Verwaltungsrecht

Normenkontroll-Eilantrag gegen coronabedingte Schulschließung

Aktenzeichen  20 NE 21.411

Datum:
15.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2693
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 47 Abs. 6
IfSG § 28 Abs. 1 Nr. 16, § 32, § 33
11. BayIfSMV § 18 Abs. 1, § 19 Abs. 1

 

Leitsatz

1. § 18 Abs. 1 11. BayIfSMV (Schulschließungen) ist voraussichtlich rechtmäßig. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Überschreitung eines Schwellenwertes von 50 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen rechtfertigt umfassende Schutzmaßnahmen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ob Schulschließungen in der konkreten Situation im entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine angemessene Schutzmaßnahme darstellen, hat der Verordnungsgeber nach § 32 IfSG zu entscheiden. Dabei dürfte es sich um eine prognostische Abwägungsentscheidung handeln, welche dem Verordnungsgeber einen Beurteilungsspielraum eröffnet, der gerichtlich nur begrenzt überprüfbar ist. Der gerichtlichen Kontrolle unterliegt allerdings die Frage, ob der Verordnungsgeber von sachlichen und nicht offensichtlich unzutreffenden Erwägungen ausgegangen ist. Hierbei kommt der Begründung der Verordnung nach § 28a Abs. 5 IfSG besondere Bedeutung zu. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ob die Annahmen des Verordnungsgebers im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch von hinreichenden sachlichen Erwägungen getragen werden, kann nur unter Heranziehung infektiologischer und epidemiologischer Anhaltspunkte entschieden werden. Einzelne Äußerungen von Behördenleitern auf Pressekonferenzen, wie die des Leiters des Robert-Koch-Instituts (RKI), können nicht ohne Berücksichtigung des sachlichen und zeitlichen Kontextes, in denen sie getroffen wurden, beurteilt worden. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Beschluss vom 29. Januar 2021 bleibt aufrechterhalten.

Gründe

I.
1. Mit ihrem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO verfolgen die Antragsteller das Ziel, den Vollzug von § 18 Abs. 1 und § 19 Abs. 1 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 15. Dezember 2020 (11. BayIfSMV – BayMBl. 2020 Nr. 737) zuletzt geändert mit Änderungsverordnung vom 12. Februar 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 112) einstweilen auszusetzen.
2. Der Antragsgegner hat am 15. Dezember 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die streitgegenständliche Verordnung erlassen, die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:
§ 18 Schulen
(1) Die Schulen im Sinne des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) sind für Schülerinnen und Schüler geschlossen. Sonstige Schulveranstaltungen finden nicht statt. Regelungen zur Notbetreuung werden vom zuständigen Staatsministerium erlassen. Die Schulen und die Träger der Mittagsbetreuung haben für alle Tätigkeiten auf dem Schulgelände und in der Notbetreuung ein Schutz- und Hygienekonzept auf der Grundlage eines ihnen von den Staatsministerien für Unterricht und Kultus und für Gesundheit und Pflege zur Verfügung gestellten Hygieneplans (Rahmenhygieneplan) auszuarbeiten und auf Verlangen der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde vorzulegen. Für Abiturientinnen und Abiturienten, für die 2021 Abschlussprüfungen durchgeführt werden, sowie für Schülerinnen und Schüler beruflicher Schulen, bei denen zeitnah Abschlussprüfungen stattfinden, kann das zuständige Staatsministerium im Einvernehmen mit dem Staatsministerium für Gesundheit und Pflege ab dem 1. Februar 2021 abweichend von Satz 1 und 2 Wechselunterricht zulassen.
(2) (…)
§ 19 Tagesbetreuungsangebote für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige
(1) Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen, Ferientagesbetreuung und organisierte Spielgruppen für Kinder sind geschlossen. Regelungen zur Notbetreuung werden vom Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales im Benehmen mit dem Staatsministerium für Gesundheit und Pflege durch Bekanntmachung erlassen.
(2) (…)“
Die Antragstellerin zu 3. besucht die elfte Jahrgangsstufe, die Antragstellerin zu 4. die siebte Jahrgangsstufe eines Gymnasiums. Die Antragstellerin zu 5. besucht die zweite Grundschulklasse, die Antragstellerin zu 6. den Kindergarten. Die Antragsteller zu 1. und 2. sind verheiratet und gemeinsam Eltern der Antragstellerin zu 6. Der Antragsteller ist darüber hinaus der sorgeberechtigte Vater der Antragstellerinnen zu 3. und 4., die Antragstellerin zu 2. die sorgeberechtigte Mutter der Antragstellerin zu 5.
