Verwaltungsrecht

Systemische Mängel im Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien

Aktenzeichen  M 30 S 21.50033

Datum:
22.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 20625
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

Es ist derzeit nicht sichergestellt, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Italien für die Dauer eines etwaigen Folgeantragsverfahrens oder bis zur Abschiebung in ihren Herkunftsstaat (wieder) Zugang zu einer staatlichen Unterkunft und Versorgung erhalten. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Italien im Bescheid der Antragsgegnerin vom 4. Januar 2021 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Abschiebungsanordnung nach Italien im Rahmen eines asylrechtlichen Dublin-Verfahrens.
Der seinen Angaben zufolge am … 1995 in …Nigeria geborene Antragsteller nigerianischer Staatsangehörigkeit reiste am 10. September 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt gleichen Tage schriftlich Kenntnis erlangte. Am 16. November 2020 stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag.
Aufgrund eines Eurodac-Treffers … vom 22. Dezember 2017 in … und einer italienischen ID-Card ersuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 4. November 2020 Italien um Wiederaufnahme des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO, worauf die italienischen Behörden nicht reagierten.
Bei seiner Befragung beim Bundesamt am 18. Dezember 2020 gab der Antragsteller an, in Italien einen Asylantrag gestellt und eine negative Entscheidung hierüber erhalten zu haben. Eine Begründung habe er nicht erhalten. Er sei wegen seiner Erkrankung in Deutschland – er habe Hepatitis B und Leberprobleme -, da er in Italien kein Bleiberecht habe und keine medizinische Behandlung erhalte. Seine Behandlung sei nach Ablehnung seines Asylantrags abgebrochen worden. Das sei im Jahr 2019 gewesen und seine Permesso abgelaufen. Seitdem habe er auch keine Medikamente eingenommen. Es wurde eine Bescheinigung des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit vom 4. November 2020 vorgelegt, die einen positiven Hepatitis B Befund aufzeigt.
Daraufhin lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 4. Januar 2021 – Gesch.Z.: … den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf fünfzehn Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz (AsylG) unzulässig sei, da Italien aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Da Italien auf das fristgerechte Übernahmeersuchen nicht reagiert habe, sei die Zuständigkeit mit Ablauf des Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO übergegangen. Die humanitären Bedingungen in Italien führten nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 EMRK oder des Art. 4 EU-Grundrechtecharta (Gr-Ch) vorläge. Insbesondere bestünden in Italien keine systemischen Mängel hinsichtlich des Asylverfahrens. Hierzu wird umfangreich ausgeführt, worauf gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird. Asylsuchende, deren Gesuch abgelehnt worden ist und die zeitnah abgeschoben werden sollen, kämen ebenso wie Migranten, die illegal eingereist seien, kein Asylgesuch gestellt haben und nicht freiwillig ausreisen, in ein CPR-Zentrum (Permanente Rückführungszentren). Soweit bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber mit ihrer Abschiebung zu rechnen hätten, sei dies kein Mangel des Asylverfahrens und nicht menschenrechtswidrig. Italien ermögliche ein Folgeverfahren, für den im Grundsatz dieselben verfahrensrechtlichen Garantien wie für das Erstverfahren gelten würden. Ein solcher könne noch im CPR-Zentrum gestellt werden. Bezüglich seiner medizinischen Beschwerden sei der Antragsteller auf das italienische Gesundheitssystem zu verweisen. Hierzu wird näher ausgeführt. Die notwendige Gesundheitsversorgung sei auch gewährleistet, wenn und solange ein Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel gegeben ist, d.h. vor der Stellung eines Asyl(folge) antrags und nach dessen Ablehnung bis zur etwaigen Erteilung eines Aufenthaltstitels. Es bestehe dann über eine sogenannte STP-Karte, die bei einer öffentlichen lokalen Gesundheitsorganisation oder einem großen Krankenhaus zu beantragen sei, ebenfalls die Möglichkeit eines Zugangs zur kostenlosen medizinischen Behandlung, wenn dieses aufgrund schwerer Erkrankungen dringend erforderlich sei. Abschiebungsverbote für den Antragsteller lägen ebenso wenig vor. Die vorgetragenen medizinischen Beschwerden seien nicht als lebensbedrohlich und nicht so schwerwiegend zu beurteilen. Eine Reiseunfähigkeit läge ebenfalls nicht vor. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen.
