Baurecht

Klage gegen Rückbauanordnung und Nutzungsuntersagung

Aktenzeichen  W 5 K 16.1210

Datum:
21.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 40076
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Art. 55 Abs. 1, Art. 76
BauNVO § 22
BauGB § 34 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Einem Bescheid, mit dem ein Bauantrag abgelehnt wurde, kommt grundsätzlich keine präjudizielle Wirkung zu. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Regelung, wonach keine Abstandsfläche vor Außenwänden erforderlich ist, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf, räumt dem Städtebaurecht den Vorrang ein, soweit es die Errichtung von Gebäuden ohne Grenzabstand regelt. Dazu gehören die Vorschriften über die geschlossene und abweichende Bauweise. Dieser Vorrang des Planungsrechts gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, vielmehr kommt auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise im nicht überplanten Innenbereich grundsätzlich der Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu. (Rn. 36 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Sind im hinteren Bereich Hauptgebäude vorhanden, entspricht ein Vorhaben dort i.d.R. dem Rahmen und es liegt kein Fall der unzulässigen Hinterlandbebauung vor, d.h. das Vorhaben fügt sich in die nähere Umgebung ein. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Landratsamts W. vom 24. Oktober 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Die angefochtene Beseitigungsanordnung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids erweist sich als rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in Art. 76 Satz 1 BayBO, wonach die Bauaufsichtsbehörde die vollständige oder teilweise Beseitigung von im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichteten oder geänderten Anlagen anordnen kann, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände geschaffen werden können.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für ein bauaufsichtliches Einschreiten sind erfüllt. Eine Beseitigungsanordnung kann ergehen, wenn eine Baugenehmigung erforderlich ist, aber eine solche nicht vorliegt (formelle Illegalität) und darüber hinaus eine Genehmigung des Vorhabens auch nicht er-folgen kann, da es an der Genehmigungsfähigkeit fehlt (materielle Illegalität). Die von der Behörde getroffenen Ermessensentscheidung ist nicht zu beanstanden; sie entspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
1.1. Die streitgegenständlichen baulichen Anlagen sind formell rechtswidrig.
Eine Anlage ist formell rechtswidrig, wenn sie Verfahrensvorschriften widerspricht, insbesondere ohne die erforderliche Baugenehmigung oder Zustimmung oder abweichend von ihr oder ohne das sonst erforderliche bauaufsichtliche Verfahren errichtet oder geändert worden ist (vgl. Molodovsky/Waldmann in Molodovsky/Famers/Waldmann, Stand 132. Erg.Lief. Mai 2019, Art. 76 Rn. 29 m.w.N.).
Sowohl die auf dem ohne Baugenehmigung errichteten Wohnhaus des Klägers erstellte Stahlkonstruktion mit Glasüberdachung für eine Dachterrasse mit den Grundmaßen von 3,80 m auf 5,15 m im 2. Obergeschoss als auch die Tragkonstruktion für die geplante Hochterrasse im 1. Obergeschoss mit den Grundmaßen von 5,06 m auf 9,00 m bei einer Höhe von 4,85 m als auch die geschlossene Outdoor-Küche in der offenen Überdachung, die sich an das Wohnhaus Richtung Süden anschließt sind genehmigungspflichtig i.S. von Art. 55 Abs. 1 BayBO. Eine Baugenehmigung ist hierfür erforderlich, was zwischen den Verfahrensbeteiligten auch unstreitig ist. Gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO bedürfen die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von Anlagen der Baugenehmigung, soweit in Art. 56 bis 58, 72 und 73 nichts anderes bestimmt ist. Die bauliche Erweiterung des (nicht genehmigten) Wohngebäudes stellt sich als genehmigungspflichtige Maßnahme i.S.v. Art. 55 Abs. 1 BayBO dar. Ein Ausnahmetatbestand i.S.v. Art. 56 bis 58, 72 und 73 BayBO ist vorliegend nicht gegeben. Insbesondere liegt kein Fall der Verfahrensfreiheit nach Art. 57 BayBO vor.
Der vom Kläger gestellte Bauantrag vom 27. Mai 2016 mit der Vorhabensbezeichnung „Ausbau eines Nebengebäudes zum Hobbyraum, Neubau einer überdachten Dachterrasse, Neubau eines Vordaches und Neubau einer Hochterrasse“, der auf Erteilung der Baugenehmigung für die drei streitgegenständlichen baulichen Anlagen gerichtet war, wurde vom Landratsamt W. mit bestandskräftigem Bescheid vom 24. Oktober 2016, abgelehnt.
Nach allem ist die formelle Illegalität der streitgegenständlichen baulichen Anlagen zu bejahen.
1.2. Die streitgegenständlichen baulichen Anlagen sind auch materiell rechtswidrig.
Materiell rechtswidrig ist eine bauliche Anlage, wenn die Maßnahme (Errichtung oder Änderung einer Anlage) mit dem materiellen Recht nicht übereinstimmt und auch nicht nachträglich in Einklang gebracht werden kann (vgl. Decker in Simon/Busse, BayBO, Stand 135. Erg. Lief. Dez. 2019, Art. 76 Rn. 100).