3. Sie beantragten mit Schriftsatz vom 20. Januar 2021 (sinngemäß),
§ 18 Abs. 1 und § 19 Abs. 1 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 15. Dezember 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 737) bis zur Entscheidung über einen gesondert einzureichenden Normenkontrollantrag der Antragsteller außer Vollzug zu setzen.
Hilfsweise: § 18 Abs. 1 und § 19 Abs. 1 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 15. Dezember 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 737) bis zur Entscheidung über einen gesondert einzureichenden Normenkontrollantrag der Antragsteller außer Vollzug zu setzen, soweit dies die Antragstellerinnen zu 4., 5. und 6. betrifft.
Zur Begründung des Eilantrags machen die Antragsteller im Wesentlichen geltend, die Antragstellerinnen zu 3. bis 6. seien durch die Schließung von Schulen und Kindergärten in ihren Grundrechten auf Bildung und auf freie Entfaltung aus Art. 2 Abs. 1 GG, die Antragsteller 1. und 2. in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 2 GG, Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Aus Art. 2 Abs. 1 GG folge ein Grundrecht auf Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Die Antragstellerinnen zu 3. bis 6. hätten ein (Grund-)Recht auf Bildung. Dies gelte auch für die Antragstellerin zu 6., nachdem auch Kindergärten Bildungsfunktion hätten. Der bayerische Gesetzgeber habe mit dem BayEUG einen Rahmen geschaffen, der das Unterrichtswesen in Bayern regele und Präsenzunterricht als Regelunterrichtsform vorsehe. In diesen Rahmen hätten die beanstandeten Regelungen eingriffen. Art. 3 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG schütze die Berufsausübung beider Elternteile. Schulschließungen stellten kein geeignetes Mittel zur Eindämmung des Infektionsgeschehens dar. Es existiere keinerlei Beleg dafür, dass Kinder Treiber der Pandemie seien; es bestünden sogar Anhaltspunkte dafür, dass die Schulöffnungen zum Ende der Sommerferien 2020 das Infektionsgeschehen gebremst hätten. Hinzu komme, dass das gesetzte Ziel der Begrenzung des Inzidenzwertes ungeeignet sei. Die Maßnahmen seien nicht erforderlich, weil mildere, zur Zielerreichung genauso effektive Mittel zur Verfügung stünden. Zum einen habe sich die Einhaltung der Hygiene-Regeln in Schulen als wirksam erwiesen. Zum anderen existiere eine besonders große Risikogruppe – die der Menschen über 70 Jahre, insbesondere Alten- und Pflegeheimbewohner – deren Schutz vernachlässigt worden sei. Angemessene Schutzvorkehrungen für diese Gruppen seien nicht ergriffen worden. Mittlerweile gebe es ausreichend Möglichkeiten, um gezielt Schutzmaßnahmen zu ergreifen, ohne die Grundrechte der Betroffenen über Gebühr zu beschränken. Im Übrigen sei die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne angesichts der dramatischen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche und deren Familien, die neben Homeschooling noch Homeoffice zu bewältigen hätten, nicht gewahrt. Homeschooling in der derzeit angebotenen Form könne Präsenzunterricht nicht ersetzen. Zudem sei der Besuch von Schulen und Kindergärten für die soziale Entwicklung von Kindern unersetzlich.
Mit zwei weiteren Schriftsätzen vom 28. Januar 2021 vertieften die Antragsteller ihren Vortrag zur Rolle von Kindern und Schulen im Infektionsgeschehen, zur Kommunikationsstrategie von Bundes- und Landesregierungen, zur Bedeutung von Virusmutationen, zur Intensität der Grundrechtseingriffe und zu alternativen Handlungsmöglichkeiten (Schutz von Risikogruppen und Hygienekonzepte in Schulen).
4. Der Antragsgegner tritt dem Antrag entgegen.
5. Mit Beschluss vom 29. Januar 2021 lehnte der Senat den Antrag ab.
6. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde der Antragsteller nahm das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 8. Februar 2021 (Az.:1 BvR 242/21) nicht zur Entscheidung an, weil zuvor durch die Antragsteller keine Anhörungsrüge nach § 152a VwGO erhoben wurde. In dem Beschluss wies das Bundesverfassungsgericht allerdings darauf hin, dass der Verwaltungsgerichtshof sich nicht hinreichend mit dem Vortrag der Antragsteller hinsichtlich der Bedeutung der Schulen für das Infektionsgeschehen auseinandergesetzt habe.
