Verwaltungsrecht

Prozesskostenhilfe für Klage auf Übernahme der Kosten eines Fernschulbesuchs

Aktenzeichen  12 C 17.2563

Datum:
5.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 3068
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 10 Abs. 1, § 35a, § 36a Abs. 1 S. 1, Abs. 3 S. 1
SGB XII § 53 Abs. 3, Abs. 4, § 54 Abs. 1 S. 1
EinglHVO § 12 Nr. 2, Nr. 3

 

Leitsatz

1. Ein Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen nach § 35a SGB VIII und entsprechendem Aufwendungsersatz für eine selbstbeschaffte Maßnahme nach § 36a SGB VIII besteht auch dann, wenn die Hilfe lediglich auf die Deckung eines (Teil-) Bedarfs zugeschnitten ist, soweit dadurch nicht Hilfemaßnahmen für andere von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffene Lebensbereiche vereitelt werden. (Rn. 20 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich im Hinblick auf § 36a SGB VIII bei der Selbstbeschaffung einer abgelehnten Leistung darauf, ob die Entscheidung des Jugendamts verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein gegenüber der soziallrechtlichen Eingliederungshilfe vorrangiger Anspruch gegenüber der Schulverwaltung besteht nur dann, soweit und solange die Schule tatsächlich Hilfe gewährt oder der Betroffene den Anspruch auf Hilfeleistung gegen die Schulverwaltung rechtzeitig verwirklichen kann. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 3 K 17.250 2017-12-06 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 6. Dezember 2017 – B 3 K 17.250 – und der Nichtabhilfebeschluss des Verwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2017 werden aufgehoben.
II. Dem Verwaltungsgericht Bayreuth wird aufgegeben, über den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.

Gründe

I.
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für den Besuch der „F…-Fernschule“ als selbstbeschaffte Leistung der Jugendhilfe (Eingliederungshilfe).
1. Nachdem der am 12. April 2000 geborene Kläger sich bereits wegen seit Ende Oktober 2012 anhaltender Schulvermeidung mit ausgeprägten körperlichen Beschwerden, deutlichem sozialen Rückzug, gedrückter Stimmung und Vermeidungsverhalten in fast allen Lebensbereichen vom 8. Januar 2013 bis 13. Mai 2013 in stationärer Behandlung in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Uniklinikums Erlangen befunden hatte, stellte er nach dem Auftreten weiterer Beeinträchtigungen beim Beklagten erstmals am 20. Februar 2016 und erneut am 24. Juli 2016 einen Antrag auf Übernahme der Kosten für die „F…-Fernschule“ als ambulante Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII).
2. Beginnend mit dem 17. August 2016 gewährte der Beklagte dem Kläger eine befristete Erziehungsbeistandschaft, die er jedoch mit Bescheid vom 17. Juli 2017 nicht mehr verlängerte. Die ambulante Erziehungsbeihilfe habe sich im Hilfeverlauf letztlich als nicht geeignet und zielführend erwiesen. Der beim Kläger vorhandene intensive therapeutische Bedarf könne nicht durch ambulante sozialpädagogische Hilfen adäquat bearbeitet werden.
3. Mit Bescheid vom 7. November 2016 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Kostenübernahme für die „F…-Fernschule“ im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII im Wesentlichen mit der Begründung ab, die begehrte Beschulung stelle nicht die geeignete und notwendige Hilfe für den Kläger dar. Eine umfassende kinder- und jugendpsychiatrische Abklärung in stationärer Form sei unbedingt erforderlich und absolut vorrangig vor eventuellen weiteren Jugendhilfemaßnahmen. Dem vorhandenen Bedarf des Klägers könne mit der beantragten Eingliederungshilfemaßnahme nicht in angemessener Form begegnet werden. Die „F…-Beschulung“ sei im Hinblick auf das therapievermeidende Verhalten des Klägers weder als geeignet noch als ausreichend zu bewerten, um der bestehenden Problematik nachhaltig entgegenzuwirken und den Kläger in seiner weiteren persönlichen Entwicklung adäquat zu unterstützen. Die begehrte Maßnahme fördere nicht die soziale Integration des Klägers in die Gesellschaft, sondern verstärke die gegebene Isolation. Ebenso wenig bearbeite sie die massiv vorhandene Angstproblematik. Ungeachtet dessen sei es nicht Aufgabe einer Eingliederungsmaßnahme nach § 35a SGB VIII, dem Hilfeempfänger zu einem Schulabschluss zu verhelfen.
4. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht Bayreuth mit dem Antrag, den Bescheid des Beklagten vom 7. November 2016 in Form des Widerspruchsbescheids der Regierung von Oberfranken vom 21. März 2017 aufzuheben, und diesen zu verpflichten, die Kosten für die „F…-Fernschule“ im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch zu übernehmen. Gleichzeitig beantragte er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung.
5. Nachdem der Kläger als anderer Bewerber in der gesonderten Leistungsfeststellung den qualifizierten Abschluss der Mittelschule mit Zeugnis vom 21. Juli 2017 mit der Note 2,8 erreicht hatte, lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg mit Beschluss vom 6. Dezember 2017 ab. Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII lägen im Hinblick auf die vom Kläger selbst beschaffte Hilfe – Teilnahme am Unterricht der „F…-Fernschule“ – nicht vor. Die mit Bescheid vom 7. November 2016 getroffene Entscheidung des Beklagten, die vom Kläger begehrte Kostenerstattung für die „F…-Fernschule“ abzulehnen, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Bei der Entscheidungsfindung seien alle vorliegenden medizinischen bzw. psychologischen Stellungnahmen einschließlich der Wünsche des Klägers gewürdigt worden. Die vom Beklagten geforderte stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung als Voraussetzung für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen stelle– anders als der Klägerbevollmächtigte meine – keine rechtlich unzulässige „Zwangsbehandlung“ dar. Der Beklagte verlange vom Kläger nicht etwa von Amts wegen, sich einer medizinischen Behandlung zu unterziehen. Er mache die Gewährung von Jugendhilfeleistungen lediglich davon abhängig, dass diese eine geeignete Hilfeform darstelle, um das eigentliche Ziel, nämlich die Beeinträchtigung des Klägers an der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu beheben, zu erreichen. Der Fernunterricht beseitige und lindere den Kern der Beeinträchtigung – die Sozial- und Schulphobie des Klägers – jedoch nicht. Durch den Fernunterricht trete zwar eine Linderung der Folgen der Beeinträchtigung des Klägers ein, indem ihm auf diese Weise ermöglicht worden sei, – innerhalb des häuslich geschützten Rahmens – dennoch einen Mittelschulabschluss zu erreichen. Aus den vorliegenden kinder- und jugendpsychiatrischen Stellungnahmen gehe jedoch hervor, dass für den Kläger nur eine stationäre Therapie die geeignete Lösung sei, um seine psychische Beeinträchtigung behandeln zu lassen. Daraus folge zugleich, dass dem Kläger ein derartiger stationärer Klinikaufenthalt auch psychisch möglich und zumutbar gewesen wäre. Infolgedessen sei der Beklagte – vor der Gewährung (weiterer) Jugendhilfeleistungen, gegebenenfalls auch für Fernunterricht – als verantwortlicher Jugendhilfeträger im Rahmen seiner Steuerungsverantwortung berechtigt gewesen, zunächst eine stationäre Behandlung des Klägers zu fordern. Für einen isolierten Fernunterricht, der als bloße „Hilfslösung“ angesehen werden müsse, weil dadurch zwar die Folgen der Behinderung gelindert werden könnten, der eigentliche Kern der Beeinträchtigung aber nicht gebessert werde, könne der Kläger keine Kostenübernahme verlangen.
6. Mit der Beschwerde verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Der Fernunterricht sei die einzige Möglichkeit, um überhaupt eine schuliche (Weiter) bildung zu erfahren und eine Eingliederung in die Gesellschaft zu gewährleisten. Die Steuerungsverantwortung der Jugendhilfeträgers dürfe nur im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens ausgeübt werden. Insoweit sei zugleich auch das Wunsch- und Wahlrecht des Betroffenen zu berücksichtigen. Dieses werde konterkariert, wenn nur die vom Beklagten geforderte stationäre Unterbringung als geeignete Maßnahme angesehen werde. Der Gegenbeweis sei durch den erfolgreichen Fernunterricht erbracht worden.