1.2.1. Die materielle Rechtswidrigkeit der Anlage ist von der Bauaufsichtsbehörde im Verfahren auf Erlass einer Beseitigungsanordnung zu prüfen. Fraglich ist allerdings in diesem Zusammenhang, ob durch frühere Entscheidungen der Bauaufsichtsbehörde über die inmitten stehende Anlage, wie z. B. die – bestandskräftige – Ablehnung eines entsprechenden Bauantrages, die Bauaufsichtsbehörde nicht von einer neuerlichen Prüfung der materiellen Rechtswidrigkeit absehen muss, zumindest aber in der Sache nicht mehr anders entscheiden kann. Das ist umstritten (vgl. Decker in Simon/Busse, Art. 76 Rn. 108). Die Kammer schließt sich der insbesondere von der Rechtsprechung vertretenen Auffassung (vgl. BVerwG, U.v. 6.6.1975 – IV C 15.73 – BVerwGE 48, 271; U.v. 17.10.1989 – 1 C 18.87 – BVerwGE 84, 11; B.v. 9.3.1990 – 4 B 145/88 – juris; BayVGH, B.v. 29.6.2004 – 20 CS 04.1399 – juris) an, wonach dem einen Bauantrag ablehnenden Bescheid grundsätzlich (Ausnahme: soweit der Versagungsbescheid Gegenstand eines rechtskräftigen Gerichtsurteils war, das die Rechtmäßigkeit des die Baugenehmigung versagenden Bescheides bestätigt) keine präjudizielle Wirkung zukommt.
1.2.2. Vorliegend ergibt sich die materielle Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen baulichen Anlagen zunächst aus einem Verstoß gegen die bauordnungsrechtlichen Vorschriften über das Abstandsflächenrecht (Art. 6 BayBO).
Nach dem Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden einzuhalten. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO nach der Wandhöhe. Sie beträgt nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO 1 H, mindestens 3 m.
Vorliegend werden hinsichtlich der Stahlkonstruktion mit Glasüberdachung für eine Dachterrasse mit den Grundmaßen von 3,80 m auf 5,15 m im zweiten Obergeschosses des in den Jahren 1997 bis 2002 errichteten Wohnhauses des Klägers die erforderlichen Abstandsflächen von 1 H, mindestens 3 m nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO Richtung Westen, zum Grundstück Fl.Nr. 37 nicht eingehalten. Die Stahlkonstruktion mit Glasüberdachung für eine Dachterrasse wurde im zweiten Obergeschoss des Wohnhauses des Klägers in einer Höhe von 7,47 bis 8,24 m unmittelbar an der westlichen Grundstücksgrenze errichtet. Auch die im ersten Obergeschoss errichtete Tragkonstruktion für die geplante Hochterrasse mit den Grundmaßen von 5,06 m auf 9,00 m bei einer Höhe von 4,85 m hält die erforderlichen Abstandsflächen von 1 H Richtung Westen (tatsächlicher Grenzabstand von 2,40 m) wie auch Richtung Süden (tatsächlicher Grenzabstand von 3,35 m), jeweils zum Grundstück Fl.Nr. 37 nicht ein. Von der Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen geht auch die Klägerseite aus, wenn sie im Bauantrag vom 27. Mai 2016 sowohl hinsichtlich der Dachterrasse als auch der Hochterrasse eine „Abstandsflächenübernahme“ darstellt (vgl. Planzeichnungen und Antrag). Auch die geschlossene Outdoor-Küche in der offenen Überdachung, die in grenzständiger Bauweise zum Grundstück Fl.Nr. 37 errichtet wurde, hält die erforderlichen Abstandsflächen nicht ein. Gegenüber der vormals in zimmermannsmäßiger Holzkonstruktion errichteten Halle (Holzlege) ist nun bei der Errichtung einer „Outdoor-Küche“ in gemauerter Ausführung (auch) aufgrund der geänderten Nutzung eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung durchzuführen.
Entgegen der Meinung der Klägerseite besteht auch kein Anspruch auf Erteilung einer Abweichung von dem Erfordernis des Einhaltens von Abstandsflächen. Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen u.a. von den Anforderungen dieses Gesetzes zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Das Landratsamt W. hat den Bauantrag des Klägers mit Bescheid vom 24. Oktober 2016 (bestandskräftig) abgelehnt und ist hierbei davon ausgegangen, dass ein Antrag auf Abweichung nach Art. 63 BayBO abzulehnen ist, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Die Kammer teilt diese Auffassung. Es ist von Klägerseite nichts vorgetragen oder auch sonst nichts ersichtlich, was dafür sprechen würde, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO gegeben wären. Im Übrigen handelt es sich bei der Entscheidung über die Erteilung einer Abweichung um eine Ermessensentscheidung. Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend eine Ermessensreduzierung auf null gegeben wäre, sind weder von Klägerseite vorgetragen noch sonst wie ersichtlich. Soweit von Klägerseite vorgebracht wird, dass die Hochterrasse mit Rücksicht auf die Nachbarn nicht an die Grundstücksgrenze, sondern um 2,40 m eingerückt von der Grundstücksgrenze errichtet worden sei und sich damit im Hinblick auf den Zweck des Abstandsflächenrechts eine verbesserte Situation ergebe, kann dies offenkundig eine Ermessensreduzierung auf null nicht rechtfertigen.
