Verwaltungsrecht

Rechtmäßigkeit des Widerrufs eines Abschiebungsverbots

Aktenzeichen  M 6 K 18.30761

Datum:
6.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 52663
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Ein Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. (redaktioneller Leitsatz)
2. Beruft sich der Schutzsuchende auf eine Verfolgungsgefährdung mit der Begründung, er sei zu einer in seinem Herkunftsland bekämpften Religion übergetreten, muss er die inneren Beweggründe glaubhaft machen, die ihn zur Konversion veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht und der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Das Bayerische Verwaltungsgericht München ist für die Streitsache örtlich weiterhin zuständig gem. § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO. Die Verlegung des Klägers in die Justizvollzugsanstalt E. und seine Wohnsitznahme in n. nach seiner Entlassung steht dem nicht entgegen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Zuständigkeit ist der Zeitpunkt der Klageerhebung vor dem erstinstanzlichen Gericht § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz – GVG -.
2. Der Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 Satz 1, Abs. 5 AufenthG.
Nach § 73c Abs. 2 AsylG setzt der Widerruf eines nach nationalem Recht gewährten Abschiebungsschutzes voraus, dass die Voraussetzungen für das ursprünglich zuerkannte Abschiebungsverbot – hier auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG – nachträglich entfallen sind und auch nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz zu gewähren ist. Dabei sind alle Rechtsgrundlagen für den nationalen Abschiebungsschutz in die Prüfung einzubeziehen.
Durch neue Tatsachen muss sich eine andere Grundlage für die Gefahrenprognose bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot ergeben. Maßgeblich ist gemäß § 77 AsylG zur Konzentration und Beschleunigung des Verfahrens der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG, B.v 7.7.2011 – 10 C 26.10 – juris, Rn.14, B.v 25.11.2008 – 10 C 46.07 – juris, Rn.16 und B.v 1.11.2005 – 1 C 21.04 – juris, Rn.13; a. A. – allerdings wohl in Verkennung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts – VG Augsburg, U. v. 15.5.2017 – Au 5 K 17.31212 – juris, Rn.22).
Das Gericht folgt insoweit zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen der zutreffenden Begründung der Beklagten im angegriffenen Bescheid, auf die verwiesen wird (§ 77 Abs. 2 AsylG). Der Beklagte hat hierin insbesondere ausgeführt, dass der Kläger nunmehr volljährig und außerdem gesund und arbeitsfähig ist.
2.1 Nichts anderes ergibt sich aus den vom Kläger nachträglich, insbesondere in der mündlichen Verhandlung vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen. Auf ein gesundheitsbedingtes Abschiebungsverbot kann sich der Kläger nicht mit Erfolg berufen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in der Fassung des am 17. März 2016 in Kraft getretenen Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I S. 390), das auf den vorliegenden Fall gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG bereits anzuwenden ist, liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Nach § 60a Abs. 2c) Satz 1 bis 3 AufenthG in derselben Gesetzesfassung wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
Die genannten Voraussetzungen an die Atteste sind hier nicht erfüllt. Bei dem Überweisungsschein der … Bayern vom 31. August 2018 handelt es sich nicht um eine Diagnose sondern lediglich um die Einräumung der Möglichkeit einen entsprechenden Facharzt für Neurologie/Psychiatrie aufzusuchen. Auch die in der mündlichen Verhandlung übergebene ärztliche Bescheinigung vom 4. September 2018 genügt den oben genannten Anforderungen nicht. Die Bescheinigung beschränkt sich auf eine nichtssagende Aneinanderreihung von Krankheits- bzw. Beschwerdeausdrücken. Keinesfalls lässt sich hieraus eine hinreichend konkrete Gefahr für Leib und Leben Klägers prognostizieren. Gegen eine schwere Erkrankung spricht nach Auffassung des Gerichts auch, dass der Kläger nach eigenen Angaben derzeit bei „M.“ arbeitet und nicht arbeitsunfähig ist.