Der Beklagte hat von einer Erwiderung auf das Beschwerdevorbringen abgesehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
1. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu Unrecht mangels hinreichender Erfolgsaussichten in der Hauptsache versagt. Der bereits erhobenen Klage kann – gemessen am spezifisch prozesskostenhilferechtlichen Erfolgsmaßstab einer lediglich summarischen Prüfung – nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand eine hinreichende Aussicht auf Erfolg nicht abgesprochen werden. Die Beschwerde führt deshalb zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses vom 6. Dezember 2017, der Nichtabhilfeentscheidung vom 20. Dezember 2017 und gemäß § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO zur Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht. Der Senat macht von dem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch, die erneute Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch dem Verwaltungsgericht zu übertragen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 17.3.2015 – OVG 6 M 21/15 –, NVwZ-RR 2015, 599 [600]; BayVGH, B.v. 26.10.2007 – 24 C 07.2530 – juris, Rn. 7).
a) Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe genügt bereits eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der beabsichtigten Klage (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 166 Rn. 8 m.w.N.). Mit Blick auf die Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten dürfen die Anforderungen hinsichtlich der Erfolgsaussichten nicht überspannt werden. Vor allem ist es unzulässig, schwierige Sach- oder Rechtsfragen, die in einer vertretbaren Weise auch anders beantwortet können und möglicherweise auch müssen, bereits in Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens abschließend im Prozesskostenhilfeverfahren zu erörtern und damit den Zugang zu den Gerichten zu versagen (vgl. BVerfG, B.v. 5.2.2003 – 1 BV 1526/02 –, NJW 2003, 1857). Gleiches gilt, wenn der vom Kläger eingenommene Standpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung offen steht (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 166 Rn. 26). Ungeachtet dessen entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, Prozesskostenhilfe grundsätzlich dann zu bewilligen, wenn im jeweiligen Verfahren eine weitere Sachaufklärung oder gar eine Beweiserhebung in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 21.3.2013 – 12 C 13.280 – juris; B.v. 18.2.2013 – 12 C 12.2105 – juris; B.v. 11.3.2014 – 12 C 14.380 – juris, Rn. 10 m.w.N.).
b) Gemessen an diesem Maßstab durfte dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung – jedenfalls nicht mangels hinreichender Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage – versagt werden:
aa) Rechtsgrundlage für die Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Kostenerstattung ist § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift setzt ein Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für Hilfen, die – wie hier – vom Leistungsberechtigten abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII selbst beschafft werden, ohne dass eine (vorherige) Zulassung durch den Träger der Jugendhilfe vorangegangen ist, voraus, dass der Leistungsberechtigte den Träger vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorgelegen haben (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3).
Vorliegend streiten die Beteiligten zu Recht weder darüber, dass der Kläger den Beklagten mit seinem erstmals am 20. Februar 2016 und erneut am 24. Juli 2016 gestellten Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für die „F…-Fernschule“ als ambulante Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII rechtzeitig vor Beginn des Zeitraums, für den die Übernahme der Aufwendungen beantragt wurde, von dem Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, noch darüber, dass – bei Vorliegen eines Leistungsanspruchs – die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. Im Streit steht allein das Vorliegen der Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII, hier also die Frage, ob dem Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum ein Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten für die „F…-Fernschule“ aus § 35a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zustand.
Insoweit ist nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand wohl unstreitig davon auszugehen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erfüllt sind. Nach dieser Vorschrift haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Nach dem kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachten des Dr. W… vom 28. Juni 2016 sind die Voraussetzungen für Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht gegeben, da die seelische Gesundheit des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Lebensalter typischen Zustand abweicht und eine Teilhabebeeinträchtigung aufgrund des extremen Schulvermeidungsverhaltens offen zu Tage liegt.
In einem solchen Fall richten sich Aufgabe und Ziel der Hilfe nach § 35a Abs. 3 SGB VIII, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der Leistungen nach § 53 Abs. 3 und 4 Satz 1 sowie den §§ 54, 56 und 57 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), soweit diese Bestimmungen – wie hier – auch auf seelisch Behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden. Dementsprechend erhalten nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII seelisch behinderte Kinder Hilfen zu einer angemessen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [4 f.] Rn. 17), mithin grundsätzlich auch zum Besuch bzw. zur Kostenübernahme für eine „Fernschule“.
Zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII ist auch § 12 der Verordnung nach § 60 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuchs (Eingliederungshilfeverordnung-EinglHVO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Februar 1975 (BGBl. I S. 433), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234), zurückzugreifen. § 12 EinglHVO nennt zwar nur (noch) Maßnahmen zugunsten körperlich oder geistig behinderter Kinder und Jugendlicher. Die Regelung enthält jedoch eine allgemeine Konkretisierung des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII. Mit diesem Inhalt ist sie kraft der Verweisung des § 35a Abs. 3 SGB VIII auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen entsprechend anzuwenden (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [5] Rn. 18 m.w.N.).
Nach § 12 Nr. 1 EinglHVO gehören zu den Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII auch heilpädagogische und sonstige Maßnahmen, wenn diese erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Dies schließt alle Leistungen ein, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer angemessenen Schulbildung geeignet und erforderlich sind, die Eingliederung zu erreichen, d.h. die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder auch nur zu mindern (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2005 – 5 C 20.04 –, BVerwGE 123, 316 [318]; U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [5] Rn. 19). Die Übernahme der Kosten für eine „Fernschule“ fällt dabei nicht nur unter den in § 12 Nr. 1 EinglHVO verwandten Begriff der „sonstige[n]“ Maßnahmen zugunsten behinderter Kinder und Jugendlicher (vgl. BVerwG, B.v. 2.9.2003 – 5 B 259.02 – juris, Rn. 15; U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [5] Rn. 19), sondern zugleich auch unter § 12 Nrn. 2 und 3 EinglHVO, die Maßnahmen der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch einer Real- (Mittel) schule eigens erwähnen, sofern eine angemessene Beschulung im öffentlichen Regel-Schulsystem behinderungsbedingt nicht (mehr) möglich ist (vgl. OVG NRW, B.v. 19.9.2011 – 12 B 1040/11 – juris, Rn. 17; B.v.14.6.2012 – 12 A 409/12 – juris, Rn. 14; U.v. 22.8.2014 – 12 A 3019/11 – juris, Rn. 57 ff.; siehe auch Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 35a Rn. 112 m.w.N.).
Ein Rechtssatz des Inhalts, dass ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII und dementsprechend auf Aufwendungsersatz für eine selbstbeschaffte Maßnahme nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (§ 36a Abs. 3 SGB VIII) nur dann bestehen könne, wenn diese Hilfe dem Hilfebedarf in seiner Gesamtheit gerecht wird, lässt sich dem Gesetz entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts nicht entnehmen (so ausdrücklich bereits BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [5 f.] Rn. 20). Vielmehr spricht die Systematik des Gesetzes in gewichtiger Weise dafür, dass Eingliederungshilfeleistungen auch darauf gerichtet sein dürfen, lediglich einen Teilbedarf zu decken. So greift § 35a Abs. 3 SGB VIII mit der Inbezugnahme auf § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII und damit die Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung selbst einen Teilleistungsbereich heraus und geht davon aus, dass es Hilfen gibt, die gerade auf die Deckung dieses (Teil-) Bedarfs zugeschnitten sind (so ausdrücklich BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [6 f.] Rn. 23).
Aufgabe und Ziel der Eingliederungshilfe werden durch die über § 35a Abs. 3 SGB VIII entsprechend anwendbare Regelung des § 53 Abs. 3 SGB XII näher bestimmt. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es danach, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zumindest zu lindern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern. Im Hinblick auf diese Zwecksetzung ist zwar im Ansatz zutreffend davon auszugehen, dass der Jugendhilfeträger möglichst den gesamten Hilfebedarf abzudecken hat, der durch die seelische Behinderung hervorgerufen wird und deshalb alle von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffene Lebensbereiche in den Blick zu nehmen hat. Hilfebedarfe in unterschiedlichen Lebensbereichen sollen dabei nach Möglichkeit einheitlich abgedeckt werden und etwa die Eingliederungshilfe mit der Erziehungshilfe kombiniert werden (vgl. § 35a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Hilfeleistungen sind demnach zwar im Grundsatz so auszuwählen und aufeinander abzustimmen, dass sie den gesamten Bedarf soweit wie möglich erfassen, weil aus dem (sozialhilferechtlichen) Bedarfsdeckungsgrundsatz, der im Bereich der jugendhilferechtlichen Eingliederungshilfe in § 35a Abs. 2 SGB VIII (vgl. „Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall … geleistet“) verankert ist, zugleich auch folgt, dass grundsätzlich der gesamte im konkreten Einzelfall anzuerkennende Hilfebedarf seelisch behinderter oder von einer solchen Behinderung bedrohter Kinder oder Jugendlicher abzudecken ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 6.11 –, Buchholz 436.511 § 10 KJHG/SGB VIII Nr. 6 Rn. 12 m.w.N.).