Schließlich führt auch die Regelung des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO – anders als die Klägerseite meint – vorliegend nicht dazu, dass die streitgegenständlichen baulichen Anlagen die nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 BayBO erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalten müssten. Im Einzelnen:
Eine Abstandsfläche ist nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf (bauplanungsrechtlich zulässiger oder gebotener Grenzanbau). Diese Regelung räumt dem Städtebaurecht den Vorrang ein, soweit es die Errichtung von Gebäuden ohne Grenzabstand regelt. Dazu gehören die Vorschriften über die geschlossene (§ 22 Abs. 3 BauNVO) und abweichende Bauweise (§ 22 Abs. 4 BauNVO). Nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO werden in der offenen Bauweise die Gebäude mit seitlichem Grenzabstand (Bauwich) als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder als Hausgruppen mit einer Länge von höchstens 50 m errichtet. Nach § 22 Abs. 3 Satz 1 BauNVO werden in der geschlossenen Bauweise die Gebäude ohne seitlichen Grenzabstand errichtet, es sei denn, dass die vorhandene Bebauung eine Abweichung erfordert.
Dieser Vorrang des Planungsrechts gilt nicht nur für Festsetzungen in Bebauungsplänen, vielmehr kommt auch der tatsächlich vorhandenen Bauweise im nicht überplanten Innenbereich grundsätzlich der Vorrang vor dem Abstandsflächenrecht zu (vgl. Dhom/Franz/Rauscher in Simon/Busse, BayBO, Art. 6 Rn. 33 f. m.w.N. zur Rspr.). Eine solche geschlossene Bauweise (Bebauung der seitlichen Grundstücksgrenzen) bzw. abweichende Bauweise kann also nicht nur in einem Bebauungsplan festgesetzt werden, sondern sie kann sich in den Fällen, in denen nach § 34 BauGB der planungsrechtliche Beurteilungsmaßstab für die Zulässigkeit eines Bauvorhabens die vorhandene Bebauung ist, auch aus dieser ergeben, mit der Folge, dass sie dann die verbindliche Bauweise ist.
Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO kommt nach zutreffender Auffassung auch dann zur Anwendung, wenn die vorhandene Mischung von Gebäuden in der Umgebung des Baugrundstücks mit und ohne seitlichen Grenzabstand „regellos“ erscheint (BayVGH, B.v. 8.10.2013 – 9 CS 13.1636; U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363; U.v. 20.10.2010 – 14 B 09.1616; alle juris). Nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist für eine einschränkende Auslegung, dass diese Vorschrift bei „regelloser“ Bauweise nicht zur Anwendung komme, kein Raum.
Nach § 22 Abs. 4 Sätze 1 und 2 BauNVO kann eine von Abs. 1 abweichende Bauweise festgesetzt werden, wobei auch festgesetzt werden kann, inwieweit an die vorderen, rückwärtigen und seitlichen Grundstücksgrenzen herangebaut werden darf oder muss. Eine solche abweichende Bauweise stellt auch die „halboffene“ Bauweise dar, d.h. an einer Grenze wird angebaut, zur anderen Grenze ist ein seitlicher Abstand einzuhalten. Diese Bauweise kann aber nicht nur in einem Bebauungsplan festgesetzt werden, sondern sie kann sich in den Fällen, in denen nach § 34 BauGB der planungsrechtliche Beurteilungsmaßstab für die Zulässigkeit eines Bauvorhabens die vorhandene Bebauung ist, auch aus dieser ergeben; dies hat zur Folge, dass sie dann die verbindliche Bauweise ist (BayVGH, U.v. 19.11.1976 – 298 I 74 – juris).
Entscheidend sind bei § 22 BauNVO die Gebäude der Hauptnutzung. Denn die Festsetzung der halboffenen Bauweise bezieht sich ebenso wie die regellose Bebauung nur auf Hauptgebäude. Hiervon werden aber z.B. Garagen und (untergeordnete) Nebenanlagen nicht erfasst, mit der Folge, dass sie dementsprechend nicht grenzständig errichtet werden müssen (vgl. Blechschmidt in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB – BauNVO, Stand 135. Erg. Lief. Sept 2019, § 22 BauNVO Rn. 7 und 37). Für die Nichtanwendbarkeit des § 22 BauNVO auf Nebengebäude und Garagen spricht schon vom Wortlaut der Verordnung her die zentrale Stellung, die dem Begriff „Haus“ dort – nämlich in § 22 Abs. 2 BauNVO – eingeräumt wird (BayVGH, B.v. 23.4.2004 – 20 B 03.3002 – juris).
Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßstäbe ist vorliegend – nach Überprüfung anhand der in den Gerichts- und Behördenakten enthaltenen Lageplänen und Luftbildern – im rückwärtigen Grundstücksbereich nicht von einer regellosen, sondern von einer offenen Bauweise auszugehen. Im Einzelnen:
Die für die Beurteilung maßgebliche Umgebung wird begrenzt durch die G…straße im Osten, die H.- straße im Norden, die L.-straße in Westen und den … …bach im Süden.