2.2 Auch aus Art. 3 EMRK kann der Kläger kein Abschiebungsverbot herleiten. Es ist aufgrund der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Auffassung des Gerichts nicht zu erwarten, dass der bislang im islamischen Glauben verankerte Kläger in Afghanistan infolge der Taufe durch eine freichristliche Gemeinde einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung oder Strafe unterworfen werden wird. Dies wäre nur dann der Fall, wenn unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Schutzsuchenden vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich kann hierbei eine Verfolgungshandlung darstellen, wenn der Betreffende tatsächlich Gefahr läuft, infolgedessen verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Es ist dem Betroffenen dann nicht zumutbar, diese Gefahr durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen zu vermeiden (vgl. EuGH, U.v. 5.9. 2012 – C-71/11 und C -99/11 – rn. 79 f. – juris). Beruft sich der Schutzsuchende auf eine Verfolgungsgefährdung mit der Begründung, er sei zu einer in seinem Herkunftsland bekämpften Religion übergetreten, muss er die inneren Beweggründe glaubhaft machen, die ihn zur Konversion veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zu der angenommenen Religion auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf Opportunitätserwägungen beruht und der Glaubenswechsel nunmehr die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt (vgl. BVerwG, U.v. 20.1. 2004 – BVerwG 1 C 9.03 -, Rn. 22; BayVGH, U. v. 23.10.2007 – 14 B 06.30315 – B.v. 29.4.2010 – 14 ZB 10.30043, B.v. 4.2.2013 – 14 ZB 13.3002 -; alle juris). In besonderer Weise gilt dies, wenn der Schutzsuchende – wie der Kläger – erstmals nach dem Widerruf von Abschiebungsverboten behauptet, er habe seine religiöse Überzeugung in der Folgezeit geändert. Er muss dann auch dafür gute Gründe anführen, um den Verdacht auszuräumen, der behauptete Glaubenswechsel sei nur vorgeschoben, um die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung zu schaffen (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 16. 3 2012 – A 2 S 1419/11 -, Rn. 24; juris).
Wann eine Prägung im Sinne einer ernstlichen Glaubensüberzeugung anzuerkennen ist, lässt sich nicht allgemein beschreiben. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Nach dem aus der Gesamtheit des Verwaltungs- und gerichtlichen Verfahren gewonnenen Eindruck muss sich der Schutzsuchende aus voller innerer Überzeugung dem Glauben zugewandt haben. Dazu sind die Persönlichkeit des Asylbewerbers und dessen Motive für die angebliche Hinwendung zur christlichen Religion vor dem Hintergrund seines bisherigen Vorbringens einer Gesamtwürdigung zu unterziehen. Hat er eine christliche Religion angenommen, genügt es im Regelfall nicht, dass der Schutzsuchende lediglich formal zum Christentum übergetreten ist, indem er getauft wurde (BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40/15 -; BayVGH, B.v. 16.11.2015 – 14 ZB 13.30207-; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 9.6.2017, 13 A 1120/17.A, alle juris).
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung keine eigenen tragenden Motive für die angebliche Hinwendung zum Christentum vorgetragen. Das Gericht kam aufgrund der seiner Äußerungen in der mündlichen Verhandlung zu dem Schluss, dass der Wunsch des Klägers, die Abschiebung nach Afghanistan zu vermeiden maßgebliche Antriebsfeder für die Konversion darstellte. Auch dass der Kläger auf die Nachfragen des Gerichts hin versuchte, den Zeitpunkt der Konversion durch überraschendes Behaupten einer „inoffiziellen“ Taufe im Jahr 2014 auf einen früheren Zeitpunkt zu datieren, lässt das Gericht grundsätzlich an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Seine weiteren Ausführungen lassen bestenfalls den Schluss zu, dass er sich lediglich an den Missionswunsch seines Unterstützers und Freundes angepasst hat. Vom Ablauf der sogenannten christlichen Hauskreise konnte der Kläger keine Schilderung abgeben. Ebenso wenig benannte er Eindrücke, die die angeblich besuchten Gottesdienste der E. Church e.V. bei ihm hervorriefen. Er ist auch nicht Mitglied dieser Kirche geworden, sondern gab an, die Gottesdienste als Besucher angehört zu haben. Bei dauerhafter Hinwendung zum neuen Glauben hätte es mindestens nahegelegen, sich der Gemeinschaft der Gläubigen anzuschließen. Zuletzt lässt insbesondere der zeitliche Kontext keinen vernünftigen Zweifel daran zu, dass es dem seit 2010 in Deutschland lebenden Kläger in erster Linie und zielgerichtet darauf ankam, mit seinem Christ werden die Grundlage für ein Abschiebungsverbot in seinem Asylverfahren zu schaffen und auf diesem Wege die Erfolgsaussichten für seine Klage zu erhöhen. Die Pflicht, nach Widerruf der Abschiebungsverbote und Ausweisung nach Afghanistan zurückzukehren, wollte der Kläger offenkundig nicht akzeptieren und wandte sich erst nach Widerruf des ihm ursprünglich gewährten Abschiebungsschutzes scheinbar dem Christentum zu.
