seitens des türkischen Staats fällt.
Würde die Klägerin zu 1 deswegen seitens des türkischen Staats der Gülen-Bewegung zugerechnet und tatsächlich verfolgt, handelte es sich auch um eine flüchtlingsrelevante Verfolgung, da sie sich nach ihrem gesamten Vorbringen vor dem Bundesamt nicht wegen allgemeiner Kriminalität strafbar gemacht hat und hierfür auch sonst keine Anhaltspunkte vorliegen. Vielmehr handelte es sich dann im Falle von Ermittlungsverfahren um staatliche Maßnahmen zur Verfolgung vermeintlicher Terrorverdächtiger, hier also Anhängern oder Helfern der Gülen-Bewegung („FETÖ“). Solche Ermittlungsverfahren sind auch Verfolgungsmaßnahmen, denn im Fall seiner Ergreifung hätte die Klägerin nicht nur mit einer Verurteilung, sondern vor allem auch mit einem nicht rechtstaatlichen Strafverfahren zu rechnen (dazu sogleich).
Entgegen der früheren Einschätzung durch das Bundesamt wird der Vortrag der Klägerin durch die nachgereichten o.g. Unterlagen auch bestätigt, so dass davon auszugehen ist, dass sie seitens des türkischen Staats tatsächlich der Gülen-Bewegung (staatlicherseits als „FETÖ“ bezeichnet) zugerechnet wird.
Ob diese Organisation eher als politische oder als religiöse Bewegung anzusehen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden, da in beiden Fällen die Zurechnung durch den türkischen Staat dieselbe ist und ihr der Kläger auch aus innerer Überzeugung angehörte bzw. diente.
cc) Der Klägerin zu 1 droht unter Würdigung ihres Vorbringens und der nachgereichten Unterlagen auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Fall einer Rückkehr, selbst wenn der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit hier mangels Vorverfolgung (vgl. oben) nicht reduziert ist.
Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Fall einer Rückkehr in die Türkei ergibt sich nicht schon aus den vor dem Bundesamt geschilderten Verhaftungen von Freunden aus derselben Organisation, insbesondere nicht aus dem Verein, in dem jene haupt- und die Klägerin nur ehrenamtlich tätig waren, auch nicht aus der angeblichen Haussuchung im Jahr 2016, welche nur die Klägerin zu 1, aber nicht der Ehemann überhaupt erwähnt hatte. Dass ein so wichtiger Umstand unter den Eheleuten während des Besuchsaufenthalts im Bundesgebiet unerwähnt geblieben sein soll (Protokoll vom 16.7.2019 S. 7), obwohl er die Entscheidung einer Rückkehr beeinflusst hätte, ist schlicht nicht nachvollziehbar und weckt erhebliche Zweifel an der Richtigkeit des Vorbringens in diesem Punkt. Gleichwohl muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin bei einer Auswertung der Daten aus den Vereinen/Organisationen, für die sie tätig gewesen ist (vgl. oben) unter Berücksichtigung der weiteren o.g. individuellen Umstände als Gülen-Anhängerin identifiziert und mit einem Ermittlungsverfahren wegen Terrorverdachts konfrontiert würde. Es ist daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 als FETÖ-Verdächtige bei der Einreise (dazu sogleich) erkannt, verhaftet und inhaftiert sowie vor Gericht gestellt würde, wobei sie nach den Erkenntnismaterialien voraussichtlich nicht mit einem rechtsstaatlichen Verfahren rechnen dürfte (vgl. oben):
dd) Ihr steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da als „FETÖ“-Anhänger verdächtigte Personen bereits im Jahr 2016, erst recht aber in der Folgezeit wie er in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind und im vorliegenden Einzelfall angesichts des Gesamtzusammenhangs mit ihrer Tätigkeit von einem nicht nur lokalen oder regionalen sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse auszugehen ist.
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 32). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2).
ee) Da der Klägerin ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
c) Eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung haben die Kläger zu 2 bis 4 im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht zu befürchten.
Sie waren bisher nicht Ziel irgendwelcher staatlicher türkischer Maßnahmen, noch ist auf Grund ihres jugendlichen Alters zwischen vier und acht Jahren davon auszugehen, dass der türkische Staat gegen sie als Kinder Verfolgungsmaßnahmen richtet. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Türkei Kinder von Gülen-Anhängern inhaftiert oder misshandelt; vielmehr ergeben sich aus bisher verhandelten Verfahren nach dem Erkenntnisstand des Gerichts Hinweise darauf, dass Kinder von Gülen-Anhängern im Fall einer Inhaftierung ihrer Eltern entweder aufnahmebereiten Verwandten übergeben oder in Kinder- und Jugendeinrichtungen untergebracht werden; lediglich bei Kleinstkindern soll eine Unterbringung mit einer etwa inhaftierten Mutter zusammen dort erfolgt sein. Da die Kläger zu 2 bis 4 aber dem Kleinstkindalter entwachsen sind und in der Türkei noch über Geschwister ihrer Mutter und die Großfamilie verfügen (BAMF-Akte Bl. 162), würden sie voraussichtlich bei diesen untergebracht und von einer etwaigen Verhaftung ihrer Eltern nicht gezielt als Verfolgungsmaßnahme sondern nur als tatsächlicher Reflex betroffen, der für sie aber keine flüchtlingsrelevante Verfolgung darstellte.
2. Die Kläger zu 2 bis 4 haben auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Sie haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
a) Die Kläger haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 26 – im Folgenden: Lagebericht). Für extralegale Hinrichtungen liegen derzeit keine Anhaltspunkte vor.
b) Die Kläger haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht. Eine beachtliche Gefahr von Folter besteht für die Kläger nicht; sie waren bisher weder verhaftet noch gar misshandelt worden; eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für künftige Misshandlungen ist nicht ersichtlich noch dargelegt.
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen für die Kläger zu 2 bis 4 ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Die Kläger zu 2 bis 4 haben keinen Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 9.10.2018 – Au 6 K 17.33922 – juris Rn. 89 ff.).
Unbegleitet zurückkehrende Minderjährige finden in der Regel Aufnahme bei Verwandten, sonst im Einzelfall ggf. in einem Waisenhaus oder Kinderheim. In letzterem Fall sollten die zuständigen türkischen Behörden rechtzeitig informiert werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 31).
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall der Kläger nicht vor.
5. Soweit die Flüchtlingszuerkennung der Mutter und/oder Vaters der Kläger bestandskräftig wird, was als Anspruchsgrundlage im Zeitpunkt dieses Urteils noch nicht erfüllt ist und die gleichzeitige Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz durch das Verwaltungsgericht daher ausschließt, können die Kläger zu 2 bis 4 Familienflüchtlingsschutz bei der Beklagten nach § 26 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG beantragen.
6. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG für die Kläger zu 2 bis 4 derzeit noch als rechtmäßig erweist, war die Klage für sie mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen; der Klage war für die Klägerin zu 1 aber mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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