Mit Beschluss vom 11. Februar 2021 gab der Senat der Anhörungsrüge der Antragsteller statt und führte das Verfahren fort.
Die Antragsteller wiederholen und vertiefen mit Schriftsätzen vom 9. Februar 2021 und 11. Februar 2021 ihre Ausführungen. Die Schließung von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen könne – anders als noch zu Beginn der Krise – nicht mehr damit gerechtfertigt werden, dass Kinder und Jugendliche in irgendeiner Form „am Infektionsgeschehen teilnehmen“, wie es der Freistaat Bayern und mit ihm der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Verfahren getan hätten. Vielmehr müssten angesichts der signifikanten Schäden für Kinder und Jugendliche die vorgenannten neueren Erkenntnisse berücksichtig werden. Diese würden auch nicht durch das Auftreten von Mutationen in Frage gestellt. Angesichts der Dauer und der Schwere der Eingriffe sei der grundsätzlich vorhandene Beurteilungsspielraum der Exekutive in diesem Fall deutlich eingeengt. Die Schließungen stellten kein geeignetes Mittel dar, weil sie den intendierten Zweck der Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems nicht förderten. Bei Kindern selbst träten in den seltensten Fällen schwere Verläufe auf, die eine Inanspruchnahme des Gesundheitssystems erforderlich machen. Gleichzeitig existiere auch nach Auffassung des RKI kein Beleg dafür, dass die Öffnung von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen das Infektionsgeschehen gefördert hätte. Im Gegenteil: Es bestünden angesichts der ergriffenen Hygienemaßnahmen sogar Anhaltspunkte dafür, dass die Schulöffnungen zum Ende der Sommerferien 2020 das Infektionsgeschehen gebremst hätten. Die Maßnahmen seien nicht erforderlich, weil mildere, zur Zielerreichung genauso effektive Mittel zur Verfügung stünden. Zum einen habe sich die Einhaltung der Hygiene-Regeln in Schulen als wirksam erwiesen. Zum anderen existiere eine besonders große Risikogruppe, deren Schutz vernachlässigt worden sei und auf die vorrangig zurückzugreifen wäre. Im Übrigen sei die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne angesichts der dramatischen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche und deren Familien, die neben unzulänglichem Homeschooling noch Homeoffice zu bewältigen hätten, nicht gewahrt.
7. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
1. Der Antrag ist unzulässig, soweit er sich gegen § 19 Abs. 1 11. BayIfSMV richtet, denn die Antragssteller sind hiervon nicht gegenwärtig und selbst betroffen. Die Antragstellerin zu 6. besucht im Rahmen der Notbetreuung den Kindergarten.
2. Im Hinblick auf die angestrebte vorläufige Außervollzugssetzung von § 18 Abs. 1 11. BayIfSMV (Schulschließungen) ist der Antrag unbegründet. Zur Begründung wird zunächst auf den Beschluss des Senats vom 29. Januar 2021 (Az.: 20 NE 21.201) verwiesen.
a) Nach wie vor ist davon auszugehen, dass wegen der Überschreitung des Schwellenwertes von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen nach §§ 28a Abs. 3 Satz 4 und 5, 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen.
Der Senat geht ebenso nach wie vor davon aus, dass die Schließung von Schulen mit der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag kraft Gesetzes eine grundsätzlich zur Bekämpfung der Coronavirus-Krankheit-2019 geeignete und erforderliche Infektionsschutzmaßnahme ist. Davon ist der Gesetzgeber durch den Erlass des mit Artikel 1 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397) eingefügten § 28a IfSG ausgegangen. Zwar sind die dadurch eingeräumten Befugnisse der Infektionsschutzbehörden und damit vor allem des Verordnungsgebers nach § 32 IfSG, Untersagungs- und Beschränkungsmaßnahmen für ganze Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sowie allgemeine Verhaltenspflichten für jedermann zur Bekämpfung von COVID-19 zu erlassen, zum Teil sehr weitgehend und in die Grundrechte der Betroffenen tief eingreifend. Auf der anderen Seite muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese Befugnisse allein auf das Ereignis der Corona-Pandemie zugeschnitten sind und jedenfalls flächendeckend nur für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag erlassen werden können. Dadurch hat der Bundestag eine Gefährdungseinschätzung durch die Corona-Pandemie, welche sowohl Gefahrenabwehrelemente als auch Gefahrenprognoseelemente (vgl. hierzu BVerwG, U. v. 28.6.2004 – 6 C 21.02 – BeckRS 2004,25030) enthält, zum Ausdruck gebracht, welche grundsätzlich solch einschneidende Maßnahmen voraussichtlich rechtfertigen kann. Dass der Bundestag hier seinen weiten Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung von Teilhaberechten (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 12.5.2020 – 1 BvR 1027/20 – NVwZ 2020, 1823) überschritten hätte, ist nicht ersichtlich. Bei der Entscheidung über die weitere Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite muss gegebenenfalls die Sach- und Interessenlage neu abgewogen werden. Deswegen greifen die Einwendungen der Antragsteller, Schulschließungen seien nicht geeignet und erforderlich, um das Infektionsgeschehen einzudämmen, nicht durch.
