Verwaltungsrecht

Rechtskraftwirkung der Anfechtungsklage

Aktenzeichen  10 C 17.214

Datum:
10.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 42, § 121, § 146, § 166 Abs. 1 S. 1
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AsylG AsylG § 73c Abs. 1

 

Leitsatz

Da erst die Gründe einer Anfechtungsklage darüber Auskunft geben, weshalb die Klage abgewiesen wurde, sind sie für die Bestimmung der Reichweite der Rechtskraft maßgeblich. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 16.557 2017-01-04 Bes VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, ihm für seine Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 29. März 2016 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und seine Prozessbevollmächtigte beizuordnen.
Mit diesem Bescheid hat der Beklagte die Abschiebung des Klägers aus der Haft heraus nach Afghanistan angeordnet (Nr. 1) und für den Fall, dass die Abschiebung aus der Haft heraus nicht möglich ist, mit einer Ausreisefrist von längstens einer Woche nach Haftentlassung die Abschiebung angedroht (Nr. 2). Die Wirkungen der Abschiebung wurden auf fünf Jahre nach Ausreise befristet (Nr. 3).
Das Verwaltungsgericht Augsburg hat bereits mit Beschluss vom 30. September 2016 einen Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die Klage gegen den Bescheid vom 29. März 2016 abgelehnt. Diese Entscheidung bestätigte der Senat mit Beschluss vom 12. Dezember 2016 (10 C 16.2176).
Am 25. Dezember 2016 beantragte der Kläger erneut, ihm für dieses Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Diesen Antrag lehnte das Verwaltungsgericht Augsburg mit Beschluss vom 4. Januar 2017 ab. Es berief sich zur Begründung auf seinen Beschluss vom 30. September 2016 sowie auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016. Die Bindungswirkung des Urteils vom 18. April 2012 sei wegen sittenwidrigen Urteilsmissbrauchs entfallen. Erst mit dem vom Landgericht Kempten eingeholten Gutachten sei eine maßgebliche Änderung der Sach- und Rechtslage seit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 18. April 2012 (Au 6 K 11.30229) eingetreten. Die bloße Kurzinformation vom 28. Juli 2011 habe nur eine Sachverhaltsdarstellung vom Hörensagen, aber keine ärztliche Diagnose enthalten und das vorherige privatärztliche Attest (v. 19.7.2011) fachlich noch nicht widerlegt.
Im Beschwerdeverfahren beantragt der Kläger,
ihm Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren zu bewilligen und seine Prozessbevollmächtigte beizuordnen.
Zur Begründung beruft er sich auf die Sachverhaltsdarstellung im Urteil vom 5. Februar 2015 (Au 6 K 14.30440), in dem zur Begründung, dass beim Kläger kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliege, auf das fachpsychiatrische Gutachten vom 3. Dezember 2012 und eine ärztliche Kurzinformation des Bezirkskrankenhauses K. vom 28. Juli 2011 verwiesen wird, wonach sich „sein Aktivitätsniveau und seine Kontaktfähigkeit überraschend geändert hätten, als er mit Herrn T. zu einem vereinbarten Behördenausgang gegangen sei. Der Kläger sei nicht zur vereinbarten Zeit zurückgekehrt. Herr T. habe das Bezirkskrankenhaus telefonisch informiert, dass die Symptomatik nur vorgetäuscht gewesen sei und der Kläger die stationäre Behandlung abbreche“. Das Gutachten vom 3. Dezember 2012 stelle daher keinen Erkenntnisfortschritt dar. Deshalb entfalte das Urteil vom 18. April 2012, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Feststellung verpflichtet worden sei, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen, weiterhin Bindungswirkung. Die Rechtskraft des Urteils vom 5. Februar 2015, mit dem die Anfechtungsklage des Klägers gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 11. Juli 2014 mit der Rücknahme des Bescheids vom 5. Juni 2012 (Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) abgewiesen worden ist, stehe der materiellen Rechtskraft des Urteils vom 18. April 2012 nicht entgegen. Bei einem eine Anfechtungsklage abweisenden Urteil entfalte nur die Feststellung, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt, Rechtskraft. Diese erstrecke sich nicht auf die Feststellung, dass die materielle Rechtskraft des Urteils vom 18. April 2012 wegen sittenwidrigen Urteilsmissbrauchs entfallen sei. Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, wonach bei einem eine Anfechtungsklage abweisenden Urteil die Gründe allgemein an dessen Rechtskraft teilnehmen würden, treffe nicht zu.
Ergänzend wird auf die vorlegten Behördenakten und die Gerichtsakten, auch im Verfahren 10 C 16.2176, verwiesen.
II.
Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 4. Januar 2017 ist unbegründet. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO liegen nicht vor, da die beabsichtige Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass in der Person des Klägers kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Afghanistans vorliegt, weil der dieses Abschiebungsverbot feststellende Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juni 2012 mit Bescheid des Bundesamtes vom 11. Juli 2014 zurückgenommen worden und die Klage gegen den Rücknahmebescheid erfolglos geblieben ist (Urteil vom 15.2.2015) .