In dem so bestimmten Bereich der maßgeblichen Bebauung weisen die betroffenen Grundstücke in ihrem vorderen Bereich jeweils eine Wohnbebauung (Hauptnutzung) an einer seitlichen Grundstücksgrenze auf, so dass insoweit von einer halboffenen Bauweise ausgegangen werden kann: So ist das im Westen des fraglichen Bereichs gelegene Grundstück Fl.Nr. 48 (H.-straße …) an seiner östlichen Grundstücksgrenze mit einem Wohnhaus bebaut. Gleiches gilt für das sich in Richtung Osten anschließende Grundstück Fl.Nr. 46 (H.-straße …). Auf dem Grundstück Fl.Nr. 44 (H.-straße …) findet sich das Wohnhaus an der westlichen Grundstücksgrenze, ebenso auf dem Grundstück Fl.Nr. 42 (H.-straße …). Auf den sich Richtung Osten anschließenden Grundstücken Fl.Nr. 41 (H.- straße …), Fl.Nr. 39 (H.-straße …) und Fl.Nr. 37 (H.-straße …) befindet sich das Wohnhaus jeweils an der östlichen Grundstücksgrenze. Das Baugrundstück selbst ist an seiner östlichen Grundstücksgrenze mit einem Wohnhaus (H.-straße …) und an seiner westlichen Grundstücksgrenze (deutlich zurückgesetzt von der H.-straße) im mittleren und rückwärtigen Grundstücksbereich mit einem weiteren – nicht genehmigten – Wohnhaus (H.-straße …) bebaut. Östlich des Baugrundstücks befindet sich auf den Grundstücken Fl.Nr. 33 (H.-straße …), Fl.Nr. 32/3 (H.-straße …) und Fl.Nr. 30 (H.-straße …) die Wohnbebauung an der westlichen Grenze, während auf dem Grundstück Fl.Nr. 28 (H.-straße …) – am östlichen Rand des Untersuchungsbereichs – das Wohnhaus in Grenznähe zur östlichen Grenze errichtet wurde. Bei all diesen Grundstücken ist der vordere Bereich an der jeweils anderen Grundstücksgrenze von einer Bebauung vollständig freigehalten (Fl.Nrn. 46, 41, Baugrundstück, Fl.Nrn. 32/3, 30 und 28) bzw. nur mit einem Nebengebäude bebaut (Fl.Nrn. 48, 44, 42, 39, 37 und 33).
Im – hier allein maßgeblichen – rückwärtigen Grundstücksbereich befindet sich lediglich auf dem Baugrundstück an einer seitlichen Grundstücksgrenze eine – ungenehmigte – Wohnnutzung. Auf allen anderen Grundstücken im Bereich der näheren Umgebung findet sich keinerlei Hauptnutzung in Form einer Wohnnutzung oder einer gewerblichen Nutzung an einer seitlichen Grenze im rückwärtigen Bereich. Auch eine Überprüfung der von Klägerseite vorgebrachten „Bezugsfälle“ anhand der dem Gericht vorliegenden Behördenakten führt zu keinem anderen Ergebnis: So wurde für das Grundstück Fl.Nr. 48 im rückwärtigen Bereich an der östlichen Grundstücksgrenze gerade keine Wohnnutzung, sondern der Neubau eines Nebengebäudes genehmigt. Die von Klägerseite thematisierte Erweiterung der Wohnnutzung betrifft ausschließlich den vorderen Grundstücksbereich (vgl. Baugenehmigung des Landratsamts W. vom 4.10.1996 – BV-Nr. …). Auch auf dem Grundstück Fl.Nr. 46 wurde ausweislich der vorgelegten Bauakten lediglich im vorderen Bereich eine Erweiterung der Wohnbebauung genehmigt (vgl. Baugenehmigung vom 9.3.1992 – BV-Nr. …), im rückwärtigen Bereich wurde an der westlichen Grundstücksgrenze lediglich eine Remise als Teilbestand des abgebrochenen Scheunentraktes (vgl. Baugenehmigung vom 14.9.1992 – BV-Nr. …) genehmigt. Auf dem Grundstück Fl.Nr. 44 wurde im rückwärtigen Grundstücksbereich ebenfalls keine Wohnbebauung genehmigt, sondern lediglich eine Fertiggarage (Baugenehmigung vom 23.8.1965 – BV-Nr. …) bzw. eine Scheune; der Wohnhausanbau betrifft nicht den rückwärtigen Grundstücksbereich (Baugenehmigung vom 5.6.1968 – BV-Nr. …). Auf den Grundstücken Fl.Nrn. 42 und 39 wurde im rückwärtigen Bereich ebenfalls keine Wohnnutzung genehmigt, sondern landwirtschaftliche Nutzungen (vgl. Baugenehmigung vom 8.5.1968 – BV-Nr. … und Baugenehmigung vom 14.2.1967 – BV-Nr. …). Auf dem Grundstück Fl.Nr. 33 wurde im rückwärtigen Bereich ebenfalls keine Wohnnutzung genehmigt, sondern ein Gartenhaus (vgl. Baugenehmigung vom 17.4.2001 – BV-Nr. …). Hinsichtlich der von Klägerseite vorgebrachten Veranstaltungshalle im rückwärtigen Bereich des Grundstücks Fl.Nr. 32/2 sind nach Mitteilung des Landratsamts Bauakten ebenso wenig vorhanden wie hinsichtlich einer gewerblichen Nutzung auf dem Grundstück Fl.Nr. 30, so dass insoweit auch nicht von der Erteilung einer Baugenehmigung ausgegangen werden kann. Die Erweiterung des Wohnhauses auf dem Grundstück Fl.Nr. 28 betrifft lediglich den vorderen Grundstücksbereich (vgl. Baugenehmigung vom 21.7.1994 – BV-Nr. …).