Damit bleibt die Frage zu beantworten, ob die zeitlich befristete Schließung von Schulen auch angemessen bzw. verhältnismäßig im engeren Sinne ist, weil § 28a Abs. 1 Nr. 16 IfSG auch vorsieht, dass Auflagen für die Fortführung ihres Betriebs, sog. Hygieneauflagen, getroffen werden können. Diese sind im Hinblick auf die Antragsteller grundsätzlich das mildere Mittel zur Infektionsbekämpfung. Die Angemessenheit oder auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn fordert, dass der Nutzen der Maßnahme nicht zu den dadurch herbeigeführten Beeinträchtigungen außer Verhältnis stehen darf. Das Gebot erfordert eine Abwägung zwischen dem Nutzen der Maßnahme und den durch die Maßnahmen herbeigeführten Beeinträchtigungen und setzt dem Ergebnis eine Grenze (vgl. Grzeszick in Maunz/Dürig, Art. 20 GG VII. Rn. 117).
Ob Schulschließungen in der konkreten Situation im entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine angemessene Schutzmaßnahme darstellen, hat der Verordnungsgeber nach § 32 IfSG zu entscheiden. Dieser hat in einer dokumentierten Entscheidung die besonders gewichtigen infektiologischen Erfordernisse mit sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit nach § 28a Abs. 6 IfSG abzuwägen. Dabei dürfte es sich um eine prognostische Abwägungsentscheidung handeln, welche dem Verordnungsgeber einen Beurteilungsspielraum eröffnet, der gerichtlich nur begrenzt überprüfbar ist (BayVGH, B.v. 8.12.2020 – 20 NE 20.2461 – juris). Der gerichtlichen Kontrolle unterliegt allerdings die Frage, ob der Verordnungsgeber von sachlichen und nicht offensichtlich unzutreffenden Erwägungen ausgegangen ist. Hierbei kommt der Begründung der Verordnung nach § 28 a Abs. 5 IfSG besondere Bedeutung zu. Insoweit enthält die Begründung der 11. BayIfSMV (BayMBl. 2020 Nr. 738 S. 5) lediglich Anhaltspunkte dafür, dass der Verordnungsgeber angesichts der dramatischen Situation der Reduzierung der Kontakte einen unbedingten Vorrang einräumen wollte. Bei der Verlängerung der Maßnahme mit Verordnung vom 8. Januar 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 5) ging der Antragsgegner weiter davon aus, dass mit Blick auf das aktuelle Infektionsgeschehen die Schulen weiter geschlossen bleiben müssten. Kinder und Jugendliche seien als Teil des Infektionsgeschehens zu betrachten. Insgesamt zeigten sich ein deutlicher Anteil an COVID-19 Fällen bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere in der Altersgruppe der 10- bis 19-Jährigen, aber auch im Grundschulalter. Deshalb sei die Schließung der Schulen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens durch weitest gehende Kontaktreduktion notwendig (vgl. BayMBl. 2021 Nr. 6). Auch zu diesem Zeitpunkt dienten die Schulschließungen angesichts der stagnierenden Infektionslage auf hohem Niveau als Mittel der allgemeinen Kontaktreduzierung.