Dies kann es jedoch gerade bedingen, dass der durch Teilhabebeeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen erzeugte Hilfebedarf nur durch verschiedene, auf den jeweiligen Bereich zugeschnittene Leistungen abgedeckt werden kann und muss, um die Aufgabe der Eingliederungshilfe zu erfüllen. Hilfebedarf in unterschiedlichen Bereichen kann es deshalb geboten erscheinen lassen, verschiedene Hilfeleistungen zu kombinieren oder durch mehrere Einzelleistungen den Gesamtbedarf des Hilfebedürftigen abzudecken (so ausdrücklich BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [8] Rn. 26).
Um dem Ziel der Eingliederungshilfe nach möglichst umfassender Bedarfsdeckung in allen von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Bereichen gerecht zu werden, kann es, wenn nicht sogleich der Gesamtbedarf gedeckt werden kann, zudem erforderlich sein, Hilfeleistungen zumindest und zunächst für diejenigen Teilbereiche zu erbringen, in denen dies möglich ist. Steht etwa eine bestimmte Hilfeleistung tatsächlich zeitweilig nicht zur Verfügung oder wird eine bestimmte Hilfe vom Hilfeempfänger oder dessen Erziehungsberechtigten (zeitweise) nicht angenommen, so kann es gleichwohl geboten sein, zumindest diejenigen Hilfen zu gewähren, die den in anderen Teilbereichen bestehenden (akuten) Bedarf abdecken (so ausdrücklich BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [8] Rn. 26; siehe auch BayVGH, U.v. 15.5.2013 – 12 B 13.129 – juris, Rn. 25).
Etwas anderes kann – mit Blick auf den dargelegten Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe – (lediglich) dann anzunehmen sein, wenn die Gewährung der Hilfe für einen Teilbereich die Erreichung des Eingliederungsziels in anderen von der Teilhabebeeinträchtigung betroffenen Lebensbereichen erschweren oder vereiteln würde, es also zu Friktionen zwischen Hilfsmaßnahmen käme. Nachteilige Wechselwirkungen mit anderen Hilfeleistungen können die fachliche Geeignetheit einer (begehrten) Leistung für einen Teilleistungsbereich in Frage stellen. Dies ist indes eine – gegebenenfalls durch ein Sachverständigengutachten zu klärende – Frage der fachlich sinnvollen Abstimmung verschiedener Hilfeleistungen aufeinander (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [8] Rn. 27).
Dass der Gesamtbedarf durch eine bestimmte Hilfemaßnahme nicht gedeckt wird, schließt es deshalb – entgegen der Auffassung des Beklagten und des Verwaltungsgerichts – nicht aus, dass sie gleichwohl geeignet und erforderlich sein kann, zumindest einen Teilbedarf zu decken und insoweit ein Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht; es sei denn, die Gewährung der Hilfe für diesen Teilbedarf würde Hilfemaßnahmen für andere von einer Teilhabebeeinträchtigung betroffene Lebensbereiche vereiteln oder konterkarieren (so ausdrücklich BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [8 f.] Rn. 28).
bb) Im Lichte dieser in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Maßstäbe steht es – jedenfalls nach dem derzeitigen Erkenntnisstand – außerhalb jeden vernünftigen Zweifels, dass der Beklagte verpflichtet war, zumindest für diejenigen Teilbereiche – vorliegend insbesondere den der Beschulung – Hilfeleistungen zu erbringen, in denen dies möglich war. Wird – wie hier – eine bestimmte Hilfe vom Hilfesuchenden oder dessen Erziehungsberechtigten (zeitweise) nicht angenommen, so kann es gleichwohl geboten sein, zumindest diejenigen Hilfen zu gewähren, die den in anderen Teilbereichen – hier den der Schule – bestehenden (akuten) Bedarf abdecken (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [8] Rn. 26; siehe auch BayVGH, U.v. 15.5.2013 – 12 B 13.129 – juris, Rn. 25). Die hierzu zahlreich vorliegenden fachärztlichen Stellungnahmen sprechen insoweit eine deutliche, in jeder Hinsicht unmissverständliche Sprache. So führt die Psychotherapeutin B…-A… M… in ihrem Bericht vom 8. März 2016 unter anderem aus:
„Aus therapeutischer Sicht [ist] die Unterstützung durch die Möglichkeit einer „F…-Fernschule“ dringend zu befürworten. Julian hat eine ausreichende Intelligenz um einen Schulabschluss zu absolvieren. Die gegebene Struktur durch die Schulform wäre dringend zu empfehlen, um ihn auch in einer Teilhabe an einem gesellschaftlichen Leben weiter zu unterstützen. Eine Unterstützung durch Hausunterricht wird wegen der geringen Stundenzahl als unzureichend angesehen. Zudem ist aufgrund der Schwere der Symptomatik und des langen Verlaufs in der Vorgeschichte aus therapeutischer Sicht diese Unterstützung mittels „F…-Schule“ zu befürworten, da ansonsten die Gefahr einer seelischen Behinderung gemäß § 35a Abs. 1 und 1a SGB VIII besteht.“
Auch im Befundbericht der Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. B… vom 7. April 2016 heißt es trotz einer deutlichen Präferenz für eine stationäre Therapie:
„Seitens der Schule sei der Vorschlag zur Hausbeschulung durch einen Hauslehrer oder aber Teilnahme an einem F…-Schulprogramm bzw. Absolvieren eines „Fernunterrichts“ gemacht worden. Die Mutter habe sich mit der Bitte um Bewilligung einer solchen (Wiedereingliederungs-) Maßnahme an das Jugendamt gewandt. Die Kriterien für eine solche Wiedereingliederungsmaßnahme gemäß § 35a SGB VIII sind hier aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht erfüllt, Julian ist von einer seelischen Behinderung bedroht. […] Um […] überhaupt eine Beschulung zu ermöglichen und die weitere schulische/berufliche Entwicklung nicht zu gefährden, sollte man die geplante Form der Beschulung zumindest […] versuchen, nachdem die Familie die von mir vorgeschlagene stationäre Behandlung in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie/Fachklinik ablehnte…“
Auch im kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachten des Dr. Wilkers vom 28. Juni 2016 heißt es insoweit:
„Das Schulvermeidungsverhalten besteht nun erneut seit Herbst 2015. Bei dem Patienten bestehen extreme Ängste davor, von Bekannten oder Schulkameraden gesehen und auf sein Vermeidungsverhalten angesprochen zu werden. Er geht lediglich noch seinem Hobby Modellfliegerbau nach und besucht entsprechende Veranstaltungen, ansonsten hält er sich nur im häuslichen Bereich auf. Zu der vorgeschlagenen und indizierten stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Therapie ist er trotz intensiver Bemühungen bislang nicht zu motivieren gewesen.
Um seine schulisch-berufliche Integration sicherzustellen, ist ein Bündel von Maßnahmen notwendig. Hierzu zählt die Etablierung einer Heimbeschulung bis zu dem Zeitpunkt, an dem er wieder eine reguläre Schule besuchen kann. Eine Heimbeschulung ist etwa durch die F…-Schule B… möglich. Die Fortführung der unterstützenden psychotherapeutischen Therapie bei Frau Diplom-Psychologin Barbara-Alexandra Märtin ist aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht weiterhin dringend indiziert. […] Sehr wichtig erscheint darüber hinaus die Errichtung einer Erziehungsbeistandschaft mit dem Ziel, Julian zu Hause aufzusuchen und seine Isolation zu durchbrechen.
Ohne solche fachspezifischen Maßnahmen droht eine Verfestigung der Störung und ihrer emotionalen und sozialen Auswirkungen. Bereits jetzt ist von einer wesentlichen seelischen Behinderung zu sprechen.
Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht sind die Voraussetzungen für Eingliederungshilfen nach § 35a SGB VIII gegeben, da die seelische Gesundheit des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für sein Alter typischen Zustand abweicht.“
Dass die Gewährung der Hilfe für den Teilbedarf „Schule“ etwaige Hilfemaßnahmen für andere von der Teilhabebeeinträchtigung des Klägers betroffene Lebensbereiche vereiteln oder gar konterkarieren würde (vgl. zu dieser Möglichkeit BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [8 f.] Rn. 28), liegt angesichts dieser Gutachtenlage – jedenfalls nach dem derzeitigen Erkenntnisstand – von vorneherein fern.
cc) Der Anspruch des Klägers auf den Ersatz der Aufwendungen für die „F…-Fernschule“ gemäß § 36a Abs. 3 SGB VIII scheidet vorliegend auch nicht etwa deshalb aus, weil der Beklagte – unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraums – die begehrte Hilfe mit vertretbaren Erwägungen ablehnen durfte, wie das Verwaltungsgericht rechtsirrig meint.
Die gerichtliche Kontrolldichte ist aufgrund der aus § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII folgenden Steuerungsverantwortung des Jugendhilfeträgers zwar grundsätzlich beschränkt. Nach dieser Vorschrift trägt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten der Hilfe grundsätzlich nur dann, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Insoweit ist zu beachten, dass es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendliches und mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten soll, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich deshalb grundsätzlich darauf zu beschränken, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden (vgl. BVerwG, U.v. 24.6.1999 – 5 C 24/98 –, BVerwGE 109, 155 [167]; U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [9 f.] Rn. 32).
Dementsprechend ist auch bei der Selbstbeschaffung einer abgelehnten Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu prüfen, ob die Entscheidung des Jugendamts verfahrensfehlerfrei zustande gekommen ist, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. Diese Prüfung erstreckt sich nicht nur auf eine reine Ergebniskontrolle, sondern erfasst auch die von der Behörde – maßgeblich ist die letzte Behördenentscheidung – gegebene Begründung. Denn diese muss für den Betroffenen nachvollziehbar sein, um ihn in die Lage zu versetzen, mittels einer Prognose selbst darüber zu entscheiden, ob eine Selbstbeschaffung (dennoch) gerechtfertigt ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [10] Rn. 33).
Hat das Jugendamt nicht in einer den vorgenannten Anforderungen entsprechenden Weise über die begehrte Hilfeleistung entschieden, können an dessen Stelle die Betroffenen den sonst der Behörde zustehenden nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Entscheidungsspielraum für sich beanspruchen. Denn in dieser Situation sind sie – obgleich ihnen der Sachverstand des Jugendamts fehlt – dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung des § 36a Abs. 3 SGB VIII eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen. Weil nun ihnen die Entscheidung aufgebürdet ist, eine angemessene Lösung für eine Belastungssituation zu treffen, hat dies zur Folge, dass die Verwaltungsgerichte nur das Vorhandensein des jugendhilferechtlichen Bedarfs uneingeschränkt zu prüfen, sich hinsichtlich der Geeignetheit und der Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe aber auf eine fachgerechte Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung der Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung der Berechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr etwa im Nachhinein nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet(er) gehalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [10 f.] Rn. 34 m.w.N.).
Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben lässt sich – jedenfalls nach dem derzeitigen Erkenntnisstand – nicht in einer die Versagung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg rechtfertigenden Weise feststellen, dass der Beklagte die begehrte Hilfeleistungen in nicht zu beanstandender Weise verweigert hätte. Die von dem Beklagten angebotenen Maßnahmen boten vor dem Hintergrund der aktuellen Unbeschulbarkeit des Klägers im staatlichen Regel-Schulsystem spätestens nach dem Scheitern der zunächst angedachten Heimbeschulung durch den Klassenlehrer keine adäquate Hilfestellung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation. Die von den Eltern ins Werk gesetzte Selbstbeschaffung der Unterrichtung in der „F…-Fernschule“ entspricht nicht nur den ausdrücklichen Empfehlungen der vorliegenden Stellungnahmen; sie erweist sich – jedenfalls nach dem derzeitigen Erkenntnisstand – auch in jeder Hinsicht als vertretbar und angemessen. Schließlich hat der Kläger allein dadurch den Mittelschulabschluss erfolgreich absolvieren können. Eine Beschulung im staatlichen Regelschulsystem war nicht (mehr) möglich. Sowohl der Beklagte als auch das Verwaltungsgericht verkennen die überragende Bedeutung der Erlangung eines qualifizierten Schulabschlusses gerade für aufgrund einer seelischen Störung teilhabebeeinträchtigte Kinder und Jugendliche.
dd) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erweist sich ferner auch nicht etwa deshalb als richtig, weil der Anspruch des Klägers auf Eingliederungshilfe in Gestalt der Übernahme der Kosten für die Beschulung in der „F…-Fernschule“ wegen eines Vorrangs der schulischen Betreuung im Regelschulsystem ausscheiden würde.
Nach § 10 Abs. 1 SGB VIII werden zwar Verpflichtungen anderer, insbesondere solche der Träger anderer Sozialleistungen und der Schulen durch das Achte Buch Sozialgesetzbuch nicht berührt. Darin ist der Grundsatz vom Nachrang der Jugendhilfe bzw. die allgemeine Subsidiarität jugendhilferechtlicher Leistungen gegenüber denen anderer Sozialleistungsträger und der Schulen verankert (vgl. BVerwG, U.v. 27.5.2010 –, BVerwGE, 137, 85 [87]). Dieser Grundsatz kommt auch in der Formulierung des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Halbsatz 2 SGB XII zum Ausdruck, dass die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht unberührt bleiben.
Es genügt jedoch für die Nachrangigkeit der Jugendhilfe nicht bereits, dass eine anderweitige Verpflichtung überhaupt besteht. Vielmehr muss diese anderweitige Verpflichtung auch rechtzeitig realisierbar und nach den Umständen des Einzelfalls im öffentlichen Schulwesen eine bedarfsdeckende Hilfe zu erhalten sein (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [12] Rn. 39; OVG NRW, B.v. 8.9.2010 – 12 A 1326/10 – juris, Rn. 18 f.). In diesem Sinne hat das Bundesverwaltungsgericht einen gegenüber der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe vorrangigen Anspruch gegen die Schulverwaltung nur dann angenommen, soweit und solange die Schule tatsächlich Hilfe gewährt oder der Betroffene den Anspruch auf Hilfeleistung gegen die Schulverwaltung rechtzeitig verwirklichen kann (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 [12 f.] Rn. 39 m.w.N.; siehe auch OVG NRW, U.v. 22.8.2014 – 12 A 3019/11 – juris, Rn. 78 ff.).
Gerade daran fehlt es hier. Der Kläger war – nach dem derzeitigen Kenntnisstand – im staatlichen Regelschulsystem infolge seiner seelischen Störung nicht mehr beschulbar. Infolgedessen greift die „Ausfallbürgschaft“ des Jugendhilfeträgers Platz (vgl. hierzu Wiesner, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 35a Rn. 112 a.E.). Damit können dem Klagebegehren – jedenfalls nach derzeitiger Erkenntnislage – hinreichende Erfolgsaussichten nicht abgesprochen werden. Das Verwaltungsgericht hat die insoweit maßgebliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1 ff.) in ihrer Bedeutung und Tragweite verkannt. Die Maßstäbe und Grundsätze dieser Entscheidung, die auf den vorliegenden Fall zu übertragen sind, schließen es aus, dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung allein wegen mangelnder Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu versagen.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 6. Dezember 2017 und die Nichtabhilfeentscheidung vom 20. Dezember 2017 waren deshalb aufzuheben. Gleichzeitig macht der Senat von der ihm durch § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 572 Abs. 3 ZPO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, dem Verwaltungsgericht die erneute Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats zu übertragen.
Im Rahmen seiner erneuten Entscheidung wird das Verwaltungsgericht zu prüfen haben, ob dem Kläger ein Anspruch gemäß § 1610 Abs. 2 BGB auf familienrechtlichen Prozesskostenhilfevorschuss gegenüber seinen erziehungsberechtigten Eltern zusteht, der die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten einschränken oder ausschließen würde, sofern der Beklagte sich aufgrund der vorstehenden Ausführungen nicht ohnehin zu einer Abhilfeentscheidung im Stande sieht.
2. Einer Kostenentscheidung bedarf es vorliegend nicht, da das Verfahren gerichtskostenfrei ist (§ 188 Satz 2 1. Halbsatz VwGO) und Kosten im Beschwerdeverfahren nach § 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden.
3. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.


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