Nach allem kommt die Kammer zu der Überzeugung, dass die streitgegenständlichen baulichen Anlagen, die dem Kläger zu Wohnzwecken dienen sollen, nicht gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO an die Grenze gebaut werden dürfen. Vielmehr haben diese gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO Abstandsflächen einzuhalten, was tatsächlich aber nicht der Fall ist. Damit ergibt sich die materielle Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen baulichen Anlagen aus einem Verstoß gegen die Vorschriften über das Abstandsflächenrecht.
1.2.3. Darüber hinaus ergibt sich die materielle Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen baulichen Anlagen auch aus einem Verstoß gegen die Vorschriften des Bauplanungsrechts.
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der streitgegenständlichen Vorhaben richtet sich nach § 34 BauGB, da sie sich im unbeplanten Innenbereich von R…befinden.
Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist.
Die streitgegenständlichen Vorhaben des Klägers genügen hinsichtlich des Merkmals der überbaubaren Grundstücksfläche nicht den Anforderungen des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB.
Ein Vorhaben fügt sich im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein, wenn es bezogen auf die in dieser Vorschrift genannten Kriterien den aus seiner Umgebung für jedes von ihnen gesondert abzuleitenden Rahmen einhält, indem es dort ein „Vorbild“ oder eine „Entsprechung“ findet, es sei denn, das Vorhaben würde es an der gebotenen Rücksichtnahme auf die Umgebungsbebauung fehlen lassen. Das Erfordernis des „Einfügens“ hindert indes nicht schlechthin daran, den vorgegebenen Rahmen zu überschreiten. Ist letzteres der Fall, fügt sich das Vorhaben in seine Umgebung gleichwohl ein, wenn es weder selbst noch infolge einer Vorbildwirkung geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche und erst noch ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen oder vorhandene Spannungen zu erhöhen (vgl. BVerwG, B.v. 25.3.1999 – 4 B 15.99; B.v. 4.10.1995 – 4 B 68.95; B.v. 23.7.1993 – 4 B 59.93; alle juris).
Die für die Beurteilung des Einfügens eines Bauvorhabens maßgebliche „nähere Umgebung“ wird dadurch ermittelt, dass in zwei Richtungen, nämlich in Richtung vom Vorhaben auf die Umgebung und in Richtung von der Umgebung auf das Vorhaben geprüft wird, wie weit die jeweiligen Auswirkungen reichen. Die für das Einfügen nach diesem Kriterium maßgebliche nähere Umgebung unterscheidet sich in der konkreten Grundstückssituation nicht von der für die Frage der Bauweise herausgearbeiteten (s.o. unter 1.2.2.).
Entgegen der Auffassung des Klägers fügen sich die streitgegenständlichen Vorhaben auch im Hinblick auf die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Das Einfügen i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB beurteilt sich insoweit nach der konkreten Grundfläche des in Frage stehenden Vorhabens und nach dessen räumlicher Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung (BVerwG, B.v. 16.6.2009 – 4 B 50.08; B.v. 17.9.1985 – 4 B 167.85; beide juris).
Zu berücksichtigen ist im vorliegenden Fall, dass es hier nicht um eine Bebauung im vorderen, sondern im hinteren, also dem der Straße abgewandten, Grundstücksbereich als sog. Hinterlandbebauung (vgl. Wolf in Simon/Busse, BayBO, Art. 4 Rn. 92) handelt. Maßgeblich ist daher, ob die Eigenart der näheren Umgebung durch eine solche Bebauung geprägt ist (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB – BauNVO, § 34 BauGB Rn. 57). Merkmale des Vorhabens einer Hinterlandbebauung liegen insbesondere darin, dass die zu bebauende Grundstücksfläche hinter der vorderen, zur Erschließungsstraße ausgerichteten Bebauung gelegen ist. Bauplanungsrechtlich in gleicher Weise zu beurteilen sind solche Gebäude, die die rückwärtige faktische Baugrenze deutlich überschreiten (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB – BauNVO, § 34 BauGB Rn. 57). Sind im hinteren Bereich Hauptgebäude vorhanden, entspricht ein Vorhaben im hinteren Bereich i.d.R. dem Rahmen und es liegt kein Fall der unzulässigen Hinterlandbebauung vor, d.h. das Vorhaben fügt sich in die nähere Umgebung ein. Dabei kann unerheblich sein, ob die eine oder andere Art der Nutzung als im hinteren Bereich vorhanden verwirklicht werden soll, z.B. Nutzungsänderung eines gewerblichen Hauptgebäudes in ein Wohngebäude (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB – BauNVO, § 34 BauGB Rn. 57 unter Verweis auf BVerwG, B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97 – juris).