Am 13. Januar 2021 hat der Antragsteller zur Niederschrift Klage beim Verwaltungsgericht München gegen den ihm am 8. Januar 2021 ausgehändigten Bescheid vom 4. Januar 2021 erhoben (M 30 K 21.50032). Zur Begründung wird auf den Hepatitis B Befund verwiesen und ein Schreiben von … der Erstaufnahmeeinrichtung vom 16. November 2020 vorgelegt, wonach zur weiteren Therapieplanung ein Termin bei einem Infektiologen/Hausarzt mit Schwerpunkt Infektionskrankheiten benötigt werde.
Gleichzeitig wird im Rahmen vorläufigen Rechtsschutzes beantragt:
Hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Italien wird die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) angeordnet.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten M 30 K 21.50032 und M 30 S 21.50033 sowie die – in elektronischer Form – beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gegen den Bescheid vom 4. Januar 2021 mit der nach § 75 AsylG kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides ist begründet, da die in der Hauptsache erhobene Klage M 30 K 21.50032 nach summarischer Prüfung erfolgversprechend ist und die Interessensabwägung insoweit zugunsten des Antragstellers ausfällt.
Entfaltet ein Rechtsbehelf von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes abzuwägen hat. Insoweit sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs geht die Interessensabwägung vorliegend zu Gunsten des Antragstellers aus, da die erhobene Klage gegen den Bescheid vom 4. Januar 2021 durchaus erfolgversprechend ist und sich die Abschiebungsanordnung des Antragstellers nach Italien gemäß § 34a AsylG im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen wird.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an (vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die Voraussetzungen hierfür sind vorliegend nicht gegeben.
1. Vorliegend wäre aufgrund der Angaben des Antragstellers i.V.m. den Erkenntnissen über den in Italien bereits gestellten und nach antragstellerischen Angaben auch abgelehnten Asylantrag der in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag i.S.v. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG unzulässig und vielmehr Italien der hierfür zuständige Mitgliedstaat gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO. Gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO wäre trotz fehlender Rückmeldung auf das fristgerechte Wiederaufnahmeersuchen auch von der Wiederaufnahme des Antragstellers durch Italien auszugehen.
2. Die Zuständigkeit dürfte jedoch deshalb auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sein, weil eine Überstellung an Italien i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO scheitern dürfte. Es besteht durchaus ein real risk dafür, dass der Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Italiens infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCH ausgesetzt wäre.
a) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Zwar ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Die nationalen Behörden und Gerichte sind aber nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf ein ernsthaftes Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRCH hindeuten, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Diese müssen zudem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nur vorliegt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92, 95).
b) Von solchen Mängeln konnte nach Auffassung des Gerichts in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung bislang sowohl für Schutzsuchende im Asylverfahren wie auch anerkannte Schutzberechtigte (noch) nicht ausgegangen werden, soweit es sich nicht um besonders schutzbedürftige Personen oder Familien handelt (VG München, B.v. 25.02.2020 – M 30 S 19.50262 – juris Rn. 16 mit Verweis auf BayVGH, B.v. 9.9.2019 – 10 ZB 19.50024 – juris Rn. 5; VGH Mannheim, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 42 ff.; OVG Lüneburg, U.v. 4.4.2018 – 10 LB 96/17 – beck-online Rn. 35 ff.; OVG Münster, U.v. 22.9.2016 – 13 A 2448/15.A – beck-online Rn. 52 ff.). Die sich insbesondere aus Berichten der Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), des Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), der Asylum Information Database (AIDA) oder des U.S. Departement of State ergebenden Mängel und Defizite zur Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber seien weder für sich genommen, noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass der dargestellte Schweregrad – jedenfalls nicht bei nichtvulnerablen, gesunden, arbeitsfähigen, alleinstehenden Asylbewerbern – erreicht wäre (vgl. VG München, B.v. 30.7.2018 – M 30 S 18.51449 – beck-online – m.w.N.). Dabei wurde ein zumutbares gewisses Maß an Eigeninitiative der jeweiligen Schutzsuchenden unterstellt, um insbesondere einer Obdachlosigkeit zu entgehen.