Vor diesem Hintergrund kann das Gericht nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit gewinnen, dass der Hinwendung des Klägers zum Christentum ein eigenständig tragfähiger, ernstgemeinter religiöser Einstellungswandel ohne Opportunitätserwägungen zugrunde liegt und der Glaubenswechsel nunmehr seine religiöse Identität so prägt, dass bei der Rückkehr in das Heimatland mit einer verfolgungsträchtigen Glaubensbetätigung zu rechnen wäre.
Das Gericht ist deshalb davon überzeugt, dass es im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan zu keiner Beeinträchtigung der religiösen Identität des Klägers kommen wird.
2.3 Der Kläger kann auch keinen Bleibeanspruch aus Art. 8 EMRK daraus ableiten, dass er sich seit 2010 in Deutschland aufhält. Art. 8 EMRK erfordert jedenfalls eine abgeschlossene “gelungene“ Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Grundvoraussetzung für die Annahme eines rechtlichen Abschiebungshindernisses auf der Grundlage des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist. Hiervon kann beim Kläger nicht ausgegangen werden, weil er sich in erheblicher Weise strafbar gemacht hat. Zum anderen besteht ein konventionswidriger Eingriff in das „Privatleben“ im Verständnis des Art. 8 Abs. 1 EMRK nur dann, wenn der Ausländer aufgrund seines langen Aufenthalts über so “starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte“ zum “Aufnahmestaat“ verfügt, dass er aufgrund der Gesamtentwicklung „faktisch zu einem Inländer“ geworden ist, dem wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug hat, schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann. Auch dies ist beim Kläger in Deutschland nicht der Fall. Er hat in Deutschland keine Familie gegründet und kann trotz des seit 15 August 2018 bestehenden befristeten Arbeitsvertrags nicht als beruflich intergiert angesehen werden. In der Vergangenheit hatte der Kläger bereits einmal eine Lehre begonnen, diese aber nicht abgeschlossen und danach eine gravierende Straftat begangen. Gegenwärtig befindet er sich noch in der Probezeit und die Verlängerung seines Arbeitsvertrages ist noch offen.
In seinem Urteil vom 10. Oktober 2006 (Az.: 46410/99 – juris) hat der EGMR (Große Kammer) entschieden, dass die „Konvention einem Ausländer nicht das Recht zusichert, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, wobei die Vertragsstaaten bei Erfüllung ihres Auftrags zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung berechtigt sind, einen straffälligen Ausländer auszuweisen. Jedoch müssen sich ihre Entscheidungen in diesem Bereich, soweit sie ein durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht beeinträchtigen, als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig herausstellen, d.h. durch ein herausragendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig sein“. Dabei ist der Gerichtshof der Auffassung, „dass diese Grundsätze unabhängig davon anwendbar sind, ob ein Ausländer als Erwachsener oder in sehr jungen Jahren in das Gastland eingereist oder dort gar geboren ist“.
2.4 Der Kläger hat keine Tatsachen vorgetragen, nach denen bei ihm die Voraussetzungen der nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG anzunehmen wären. Solche sind auch nicht ersichtlich.
Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 6f).
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan besteht nicht. Die rechtlichen Voraussetzungen hierfür sind unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse in Afghanistan insgesamt und in der Stadt Kabul, in der Kläger zuletzt lebte, nicht gegeben.
Das erkennende Gericht schätzt die Lage in Afghanistan in Übereinstimmung mit dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (B.v. 12.4.2018 – 13a ZB 18.30135 – juris; B.v. 4.1.2018 – 13a ZB 17.31652 – juris; B.v. 29.11.2017 – 13a ZB 17.31251 – juris; B.v. 11.4.2017 – 13a ZB 17.30294 – juris unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – NVwZ 2013, 1167) nicht derart ein, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre.
Zwar ist die Lage in Kabul – wie im gesamten Land – prekär. Sowohl die wirtschaftlichen Voraussetzungen als auch die humanitären Umstände sind schlecht. Auch die Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren stetig verschlechtert. Dennoch kann nicht für sämtliche Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, denen es in Kabul oder in Afghanistan insgesamt an Beziehungen oder an Unterstützungsnetzwerken fehlt, angenommen werden, die schlechten Bedingungen im Land könnten generell und bei all diesen Rückkehrern ganz außerordentliche individuelle Umstände darstellen und die hohen Anforderungen zur Bejahung des Art. 3 EMRK trotz fehlenden Akteurs erfüllen. Obwohl Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in Afghanistan vielen Belastungen gegenüber stehen und die Situation im Land äußerst schwierig ist, sind den umfangreichen Erkenntnismitteln zur Lage in Afghanistan keine Informationen zu entnehmen, aus denen geschlossen werden könnte, allein der Umstand einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland bei fehlenden Netzwerken vor Ort stehe einer Existenzsicherung in Afghanistan bzw. in Kabul (auch nur auf niedriger Stufe) entgegen.
Der letzte Bericht des Auswärtigen Amtes über die Asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan vom 31. Mai 2018 geht davon aus, dass Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen werden. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Das Auswärtige Amt spricht davon, dass es bei Rückkehrern, die lange Zeit im Ausland gelebt haben, wahrscheinlich sei, dass lokale Netzwerke nicht mehr existieren oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt sei. Dies könne die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stelle für den Großteil der Rückkehrer die größte Schwierigkeit dar. Häufig hänge der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab.
Erfahrungsberichte oder Schilderungen dahingehend, dass gerade auch leistungsfähige erwachsene männliche Rückkehrer – wie der Kläger – ohne Unterhaltsverpflichtungen in großer Zahl oder sogar typischerweise von Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit betroffen oder infolge solcher Umstände gar verstorben wären, sind hingegen nicht ersichtlich. Aus dem Fehlen eines familiären oder sozialen Netzwerks in Kabul lässt sich nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK herleiten.
Der Kläger spricht außerdem beide in Afghanistan gebräuchliche Landessprachen (Paschtu und Dari), sodass er sich hinreichend verständigen kann.
Zwar lebt der Kläger nunmehr 8 Jahre unter westlichen Lebensbedingungen und wird in Afghanistan auf eine Situation treffen, die derjenigen in Deutschland nicht vergleichbar ist. Er kommt jedoch – wie er in der mündlichen Verhandlung selbst erwähnte – aus der islamischen Tradition und ist grundsätzlich mit den Lebensbedingungen in Afghanistan vertraut, so dass zu erwarten ist, dass er sich in seinem Heimatland wieder eingewöhnen wird.
Im Übrigen geht auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan nicht derart ist, dass jede Überstellung dorthin notwendig Art. 3 EMRK verletzt (vgl. EGMR, U.v. 11.7.2017 – S.M.A./Netherlands, Nr. 46051/13 Rn. 53; U.v. 11.7.2017 – Soleimankheel and others/Netherlands, Nr. 41509/12 Rn. 51; U.v. 11.7.2017 – G.R.S./Netherlands, Nr. 77691/11 Rn. 39; U.v. 11.7.2017 – E.K./Netherlands, Nr. 72586/11 Rn. 67; U.v. 11.7.2017 – E.P. and A.R./Netherlands, Nr. 63104/11 Rn. 80; U.v. 16.5.2017 – M.M./ Netherlands, Nr. 15993/09 Rn. 120; U.v. 12.1.2016 – A.G.R./Niederlande, Nr. 13442/08 – NVwZ 2017, 293 Rn. 59). Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil vom 9. April 2013 (H. and B./United Kingdom, Nr. 70073/10 Rn. 92 f.) festgestellt, dass es in Afghanistan keine allgemeine Gewaltsituation gibt, die zur Folge hätte, dass allein wegen der Abschiebung einer Person dorthin tatsächlich die Gefahr von Misshandlungen gegeben sei. In den vorgenannten Urteilen hat er angesichts der ihm mittlerweile vorliegenden Informationen an dieser Einschätzung festgehalten.
Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 29.11.2017 a.a.O.; B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 -13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 – 13a B 13.30279 – juris)
Die von den Bevollmächtigten des Klägers im Klageschriftsatz gemachten Ausführungen zur Sicherheitslage in Afghanistan führen nicht zu einer anderen Risikobewertung. Es werden keine neuen Erkenntnisse vorgetragen, die den Schluss rechtfertigen würden, dass die oben genannte Rechtsprechung überholt wäre.
Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. u.a. B.v. 8.4.2002 – 1 B 71/02 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 59). Nur dann gebieten die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – als Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards -, jedem betroffenen Ausländer trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 60 Abs. 7 Satz 5, § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Diese Grundsätze über die Sperrwirkung bei allgemeinen Gefahren und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise verfassungskonforme Anwendung in den Fällen, in denen dem Betroffenen im Abschiebezielstaat eine extrem zugespitzte Gefahr droht, sind auch für die neue Rechtslage nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes maßgeblich (BVerwG, B.v. 23.8.2006 – 1 B 60/06 u.a. – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 ff. AufenthG Nr. 19).
Nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalls haben die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität beim Kläger kein solches Gewicht, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für ihn die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris Rn. 16). Auch müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Fall der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10/09 – NVwZ 2011, 48).
Das Gericht geht im vorliegenden Einzelfall wie oben ausgeführt davon aus, dass der Kläger den hohen Anforderungen, denen er im Falle einer Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit ausgesetzt wäre, gewachsen ist und er nach einer Rückkehr nicht in eine derartige extreme Gefahrenlage gerät, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt. Es wird ihm – wie dargelegt – gelingen, in seiner als hinreichend sicher geltenden Heimatstadt Kabul ein kleines Einkommen zu erzielen und damit wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Der vom Kläger in Deutschland erworbene Hauptschulabschluss zeigt, dass der Kläger jedenfalls so intelligent ist, dass er die Sprache in vergleichsweise kurzer Zeit neu erlernen konnte und sich in dieser auch schriftlich auszudrücken vermag. Durch die erworbene Schulbildung hat der Kläger gegenüber den Arbeitssuchenden, die Analphabeten sind, einen Wettbewerbsvorteil. Im Hinblick auf solche arbeitsfähigen afghanischen Staatsangehörigen ohne Unterhaltslasten ist nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (vgl. BayVGH, zuletzt B.v. 06.06.2016 – 13a ZB 16.30083 – juris Rn. 4 mit Verweis auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris).
Ein Abschiebungshindernis ergibt sich auch nicht aufgrund einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 AsylG.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist rechtsgrundsätzlich geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. Hinsichtlich der Gefahrendichte der Herkunftsregion des Klägers, der Provinz Kabul, ist bei Berücksichtigung der Opferzahlen nicht davon auszugehen, dass aufgrund des bewaffneten Konflikts für eine Vielzahl von Zivilpersonen eine allgemeine Gefahr besteht, die sich in der Person des Klägers so verdichtet, dass sie für ihn eine erhebliche individuelle Gefahr darstellt. Einschließlich der Stadt Kabul gab es 2017 1831 zivile Opfer (Tote und Verletzte). Bei einer Einwohnerzahl von rund 4.400.000 (Kabul Stadt 3.900.000) ergibt sich ein Risiko von ca. 1:2403, bzw. – bei Berücksichtigung eines Sicherheitszuschlags von 50% (2747 Opfer) – von ca. 1:1601 getötet oder verletzt zu werden. Nach dem UNAMA „Midyear update on the protection of civilians in armed conflict“ vom 15. Juli 2018 wurde in der Provinz Kabul im ersten Halbjahr 2018 außerdem ein Rückgang der zivilen Opfer von 5% gegenüber dem gleichen Zeitraum 2017 registriert. Das Bundesverwaltungsgericht stuft eine Gefahrendichte von 1 : 800 als immer noch weit entfernt von der Schwelle zur im Sinne des subsidiären Schutzes beachtlichen Wahrscheinlichkeit ein (BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/10 – NVwZ 2012, 454, juris Rn. 22-23). Es ist dann ohne Hinzutreten individueller Umstände, im Normalfall nicht davon auszugehen, dass ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt eine solche Gefahrendichte hat, dass alle Bewohner des betroffenen Gebiets ernsthaft persönlich betroffen sein werden (vgl. BayVGH, U.v. 8.11.2012 – 13a B 11.30391 – juris Rn. 14). Persönliche Umstände, die den Kläger von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen sind nicht ersichtlich. Zu seiner religiösen Zugehörigkeit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.


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