Eine rückwärtige Bebauung mit einem Hauptgebäude ist deshalb unzulässig, wenn im hinteren Bereich der umliegenden Grundstücke nur Nebenanlagen vorhanden sind (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB – BauNVO, § 34 BauGB Rn. 57 unter Verweis auf BVerwG, B.v. 28.4.1988 – 4 B 175.88 und B.v. 6.11.1997 – 4 B 172.97; beide juris). Die Nutzungsart einer rückwärtigen Bebauung würde allerdings dann keine Rolle spielen, wenn und soweit es sich dabei um Hauptgebäude handeln würde. Wären etwa in der Umgebung in den rückwärtigen Grundstücksflächen gewerblich genutzte Gebäude vorhanden, so könnte der Bauabsicht des Klägers nicht entgegengehalten werden, dass bisher keine rückwärtige – in dem Gebiet an sich sonst zulässige – Wohnbebauung vorhanden sei.
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob im maßgeblichen Bereich die rückwärtigen Grundstücksteile nur mit Nebengebäuden oder auch mit Hauptgebäuden bebaut sind. Während der Beklagte davon ausgeht, dass die Hauptnutzungen ausschließlich dem vorderen Grundstücksbereich zuzuordnen sind und es sich bei den Gebäuden in zweiter Reihe lediglich um Nebenanlagen handelt, ist der Kläger der Auffassung, dass im hinteren Grundstücksbereich Hauptnutzungen in Form von Wohnnutzungen, Wohnnebennutzungen aber auch gewerblichen Nutzungen genehmigt worden bzw. jedenfalls tatsächlich vorhanden seien.
Wie bereits festgestellt (s.o. unter 1.2.2.) befindet sich im Bereich der näheren Umgebung im rückwärtigen Grundstücksbereich (mit Ausnahme der ungenehmigten Bebauung des Baugrundstücks) keinerlei Hauptnutzung in Form einer Wohnnutzung oder einer gewerblichen Nutzung, sondern ausschließlich Nebengebäude bzw. ehemals landwirtschaftlich genutzte Gebäude.
Nach allem spricht vieles dafür, dass die Vorhaben des Klägers den Rahmen der vorhandenen Bebauung der maßgeblichen näheren Umgebung im Hinblick auf die konkrete Grundfläche, die überbaut werden soll, überschreiten. Letztlich kann diese Frage aber auch offenbleiben, denn jedenfalls verstoßen die Vorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Im Einzelnen:
Überschreitet nämlich ein Vorhaben nach den og. rechtlichen Maßstäben den vorgefundenen Rahmen der Umgebungsbebauung nicht, sondern hält diesen in jeder Hinsicht ein, fügt es sich gleichwohl in seine Umgebung dann nicht ein, wenn das Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf die sonstige, d.h. vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt, mithin sich gegenüber einem Nachbarn als rücksichtslos erweist (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.2010 – 4 C 7.10; U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77; beide juris). Auf die Eignung zur Auslösung städtebaulicher (bodenrechtlicher) Spannungen kommt es demgegenüber nur an, wenn es um die Beurteilung der Zulässigkeit eines Vorhabens geht, das den aus der Umgebung ableitbaren Rahmen überschreitet. Das Gebot der Rücksichtnahme ist mit dem Verbot der Begründung oder Erhöhung bodenrechtlich beachtlicher Spannungen nicht in jeder Beziehung identisch. Das Gebot der Rücksichtnahme dient dem Schutz der sonstigen, d. h. vor allem der in der unmittelbaren Nähe des Vorhabens vorhandenen, Bebauung vor nicht hinnehmbaren Beeinträchtigungen. Bodenrechtlich beachtliche und bewältigungsbedürftige Spannungen sind demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass das Vorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft, die Voraussetzungen für seine Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen. Nicht jedes Vorhaben, das bodenrechtlich beachtliche Spannungen begründet oder erhöht und deshalb ein Planungsbedürfnis auslöst, ist gleichzeitig rücksichtslos. Umgekehrt wird aber ein Vorhaben, das gegenüber der Nachbarschaft rücksichtslos ist, auch städtebaulich relevante Spannungen hervorrufen (vgl. BVerwG, U.v. 16.9.2010 – 4 C 7.10 – juris).
Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 – IV C 22/75 – juris) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleis-ten. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und un-abweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben ver-folgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1/78 – juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Nachbarn des Klägers aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm als Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist (vgl. Dürr in Brügelmann, BauGB, Stand 112. Erg.Lief. Okt. 2019, § 34 Rn. 52 m.w.N. zur Rspr.).
Dass das Vorhaben der Beigeladenen in dem gekennzeichneten Sinn „rücksichtslos“ ist, ergibt sich im Einzelnen aus folgenden Überlegungen:
Hierfür spricht zunächst, dass die streitgegenständlichen Vorhaben des Klägers die bauordnungsrechtlich geforderten Abstandsflächen (Art. 6 BayBO) nicht einhalten. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die vom Abstandsflächenrecht geschützten Belange einer ausreichenden Belichtung, Belüftung, Besonnung und Wahrung des Wohnfriedens auch städtebauliche Bedeutung haben (BVerwG, U.v. 16.5.1991 – 4 C 17/90; U.v. 11.1.1999 – 4 B 128/98; beide juris). Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot, das selbständig neben den bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften zu prüfen ist, im Hinblick auf die genannten Belange auch dann verletzt sein kann, wenn die Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind (BVerwG, B.v. 11.1.1999 – 4 B 128/98 – juris). Mit diesem Grundsatz lässt sich aber nicht im Umkehrschluss bei jedem Verstoß gegen Abstandsflächenvorschriften ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot herleiten. Denn das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Grundstückseigentümer nicht das Recht, von jeder (auch ggf. rechtswidrigen) Veränderung auf dem Nachbargrundstück verschont zu bleiben. Vielmehr kommt es darauf an, inwieweit durch die Nichteinhaltung des erforderlichen Grenzabstands die Nutzung des Nachbargrundstücks tatsächlich unzumutbar beeinträchtigt wird. Allerdings liegt es nahe, bei offenkundig nicht eingehaltenen Abstandsflächen zu prüfen, ob hierin nicht zugleich auch eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme gesehen werden kann (vgl. Wolf in Simon/Busse, BayBO, Art. 59 Rn. 51). Entscheidend sind die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls (vgl. statt vieler BayVGH, B.v. 13.4.2018 – 15 ZB 17.342 – juris m.w.N.).