Entgegen der vom Kläger in der Beschwerdebegründung vertretenen Rechtsauffassung erstreckt sich die materielle Rechtskraft des Urteils vom 15. Februar 2015 auch auf die Feststellung, dass die materielle Rechtskraftwirkung des Urteils vom 18. April 2012 wegen sittenwidrigen Urteilsmissbrauchs (§ 826 BGB) entfallen ist. Mit dem Urteil vom 5. Februar 2015 wurde die Anfechtungsklage des Klägers auf Aufhebung des Rücknahmebescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Juli 2014 abgewiesen. Die Rechtsprechung und die herrschende Lehre gehen bei der Anfechtungsklage von einem zweischichtigen Streitgegenstand aus. Er umfasst neben dem prozessualen Anspruch auf Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts auch die Rechtsbehauptung des Klägers, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Die Entscheidung des Gerichts über die Anfechtungsklage erschöpft sich insoweit nicht darin, dass der Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig ist, sondern umfasst auch die Feststellung, dass die Voraussetzungen der unmittelbaren Ermächtigungsgrundlage – hier § 73c Abs. 1 AsylG für die Rücknahme des Bescheids vom 5. Juni 2012 – vorliegen oder nicht vorliegen (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 121 Rn. 26 m.w.N.). Mit der Abweisung einer Anfechtungsklage als unbegründet wird demnach festgestellt, dass der Kläger keinen Rechtsanspruch auf Aufhebung des angefochtenen Bescheides besitzt und dieser ihn nicht in solchen Rechten verletzt, deren Verletzung die Aufhebung zur Folge haben müsste. Dabei geben erst die tragenden Gründe der Entscheidung Auskunft darüber, weshalb eine Anfechtungsklage abgewiesen wird. Sie sind daher für die Bestimmung der Reichweite der Rechtskraft maßgeblich (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016 § 121 Rn. 21). Die Rechtskraftwirkung des Urteils vom 5. Februar 2015 erstreckt sich somit folglich auch darauf, dass die Voraussetzungen für die Rücknahme des mit Bescheid vom 5. Juni 2012 festgestellten Abschiebungsverbots nach § 73c Abs. 1 AsylG vorliegen, weil der Kläger an keiner psychischen Erkrankung leidet, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen würde. An der Rechtskraftwirkung des Urteils vom 5. Februar 2015 nimmt aber auch die Feststellung des Verwaltungsgerichts teil, dass das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 18. April 2012 der Rücknahme des Bescheides vom 5. Juni 2012 nicht entgegenstehe, weil ein Fall des sittenwidrigen Urteilsmissbrauchs vorliege. Letzteres ist eine für die Bejahung der Anwendbarkeit der Rechtsgrundlage des § 73c Abs. 1 AsylG und dessen Tatbestandsmerkmal der „fehlerhaften“ Feststellung zwingend notwendige Voraussetzung. Das Urteil vom 18. April 2012 ist sachlich unrichtig, weil es von einer psychischen Erkrankung des Klägers ausgeht, die ausweislich des fachpsychiatrischen Gutachtens vom 3. Dezember 2012 von diesem nur vorgespiegelt war. Der Kläger, der von diesem Urteil Gebrauch machte, um die behördliche Feststellung eines Abschiebungsverbots zu erwirken, wusste dies, weil er selbst gegenüber dem Gutachter eingeräumt hatte, dass er die Symptomatik nur vorgespielt habe, um Vorteile zu erlangen.
Damit kommt es nicht mehr darauf an, ob die Rechtskraftwirkung des Verpflichtungsurteils vom 18. April 2012 bereits deshalb entfallen war, weil das fachpsychiatrische Gutachten vom 3. Dezember 2012 eine Änderung der Sachlage darstellt. Denn der Kläger kann sich entsprechend dem Rechtsgedanken des § 826 BGB (vgl. BVerwG, U.v. 19.11.2013 – 10 C 27/12 – juris Rn. 18 f.) gerade nicht auf die Rechtskraft des Urteils vom 18. April 2012 berufen, das das Bundesamt zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verpflichtet, so dass die Rücknahme des Bescheides vom 5. Juni 2012 nach § 73c Abs. 1 AsylG zulässig war. Die Ausführungen des Klägers, wonach bereits aufgrund der Kurzmitteilung des Bezirkskrankenhauses vom 28. Juli 2011 und damit vor Erlass des Verpflichtungsurteils vom 18. April 2012 (Au 6 K 11.30299) feststand, dass der Kläger nicht an einer psychischen Erkrankung litt, die die Feststellung eines Abschiebungsverbots bezüglich Afghanistans rechtfertigte, sind somit nicht entscheidungserheblich. Im Übrigen hat sich der Kläger im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, das zum Urteil vom 18. April 2012 führte, auf eben diese Kurzmitteilung des Bezirkskrankenhauses K. vom 28. Juli 2011 (S. 3 UA) als Indiz für die Schwere seiner psychischen Erkrankung berufen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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