Ob die Annahmen des Verordnungsgebers zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch von hinreichenden sachlichen Erwägungen getragen werden, kann letztlich nur unter Heranziehung infektiologischer und epidemiologischer Anhaltspunkte entschieden werden. Einzelne Äußerungen von Behördenleitern auf Pressekonferenzen, wie die des Leiters des Robert-Koch-Instituts (RKI) am 17. November 2021, können nicht ohne Berücksichtigung des sachlichen und zeitlichen Kontextes, in denen sie getroffen wurden, beurteilt worden. Dort hatte der RKI-Chef trotz der anhaltend hohen Zahl an Ansteckungen davon abgeraten, die Maßnahmen durch die Schließung von Schulen und Kitas noch auszuweiten. Das Infektionsgeschehen an den Schulen lasse sich kontrollieren. Die Inzidenzen bei Kindern unter zwölf Jahren seien niedriger als in anderen Altersgruppen. Kinder liefen dem Infektionsgeschehen eher hinterher. Allerdings sollten die „schlauen Konzepte“, die Schulen und Kitas zum Schutz entwickelt hätten, auch umgesetzt werden (https://www.tagesschau.de/inland/rki-neuinfektionen-127.html). Bereits am 19. November 2021 konstatierte dann der Situationsbericht des RKI bei den Ausbrüchen von COVID-19, dass es sich in den meisten Kreisen zumeist um ein diffuses Geschehen handele, mit zahlreichen Häufungen in Haushalten, aber auch in Gemeinschaftseinrichtungen, Schulen, Alten- und Pflegeheimen (https://www.rki.de/ DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Nov_2020/2020-11-19-de.pdf; jsessionid=BA71CD207469646C21401DFCA0FC6498.internet081? blob =publicationFile). Auch in den folgenden Situationsberichten bis zu den Schulschließungen (in Bayern am 15. Dezember 2021) berichtet das RKI immer wieder von bundesweiten diffusen Ausbrüchen in Schulen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Dez_2020/Archiv_Dezember.html) und dies trotz der dort geltenden Hygienemaßnahmen. Insoweit ist der Senat nicht in der Lage, aus den Äußerungen des RKI-Leiters auf der Pressekonferenz am 17. November 2021 den Schluss zu ziehen, dass Schulen nur in unerheblicher Weise am Infektionsgeschehen teilnahmen und teilnehmen werden. Auch die von den Antragstellern angeführte S3-Leitlinie Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen (Kurzfassung, https://www.bmbf.de/files/027-076k_Praevention_und_Kontrolle_SARS-CoV-2-Uebertragung_in_Schulen_2021-02.pdf) ist zur Beantwortung dieser Frage nur wenig geeignet, da sie ausdrücklich das Thema der Schulschließungen nicht behandelt. Es geht vielmehr darum, anpassbare und geeignete Maßnahmenpakete zur Verminderung des Infektionsrisikos und zur Ermöglichung eines möglichst sicheren, geregelten und kontinuierlichen Schulbetriebs in Pandemiezeiten zu ermöglichen (a.a.O. S. 2). Damit erweist sie sich nicht als eine tragende Entscheidungshilfe bei der Abgrenzung der Effektivität von Schulschließungen einerseits und dem Schulbetrieb unter Hygienemaßnahmen andererseits.
Das Robert-Koch-Institut, dem bei der Beurteilung der epidemischen Lage nach § 4 IfSG besondere Bedeutung zukommt, geht derzeit vielmehr davon aus, dass die Wirksamkeit der bisher getroffenen Maßnahmen als Ganzes offensichtlich erscheine, aber über die Beiträge der einzelnen Public Health Maßnahmen – wie Kontaktreduktion, Tragen einer Alltagsmaske oder Schulschließungen – zur Kontrolle der epidemiologischen Dynamik wenig bekannt sei und bisher der Effekt einzelner Maßnahmen nicht systematisch analysiert worden sei. Die nunmehr angelaufene StopptCOVID-Studie, ein Kooperationsprojekt zwischen der Universität Bielefeld und dem Robert-Koch-Institut und gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit, nutzt und erarbeitet eine Dokumentation der nicht-pharmazeutischen Maßnahmen zur Kontrolle der SARS-CoV-2-Pandemie in Deutschland auf Ebene der Bundesländer und auf der Ebene besonders betroffener Landkreise, um die relative Bedeutung von assoziierten Faktoren (Risiko- und schützende Faktoren) zu quantifizieren und eine Bewertung der Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie in Deutschland vorzunehmen (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/StopptCOVID_studie.html). Erst nach Auswertung solcher auf die Bundesrepublik Deutschland bezogener Studien lässt sich eine zuverlässige Aussage treffen, ob Schulschließungen eine effektive Bekämpfungsmaßnahme im Rahmen der Corona-Pandemie sind. Für die StopptCOVID-Studie werden erste Ergebnisse allerdings frühestens ab Mitte März erwartet (https://www.mdr.de/nachrichten/panorama/hmp-wirksamkeit-corona-lockdown-studie-100.html).
Der Senat stellt fest, dass es durchaus eine Heterogenität der verschiedenen Studienergebnisse hinsichtlich der Wirksamkeit von Schulschließungen, aber auch der gegenüberzustellenden Intensität der Auswirkungen der Schulschließungen insbesondere auf Kinder und Eltern (vgl. Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der Eindämmungsmaßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/Focus/JoHM_04_2020_Psychische_Auswirkungen_COVID-19.pd-f? blob=publicationFile) gibt. Die Begründung der Verordnung zur Änderung der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 12. Februar 2021 (Nr. 113 vom 12.02.2021) enthält nur wenig Substantielles zum Thema der Fortführung der allgemeinen Schließung der Schulen und stellt tragend auf die allgemeine, noch nicht geklärte Gefahr neuer mutierter Virusvarianten ab. Deshalb kann derzeit noch nicht davon ausgegangen werden, dass der Verordnungsgeber den ihm hier zustehenden Beurteilungsspielraum überschritten hat. Denn der Normgeber darf nicht erst dann tätig werden, wenn die Tatsachengrundlage für eine beabsichtigte Regelung in der Wissenschaft übereinstimmend als gesichert bewertet wird (BayVerfGH, E.v. 1.2.2021 – Vf. 98-VII-20 – und vom 30.12.2020 – Vf. 96-VII-20 – juris Rn. 28 ff.).
b) Aber auch wenn man von offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ausgeht, ergibt die im Rahmen des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Folgenabwägung, dass die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz von Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Interessen der Antragsteller an einer Öffnung der Schulen und Kindertagesstätten überwiegen. Das pandemische Geschehen ist weiterhin auf hohem Niveau. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 13. Februar 2021 (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/ Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Feb_2021/2021-02-13-de.pdf? blob=publicationFile) ist nach wie vor eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein. Nach der aktuellen Risikoeinschätzung des RKI (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Co-ronavirus/Risikobewertung.html) ist die Dynamik der Verbreitung einiger neuer Varianten von SARS-CoV-2 (B.1.1.7, B.1.351 und B.1.1.28) besorgniserregend. Diese besorgniserregenden Varianten (VOC) wurden inzwischen auch in Deutschland nachgewiesen. Es ist noch unklar, wie sich deren Zirkulation auf die Situation in Deutschland auswirken wird. Aufgrund der vorliegenden Daten hinsichtlich einer erhöhten Übertragbarkeit der Varianten besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer Verschlimmerung der Lage. Ob und in welchem Maße die neuen Varianten die Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe beeinträchtigen, ist derzeit noch nicht sicher abzuschätzen. Die VOC, die zuerst im Vereinigten Königreich (B.1.1.7), in Südafrika (B.1.351) und in Brasilien (B.1.1.28) nachgewiesen wurden, sind nach Untersuchungen aus dem Vereinigten Königreich und Südafrika und gemäß Einschätzung des ECDC noch leichter von Mensch zu Mensch übertragbar und unterstreichen daher die Notwendigkeit einer konsequenten Einhaltung der kontaktreduzierenden Maßnahmen. Das individuelle Risiko, schwer zu erkranken, kann anhand der epidemiologischen/statistischen Daten nicht abgeleitet werden. So kann es auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen können auch nach leichten Verläufen auftreten.
In dieser unsicheren Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen – im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten – schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die möglichen Teilhaberechte der Antragsteller. Gegenüber den bestehenden Gefahren für Leib und Leben, vor denen zu schützen der Staat nach dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist, müssen die Interessen der Antragsteller derzeit zurücktreten. Bei der Folgenabwägung ist auch zu berücksichtigen, dass die mittlerweile weltweit aufgetretenen und sich auch in Deutschland verbreitenden Mutationen möglicherweise für Kinder gefährlicher erweisen als die bisher verbreiteten Virusvarianten (https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-mutanten-die-dritte-welle-ist-kaum-noch-zu-stoppen-a-00000000-0002-0001-0000-000175304211; https://www.merkur.de/welt/coronavirus-mutation-kinder-dritte-welle-israel-zahlen-veroeffentlichung-impfung-90201845.html).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die von dem Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 7. März 2021 außer Kraft tritt (§ 29 11. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht ist.


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