Dieser offensichtliche Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht – wie unter Ziffer 1.2.2. festgestellt -, zieht aufgrund der hier gegebenen tatsächlichen Verhältnisse des konkreten Einzelfalls in bauplanungsrechtlicher Hinsicht für den westlichen Grundstücksnachbarn des Klägers auch unzumutbare Auswirkungen und damit einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme nach sich. Die Kammer ist unter Heranziehung der in der Gerichts- und Behördenakte enthaltenen Licht- und Luftbilder zu der Überzeugung gelangt, dass das Grundstück des westlichen Nachbarn des Klägers sowohl durch die Hochterrasse als auch durch die Dachterrasse einer nicht mehr zumutbaren Belastungswirkung ausgesetzt wird. Unabhängig von der Frage, ob das Vorhaben des Klägers eine erdrückende oder abriegelnde Wirkung entfaltet, wirken die grenzständige Dachterrasse wie auch die etwas von der Grenze zurückgesetzte Hochterrasse aus Blickrichtung des Grundstücks des westlichen Nachbarn des Klägers – wie sich den in den Behördenakten enthaltenen Lichtbildern eindrucksvoll entnehmen lässt – auch aufgrund ihrer Höhenentwicklung jedenfalls als zwei überdimensionierte, städtebauliche Fremdkörper, durch deren optische Wirkung der Nachbar bereits in unzumutbarer Weise belastet wird. Angesichts der hierdurch sehr massiv und fremd wirkenden, grenzständigen bzw. von der Grenze etwas zurückgesetzten Bauten kann auch nicht von einer nur vernachlässigbaren Beeinträchtigung der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange (hier: Wohnfrieden) ausgegangen werden. In der anzustellenden Gesamtbetrachtung der baulichen Situation sind v.a. die durch die im ersten und zweiten Obergeschoss geschaffenen Einsichtsmöglichkeiten in das Grundstück des westlichen Nachbarn in den Blick zu nehmen. Der Nachbar ist von den sich durch die beiden über das Wohngebäude des Klägers und die unmittelbar angrenzende nachbarliche Bebauung hinausragenden Terrassen des Klägers eröffnenden Einsichtsmöglichkeiten in sein Grundstück in besonderem Maße betroffen. Zwar gewähren die Bestimmungen des Bauplanungsrechts – und damit auch das in ihnen enthaltene Rücksichtnahmegebot – nicht generell, sondern nur in Ausnahmefällen einen Schutz vor Einsichtnahme (vgl. BayVGH, B.v. 13.4.2018 – 15 ZB 17.342 – juris m.w.N zur Rspr.). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nach den dargelegten Umständen jedoch vor. Die sich durch die im Streit stehenden Dachterrassen für den Kläger bietenden Einsichtsmöglichkeiten erweisen sich für den Nachbarn als unzumutbar. Die Dachterrassen ermöglichen aus kurzer Entfernung eine Einsicht in den gesamten rückwärtigen Grundstücksbereich. Dies wiegt hier besonders schwer, als diese Einsichtsmöglichkeiten im Rahmen einer Wohnnutzung im rückwärtigen Grundstücksbereich geschaffen werden, der im Umgriff des Baugrundstücks von jeglicher Wohnbebauung freigehalten ist.
Schließlich ist hier im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten des westlichen Grundstücksnachbarn noch zu berücksichtigen, dass die streitgegenständlichen Vorhaben im baulichen Zusammenhang mit dem Wohnhaus des Klägers ausgeführt wurden, das dieser in der Vergangenheit (ebenfalls) in formell und materiell illegaler Weise errichtet hat und dessen bauaufsichtliche Genehmigung wegen Verstoßes gegen bauordnungsrechtliche wie auch gegen bauplanungsrechtliche Vorschriften mit Bescheid des Landratsamts W. vom 7. Februar 2005 bestandskräftig versagt wurde. Dass der schon seit Jahren bestehende baurechtswidrige Zustand des klägerischen Wohnhauses durch die streitgegenständlichen Vorhaben noch zusätzlich verschärft werden würde, ist dem unmittelbar angrenzenden Grundstücksnachbarn im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung jedenfalls nicht mehr zuzumuten.
Gegenüber diesen schutzwürdigen Belangen des westlichen Grundstücksnachbarn kann der Kläger für die von ihm verfolgten Planungsziele keine eigenen schutzwürdigen Interessen geltend machen.