Das Gericht hält an dieser Auffassung aufgrund der derzeitigen Unterbringungssituation für Rückkehrer angesichts der aktuellen Erkenntnislage einerseits ((1)) und verschlechterten Bedingungen durch die Corona-Pandemie ((2)) andererseits nicht mehr fest (vgl. auch VG München, B.v. 19.10.2020 – M 22 S 20.50472 – n.v.; a.A. unter anderem VG München, U.v. 28.10.2020 – M 19 K 19.51141 – juris Rn. 37 m.w.N.; VG München, B.v. 8.9.2020 – M 9 S 17.53032 n.v.; VG Würzburg, B.v. 21.12.2020 – W 8 S 20.50319 – juris Rn. 17 ff.; vgl. a. VG Augsburg, U.v. 10.11.2020 – Au 3 K 20.31390 – juris 23 ff.).
(1) Ausgehend von den aktuellen Berichten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BfA – Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11.11.2020) und der Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH – Aufnahmebedingungen in Italien – von Januar 2020 sowie Anfragebeantwortung vom 29.10.2020) ergeben sich hinreichend deutliche Anhaltspunkte, dass nicht nur anerkannt Schutzberechtigte (vgl. insoweit auch Hess.VGH, B.v. 11.1.2021 – 3 A 539/20.A – juris; VG Oldenburg, U.v. 7.7.2020 – 6 A 243/20 – juris Rn.; VG Magdeburg, U.v. 23.6.2020 – 6 A 124/18 MD – asylnet; VG Gelsenkirchen, GB v. 25.5.2020 – 1a K 9184/17.A – juris Rn. 64 ff.; VG Braunschweig, U.v. 21.4.2020 – 3 A 112/19), sondern auch anderweitige Dublin-Rückkehrer unter Umständen keinen Zugang (mehr) zu den italienischen Unterkünften bekommen. Wenn Dublin-Rückkehrende in einem staatlichen Erstaufnahmezentrum oder einer Notunterkunft untergebracht (oder lediglich zugeteilt) waren und dort nicht erschienen oder das Zentrum ohne Benachrichtigung wieder verlassen haben, würden diese Personen ihr Recht auf Unterkunft verlieren (SFH v. Januar 2020 S. 44, 46f; BFA vom 11.11.2020; vgl. a. VG Oldenburg, U.v. 7.7.2020 – 6 A 2437/20 – juris Rn.49 f.). Die Wiederaufnahme in das System werde nur aus triftigen persönlichen Gründen und nur sehr restriktiv ermöglicht (SFH v. Januar 2020 S. 45). In der Auskunft vom 29. Oktober 2020 werden die Chancen, wieder Zugang zu erhalten, als schlecht eingestuft. Während eines erforderlichen Verfahrens auf Wiederaufnahme bestünde kein Zugang zu einer staatlichen Unterkunft (SFH vom Januar 2020 S. 45). Bei Ablehnung gebe es keine alternative staatliche Unterbringungsmöglichkeit (SFH vom Januar 2020, S. 45). Nahezu vierzigtausend Asylsuchende hätten gemäß einer Studie aus den Jahren 2016 und 2017 mindestens ihr Recht auf Unterkunft im Aufnahmesystem verloren (SFH vom Januar 2020, S. 45). Das Verwaltungsgericht Magdeburg führt hierzu folgernd aus, Dublin-Rückkehrer seien in der Übergangsphase bis zur Genehmigung der Wiederaufnahme auf die Hilfe von Freunden oder karitative Einrichtungen, über deren Aufnahmekapazität es keine gesicherten und aussagekräftigen Unterlagen gebe, angewiesen, um der Obdachlosigkeit zu entgegen (VG Magdeburg, B.v. 1.12.2020 – 7 B 375/20 – juris Rn. 29).
Für das Gericht ist daher derzeit nicht sichergestellt, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Ankunft in Italien für die Dauer eines etwaigen Folgeantragsverfahrens oder bis zur Abschiebung in ihren Herkunftsstaat (wieder) Zugang zu einer staatlichen Unterkunft und Versorgung erhalten.
Zwar wird in den Gründen des im Klageverfahren streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes darauf verwiesen, Rückkehrer, deren Asylantrag abgelehnt worden sei, würden in CPR-Zentren – geschlossenen Rückführungszentren – verbracht und könnten von dort aus ein Folgeverfahren unter Gewährleistung von Unterkunft, Versorgung, Zugang zum Gesundheitssystem erlangen. Den vorliegenden Erkenntnismitteln lässt sich eine solche Unterbringung hingegen nicht mit der erforderlichen Gewissheit als grundsätzlich zu erwartende Prozedur entnehmen. Vielmehr dürfte es sich (nur) um eine Möglichkeit handeln, dass Rückkehrer zur Vorbereitung der Abschiebung in ein solches Zentrum verbracht werden. Ob es sich hierbei um den Regelfall handelt, vermag das Gericht hingegen nicht einzuschätzen. Das BFA verweist in der zitierten Länderinformation vom 11. November 2020 lediglich darauf, dass eine Anordnung zur Außerlandesbringung und Schubhaft erfolgen kann. Der Beschreibung des BFA über das Verfahren am Flughafen nach Rücküberstellung, wonach Dublin-Rückkehrer ein Einladungsschreiben mit der Hinweis der zuständigen Quästur – bei der auch grundsätzlich Folgeanträge zu stellen sind – erhalten und dann „auf eigene Faust und eigene Kosten zu dieser Quästur“ innerhalb einer vorgeschriebenen Zeit, in der Regel drei Tage, gelangen müssen (BFA v. 11.11.2020 S.8), untermauert, dass im Regelfall davon auszugehen sein dürfte, dass Dublin-Rückkehrer zunächst vollkommen auf sich gestellt sind. Insbesondere in den Fällen, in denen die italienischen Behörden schon nicht auf das Wiederaufnahmegesuch reagierten, kann daher nicht unterstellt werden, zuvor in Italien bereits abgelehnte Schutzsuchende würden vom Flughafen direkt in ein Rückführungszentrum gebracht. Darüber hinaus werfen die Darstellungen im AIDA Country Report zum Gesetzesdekret 113/2018, wonach ein während der Vollstreckung einer drohenden Abschiebung gestellter Folgeantrag automatisch als unzulässig angesehen und diese Konstellation in der Praxis mitunter weit ausgelegt werde, weitere Fragen in Bezug auf das Vorliegen systemischer Mängel auf (AIDA Country Report Italy Update 2019 S. 82 f.), die den Antragsteller für den Fall einer unmittelbaren Rückführung in eine CPR treffen könnten.
Auch u.a. in den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts München vom 8. September 2020, Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 1. Dezember 2020 oder Verwaltungsgerichts Würzburg vom 21. Dezember 2020 wird die Gefahr benannt, dass Dublin-Rückkehrer obdachlos werden und ausdrücklich der mögliche Verlust des Anspruchs auf Unterbringung behandelt, allerdings das Vorliegen eines systemischen Mangels verneint (VG München, B.v. 8.9.2020 – M 9 S 17.53032 – n.v.; VG Magdeburg, B.v. 1.12.2020 – juris Rn. 29; VG Würzburg, B.v. 21.12.2020 – W 8 S 20.50319 – juris Rn. 20 a.E. bzw. Rn. 25). Dabei sei zu berücksichtigen, dass der italienische Staat sich im Hinblick auf die Aufnahme- und Unterbringungssituation nicht untätig und gleichgültig zeige, sondern Maßnahmen zur Verbesserung ergriffen habe bzw. ergreife (VG Würzburg, a.a.O. Rn. 26). Das vorliegend erkennende Gericht sieht hingegen die Gefahr der Obdachlosigkeit durchaus systemisch in den Regelungen zum Verlust des Unterbringungsrechts (mit) angelegt und drohende Obdachlosigkeit nicht (nur) als Folge von zeitweiligen Überfüllungen oder tatsächlichen Widrigkeiten. Bestrebungen des italienischen Staats, diese – auch von der Schweizer Flüchtlingshilfe als Verstoß gegen die europäischen Vorgaben bezeichnete – europarechtswidrige Vorgehensweise zu beseitigen, sind hingegen nicht gerichtsbekannt. Insbesondere das gerichtsbekannte Schreiben des Ministero dell´ Interno vom 8. Februar 2021 mit Hinweis auf die Einführung eines neuen Schutzsystems und Änderungen im italienischen Aufnahmesystem enthält keine hinreichenden Angaben zur dargestellten Problematik. Es zeigt vielmehr nur auf, dass das System der SIPROIMI nunmehr durch das sog. SAI ersetzt wird, in dem auch Dublin-Familiengruppen in Übereinstimmung mit dem Tarakhel-Urteil des EuGHs untergebracht werden sollen.
(2) Aufgrund der aktuellen Bedingungen in Italien – mit Auswirkungen der Corona-Pandemie – geht das Gericht nach vorläufiger Einschätzung nicht mehr davon aus, dass Dublin-Rückkehrern auf ein zumutbar hohes Maß an Eigeninitiative verwiesen werden können, um einem menschenrechtswidrigen Zustand extremer Not mangels Unterkunft und Versorgung an Nahrung etc. hinreichend zu begegnen.
Insoweit schließt sich das Gericht den Ausführungen der Verwaltungsgerichte Oldenburg und VG Gelsenkirchen zur Situation anerkannt Schutzberechtigter an, die sich in der vorliegenden Konstellation einer Folgeantragstellung ohne staatliche Unterkunft und Versorgung umso schwerer stellt:
„Derzeit ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Versorgungslücken in der Unterbringung durch karitative und soziale Einrichtungen ausgeglichen werden können. Zwar existieren von den Gemeinden, insbesondere in Großstädten wie Rom oder Mailand, angebotene Unterkünfte und Notschlafplätze sowie Hilfen karitativer Einrichtungen (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 71 f).
In diesem Zusammenhang bietet beispielsweise die Gemeinde Rom eine telefonische Notfallhotline an, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Notfallplätze an bedürftige Personen vermittelt. Auf der Homepage werden sieben Zentren für erwachsene Obdachlose und fünf Zentren für Mütter mit Kindern aufgelistet. Diese Zentren sind ausschließlich Schlafunterkünfte, die nur in der Nacht bis zum nächsten Morgen zur Verfügung stehen und für die eine Reservierung nicht möglich ist (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 72 f).
Ebenso existieren auch in Mailand besondere Notunterkünfte. Während der Winterzeit werden die Plätze in Notunterkünften hier erhöht und diese sollen für alle Bedürftigen verfügbar sein. Während der restlichen Zeit des Jahres wird die Kapazität reduziert. Das CASC im Hauptbahnhof ist bei der Suche nach Notunterkünften behilflich. Es befindet sich im Hauptbahnhof Mailands und ist jeden Tag geöffnet (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 73 f).
Valide Zahlen zum tatsächlichen Vorhandensein von Notunterkünften sind kaum erhältlich. Nach Auskunft von aida (vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 95), ergibt sich, dass im April 2017 jedenfalls über 500 Familien in Italien bereit waren, Flüchtlinge unterzubringen. Soweit mit Stand von April 2019 noch etwa 500 Notunterkünfte in karitativen und kommunalen Projekten vorhanden waren (vgl. aida, Country Report: Italy, Update 2018, von April 2019, S. 95), dürften nunmehr als Reaktion auf die Corona-Krise zwar insgesamt 1.100 Notunterkünfte durch katholische Diözesen zur Verfügung gestellt worden sein. Es ist jedoch insoweit festzustellen, dass von diesen insgesamt 1.100 Notunterkünften 300 Plätze für Obdachlose vorgesehen sind und der Rest für Mitarbeiter des Zivilschutzes und des staatlichen Gesundheitssystems sowie für Personen in Quarantäne oder aus einer klinischen Behandlung entlassene Patienten (vgl. https://www.vaticannews.va/de/welt/news/2020-03/corona-virus-italien-gottesdienste-bedingungen-ausgehverbot-kar.html (Aufruf: 03. Juli 2020)).
Vor Beginn der Corona-Pandemie ergab sich aus den vorgenannten Umständen zur Unterkunftssituation für sich genommen (noch) kein Verstoß gegen Art. 4 GRCH und Art. 3 EMRK aufgrund der Aufnahmebedingungen für nicht vulnerable rücküberstellte anerkannte Schutzberechtigte. Dies galt insbesondere unter Berücksichtigung des Umstandes, dass für nicht vulnerable Schutzberechtigte, die nach einer Rückkehr nach Italien tatsächlich von jeglicher staatlicher Versorgung ausgeschlossen gewesen sein sollten, zwar die Situation eintreten konnte, zumindest für eine Übergangszeit auf wohltätige Hilfe der Einrichtungen von Kirche, der Kommunen oder NGOs angewiesen zu sein, sollten sie kein erspartes Geld für eine Unterkunft mehr bei sich haben.
In der aktuellen Situation der Corona-Krise liegen jedoch belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass die vorstehend geschilderten Defizite in der Unterbringungssituation auf absehbare Zeit nicht (mehr) durch kirchliche Organisationen oder wohltätige Nichtregierungsorganisationen effektiv ausgeglichen werden. Dies kann bereits mit Blick darauf angenommen werden, dass die von Diözesen zur Verfügung gestellten Notunterkünfte nunmehr zu einem ganz wesentlichen Anteil Personen zur Verfügung gestellt werden, die diese aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation oder aufgrund ihrer Position im Gesundheitsschutz bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie benötigen. Bereits zuvor haben die nach den vorstehend aufgeführten Zahlen vorhandenen Notunterkünfte nur eine mäßige Entlastung der Situation (vorübergehend) obdachloser Schutzberechtigter bewirkt. Nunmehr ist jedoch beachtlich wahrscheinlich, dass die Rücküberstellung des Klägers einem „real risk“ der drohenden Obdachlosigkeit gleichkäme (vgl. zur Situation eines minderjährigen Rückkehrers: BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19 -, juris, Rn. 23 ff.; vgl. auch VG Minden, Urteil vom 13. November 2019 – 10 K 7608/17.A -, juris).
Dieser Gefahr werden anerkannt Schutzberechtigte, die nach Italien rückgeführt werden, voraussichtlich in absehbarer Zeit auch nicht durch die Aufnahme bezahlter Arbeit, den Bezug staatlicher Sozialleistungen, die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen oder die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes wirksam entgegenwirken können. […]“
(VG Oldenburg, U.v. 7.7.2020 – 6 A 242/20 – juris Rn.51-58; VG Gelsenkirchen, GB v. 25.5.2020 – 1a K 9184/17.A – juris Rn. 88-103).
(3) Es kann daher dahinstehen, ob sich die Situation in Italien derzeit nicht nur für anerkannt Schutzberechtigte (vgl. insoweit HessVGH, B.v. 11.1.2021 – 3 A 539/20.A – juris; VG Oldenburg, U.v. 7.7.2020 – 6 A 243/20 – juris; VG Magdeburg, U.v. 23.6.2020 – 6 A 124/18 MD – asylnet; VG Gelsenkirchen, GB v. 25.5.2020 – 1a K 9184/17.A – juris Rn. 64 ff.; VG Braunschweig, U.v. 21.4.2020 – 3 A 112/19), sondern auch für diejenigen Rückkehrer, die zunächst ein Asylverfahren in Italien zu durchlaufen haben und dann anerkannt werden, als menschenrechtswidrig i.S.v. Art. 3 EMRK gemäß der o.g. Rechtsprechung erweisen wird.
Der Antragsteller dürfte bereits nach Rückkehr nach Italien während eines Folgeantragsverfahrens einer Situation extremer materieller Not ausgesetzt sein, die er nicht mehr ohne weiteres mit einem hohen Maß an Eigeninitiative beseitigen können wird.
Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 4. Januar 2021 somit erfolgversprechend ist, überwiegt das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamtes das öffentliche Vollzugsinteresse.
Dem Antrag ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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