Die Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung der örtlichen Gesamtsituation führt im Ergebnis aufgrund der kumulierenden, besonderen Gesamtumstände dazu, dass die aus der Verwirklichung der vom Kläger geplanten Vorhaben resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was der westliche Grundstücksnachbar noch hinzunehmen hat.
Nach allem erweisen sich die streitgegenständlichen Vorhaben als materiell rechtswidrig.
1.3. Die behördliche Ermessenentscheidung ist gerichtlich ebenfalls nicht zu beanstanden. Die Beseitigungsanordnung, die nach dem Wortlaut des Art. 76 Satz 1 BayBO im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde steht („kann“), wahrt die gesetzlichen Grenzen des Ermessens und entspricht dem Zweck der Ermächtigung (§ 114 Satz 1 VwGO). Grundsätzlich entspricht es bei Anwendung des Art. 76 Satz 1 BayBO pflichtgemäßer Ermessensausübung, gegen formell und materiell rechtswidrige bauliche Anlagen einzuschreiten.
Insbesondere genügt die behördliche Entscheidung auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Danach muss jede geeignete und auch sonst zulässige Maßnahme einer Behörde in einem angemessenen Verhältnis zu einem in Folge der Maßnahme zu erwartenden Nachteil stehen. Mildere Mittel sind nicht ersichtlich; insbesondere kann die von Klägerseite erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Anbringung eines Sichtschutzes an den beiden Dachterrassen keine gleich geeignete Maßnahme zur Herstellung baurechtskonformer Zustände darstellen.
2. Die angefochtene Nutzungsuntersagung in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids erweist sich (ebenfalls) als rechtmäßig.
Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit der Nutzungsuntersagung bestehen nicht.
In materieller Hinsicht ist die Nutzungsuntersagung ebenfalls nicht zu beanstanden. Nach Art. 76 Satz 2 BayBO kann die Nutzung untersagt werden, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt werden. Anerkanntermaßen genügt für die Nutzungsuntersagung grundsätzlich die formelle Rechtswidrigkeit der Nutzung (BayVGH, B.v. 8.6.2015 – 2 ZB 15.61 – juris; Wolf in Simon/Busse, BayBO, Art. 76 Rn. 282 m.w.N.). Da die Nutzungsuntersagung in erster Linie die Funktion hat, den Bauherrn auf das Genehmigungsverfahren zu verweisen, muss grundsätzlich nicht geprüft werden, ob das Vorhaben auch gegen materielles Recht verstößt. Anders als bei der Beseitigungsanordnung nach Art. 76 Satz 1 BayBO kommt es nicht darauf an, ob auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. Damit ist es grundsätzlich unerheblich, ob die untersagte Nutzung (auch) gegen materielles Recht verstößt. Auch von Klägerseite wird nicht bestritten, dass der Umbau und die Nutzung der offenen Überdachung als Outdoor-Küche als formell illegal anzusehen ist. Eine Baugenehmigung ist hierfür erforderlich, was zwischen den Verfahrensbeteiligten auch unstreitig ist. Gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO bedürfen die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von Anlagen der Baugenehmigung, soweit in Art. 56 bis 58, 72 und 73 nichts anderes bestimmt ist. Der Umbau des Gebäudes stellt sich als genehmigungspflichtige Maßnahme i.S.v. Art. 55 Abs. 1 BayBO dar. Ein Ausnahmetatbestand i.S.v. Art. 56 bis 58, 72 und 73 BayBO ist vorliegend nicht gegeben. Insbesondere liegt kein Fall der Verfahrensfreiheit nach Art. 57 BayBO vor. Darüber hinaus erweist sich die nicht genehmigte Nutzung des Anbaus als Outdoor-Küche/Hobbyraum auch als materiell rechtswidrig (s.o. unter 1.2.).
Die Entscheidung über eine Nutzungsuntersagung nach Art. 76 Satz 2 BayBO stellt dabei eine Ermessensentscheidung dar. Allerdings ist zu beachten, dass das öffentliche Interesse grundsätzlich das Einschreiten gegen baurechtswidrige Zustände im Wege der Nutzungsuntersagung gebietet. Die Behörde macht daher im Regelfall von ihrem Ermessen in einer dem Zweck des Gesetzes entsprechenden Weise Gebrauch, wenn sie bei rechtswidrig errichteten oder genutzten Anlagen die unzulässige Benutzung untersagt, weil nur so die Rechtsordnung wiederhergestellt werden kann. Dem Ermessen in Art. 76 Satz 2 BayBO ist deshalb die Tendenz eigen, die der Natur der Sache nach gebotene Pflicht zum Einschreiten zu verwirklichen (sog. intendiertes Ermessen, vgl. Wolf in Simon/Busse, BayBO, Art. 76 Rn. 301).
3. Die Zwangsgeldandrohungen (Ziffern 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheids) sind ebenfalls rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in Art. 29 Abs. 1, 2 Nr. 1, Art. 30 Abs. 1 Satz 1, Art. 31, Art. 36 Abs. 1 – 3, 5 und 7 VwZVG. Die angedrohten Zwangsgelder sind insbesondere hinreichend bestimmt, ihrer Höhe nach nicht zu beanstanden und die eingeräumte Frist ist angemessen.
Auch hinsichtlich der Kostenentscheidung in Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids bestehen keine rechtlichen Bedenken.
4. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben