Baurecht

Nachbarklage, Gebot der Rücksichtnahme, Lärmemissionen durch Parkplätze (gewerbliche Nutzung), Überschreitung des Spitzenpegelkriteriums, Verstoß gegen Abstandsflächenrecht, Konkludente Abweichung (verneint)

Aktenzeichen  RO 7 K 18.35

Datum:
8.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42119
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBO Art. 60
BayBO Art. 6
BauGB § 34
TA Lärm Nr. 7.4

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Landratsamtes N. vom 28.11.2017 (Az. 43-2017-0242) wird aufgehoben.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Klage gegen den Bescheid des Landratsamts N. vom 28.11.2017, über die im Einvernehmen mit den Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet.
A. Die Klage ist zulässig, insbesondere wurde die Klagefrist von einem Monat gem. § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO gewahrt. Der Bescheid vom 28.11.2017 wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers nach Art. 66 Abs. 1 Satz 4 BayBO i.V.m. Art. 41 Abs. 5 BayVwVfG, Art. 1 Abs. 5, Art. 4 VwZVG durch die Post mittels Einschreiben zugestellt. Ausweislich des Einlieferungsbelegs (Bl. 115 d. Bauakte) wurde der Bescheid am 5.12.2017 zur Post gegeben, so dass der Bescheid am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post – mithin am 8.12.2017 – als zugestellt gilt, Art. 4 Abs. 2 Satz 2 VwZVG. Die Klagefrist begann daher gem. § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB am 9.12.2017 zu laufen und endete mit Ablauf des 8.1.2018. Die Klage ging am 8.1.2018 und somit fristgerecht ein.
B. Die Klage ist begründet, da der Kläger durch die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung in seinen Rechten verletzt wird, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz der betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 26.9.1991 – 4 C 5.87 – juris; BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris m.w.N.). Dabei ist zu beachten, dass Nachbarn eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten können, wenn sich die Rechtswidrigkeit des Bescheids aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009, a.a.O. Rn. 20). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht Prüfgegenstand war, entfaltet die Genehmigung insoweit keine Feststellungswirkung und der Nachbar ist darauf zu verweisen, gegebenenfalls einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung des Vorhabens zu stellen (vgl. BVerwG, B. v. 16.1.1997 – 4 B 244.96 – juris Rn. 3; BayVGH, B. v. 14.10.2008 – 2 CS 08.2132 – juris Rn. 3).
Die streitgegenständliche Baugenehmigung wurde zu Recht im Genehmigungsverfahren nach Art. 60 BayBO erteilt, da die Gaststätte mehr als 40 Gastplätze im Gebäude aufweist (vgl. Grundriss EG, Bl. 3 d. Bauakte) und es sich beim Vorhaben des Beigeladenen somit um einen Sonderbau gem. Art. 2 Abs. 4 Nr. 8 BayBO handelt.
Im Baugenehmigungsverfahren nach Art. 60 BayBO prüft die Bauaufsichtsbehörde die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB (Nr. 1), Anforderungen nach den Vorschriften dieses Gesetzes und auf Grund dieses Gesetzes (Nr. 2) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Nr. 3).
Die Baugenehmigung verletzt das drittschützende bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme sowie die drittschützenden abstandsflächenrechtlichen Regelungen des Art. 6 BayBO, der gem. Art. 60 Satz 1 Nr. 2 BayBO zum Prüfungsumfang gehört.
I. Dem Gebot der Rücksichtnahme, das vorliegend entweder über § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB oder über § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 bzw. § 7 BauNVO, § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet, kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290 = juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 27.12.2017 – 15 CS 17.2061 – juris Rn. 26; B.v. 21.8.2018 – 15 ZB 17.1890 – juris Rn. 11 m.w.N.; B.v. 5.4.2019 – 15 ZB 18.1525 – BeckRS 2019, 7160 Rn. 9). Soweit – wie hier – ein Rücksichtnahmeverstoß aufgrund von Immissionsbelastungen geltend gemacht wird, wird zur Konturierung der Zumutbarkeitsschwelle des Rücksichtnahmegebots auf die materiell-rechtlichen Maßstäbe des Immissionsschutzrechts, also auf die Schwelle schädlicher Umwelteinwirkungen i.S.v. § 3 Abs. 1 BImSchG zurückgegriffen (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2019 – 15 CS 19.1906 -, Rn. 56, juris). Bei der Erteilung einer Baugenehmigung ist deshalb sicherzustellen, dass bei der Nutzung des genehmigten Vorhabens keine schädlichen Umwelteinwirkungen entstehen. Für die Beurteilung von gewerblichen, betriebsbedingten Lärmimmissionen des zugelassenen Vorhabens sind die Vorgaben der TA Lärm maßgeblich. Als normkonkretisierender Verwaltungsvorschrift kommt der TA Lärm, soweit sie für Geräusche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen konkretisiert, eine im gerichtlichen Verfahren grundsätzlich zu beachtende Bindungswirkung zu (vgl. BVerwG, U. v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 18 m.w.N.; BayVGH, B. v. 23.1.2018 – 15 CS 17.2575 – juris Rn. 23).
Das Anwesen des Klägers befindet sich außerhalb des Geltungsbereichs eines Bebauungsplans, so dass sich die Schutzbedürftigkeit gem. Nr. 6.6 Satz 2 TA Lärm entsprechend der Schutzbedürftigkeit des Gebiets nach Nr. 6.1 TA Lärm beurteilt. In der näheren Umgebung befindet sich sowohl Wohnnutzung als auch gewerbliche Nutzung (bspw. Friseursalon, Raiffeisenbank, Apotheke, Weltladen, Raumausstatter, Gaststätte, vgl. Nutzungen auf Google Maps), so dass die Schutzbedürftigkeit der eines Mischgebiets nach § 6 BauNVO bzw. der eines Kerngebiets gem. § 7 BauNVO entspricht. Für beide der vorgenannten Gebietstypen gelten gem. Nr. 6.1 Satz 1 lit. d TA Lärm Beurteilungspegel von tags 60 dB(A) und nachts 45 dB(A). Gem. Nr. 6.1 Satz 2 TA Lärm dürfen einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen die Immissionsrichtwerte am Tage um nicht mehr als 30 dB(A) und in der Nacht um nicht mehr als 20 dB(A) überschreiten (sog. Spitzenpegelkriterium).
Hiervon ausgehend wird durch nächtliches Türenschlagen von Kfz auf den Stellplätzen „SP 9“, „SP 10“ und „SP 11“ auf dem Grundstück Fl. Nr. 104 der vorgenannte Spitzenpegel von 65 dB(A) nachts am Immissionsort des klägerischen Anwesens ausweislich der ergänzenden fachtechnischen Stellungnahme des Landratsamtes vom 3.2.2021 um 15 dB(A) überschritten. Die Fahrzeuggeräusche sind dabei der zu beurteilenden Anlage gem. Nr. 7.1 TA Lärm zuzurechnen, da es sich nicht um Verkehrsgeräusche auf öffentlichen Verkehrsflächen handelt (vgl. Nr. 7.4. Absätze 2 bis 4 TA Lärm).
Zwar bleibt das Spitzenpegelkriterium nach Nr. 6.1 Satz 2 TA Lärm bei Lärmbelastungen durch Stellplätze, die aufgrund einer zugelassenen Wohnnutzung erforderlich sind, außer Betracht, da Stellplätze und Garagen nach § 12 Abs. 2 BauNVO für den durch die zugelassene Nutzung notwendigen Bedarf zulässig sind. Der Grundstücksnachbar hat deshalb die Errichtung notwendiger Garagen und Stellplätze für ein Wohnbauvorhaben und die mit ihrem Betrieb üblicherweise verbundenen Belastungen durch Kraftfahrzeuge des Anwohnerverkehrs auch nachts grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 9.12.2016 – 15 CS 16.1417 -, Rn. 17, juris). Die vorgenannten Stellplätze sind jedoch nach Maßgabe der Baugenehmigung und der ihr zugrunde liegenden Planvorlagen nicht eindeutig und zweifelsfrei ausschließlich der Wohnnutzung zugewiesen. Im Bescheid selbst ist unter dem Punkt „Auflagen“, in der Nummer 3 verfügt, dass für das Bauvorhaben insgesamt 33 notwendige Stellplätze erforderlich sind, von denen auf dem Grundstück Fl. Nr. 104 drei hergestellt werden. Sodann wird geregelt, dass auf die Wohnnutzung 22 Stellplätze, auf die Büronutzung zwei Stellplätze und auf die Gaststätte neun Stellplätze entfallen. In der Nebenbestimmung „U1“ ist ausgeführt, dass zu den Lärmemissionen auch der Lärm des Kfz-Verkehrs durch die Gäste auf den der Gaststätte und den dem Biergarten zugeordneten vom Bauherrn geschaffenen Stellplätzen gehöre. Eine Zuordnung der herzustellenden Stellplätze zu den einzelnen Nutzungen ergibt sich hieraus nicht. Ebenso wenig erfolgte eine entsprechende Zuordnung in den Bauvorlagen. Dort sind die Stellplätze lediglich mit „SP 9“, „SP 10“ und „SP 11“ beschriftet. Ausweislich der E-Mail des Beigeladenen in der Bauakte (Bl. 58) werden die im Bauantrag eingetragenen Stellplätze auf dem Grundstück Fl. Nr. 104 „ausschließlich für das Wohn- und Geschäftshaus“ genutzt, so dass auch insoweit keine eindeutige Beschränkung ersichtlich ist. Soweit der Beigeladene im gerichtlichen Verfahren anlässlich einer ergänzenden fachtechnischen Stellungnahme angegeben hat, dass die Parkplätze auf dem Grundstück Fl. Nr. 104 den Wohnungen zugeteilt würden (Bl. 46 d. Gerichtsakte), so ist dies unbehelflich. Eine Erklärung im gerichtlichen Verfahren zur tatsächlichen Nutzung vermag den Genehmigungsumfang bzw. die Genehmigungsmodalitäten der streitgegenständlichen Baugenehmigung nicht zu modifizieren.
Des Weiteren ist durch die Nebenbestimmungen in der streitgegenständlichen Baugenehmigung nicht ausgeschlossen, dass es zu einem Türenschlagen während der Nachtzeit i.S.d. Nr. 6.4 TA Lärm zwischen 22 Uhr und 6 Uhr kommt, da lediglich die Nutzung des Biergartens auf die Tagzeit beschränkt ist und folglich insbesondere ein Türenschlagen durch Gäste des Gaststättenbetriebes nach 22 Uhr im regelmäßigem Betrieb zu erwarten ist.
Da die zulässigen Immissionsrichtwerte, konkret das Spitzenpegelkriterium, bei regelmäßigem Betrieb nicht eingehalten werden können, ist auch eine sog. zielorientierte Festlegung des Immissionsschutzes nicht ausreichend. Im Übrigen ist eine solche im Bescheid auch nicht erfolgt, da die Nebenbestimmung „U1“ lediglich eine Regelung zur der Einhaltung der zulässigen Beurteilungspegel nach Nr. 6.1 Satz 1 lit. d TA Lärm, nicht jedoch hinsichtlich des Spitzenpegelkriteriums nach Nr. 6.1 Satz 2 TA Lärm enthält.
II. Überdies verstößt das Bauvorhaben gegen drittschützendes und gem. Art. 60 Satz 1 Nr. 2 BayBO zum Prüfungsumfang gehörendes Abstandsflächenrecht.
1. Vor den Außenwänden von Gebäuden sind Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO). Eine Abstandsfläche ist jedoch nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO). Im unbeplanten Innenbereich darf damit ohne Einhaltung der nach Art. 6 BayBO grundsätzlich notwendigen Abstandsflächen an die Grenze gebaut werden, wenn die maßgebliche Umgebung sowohl von offener als auch von halboffener oder geschlossener Bauweise geprägt ist. Denn in diesem Fall fügt sich die Grenzbebauung bzw. grenznahe Bebauung ohne Einhaltung der bauordnungsrechtlich grundsätzlich erforderlichen Abstandsflächen vorbehaltlich des Gebots der Rücksichtnahme in die Eigenart der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB ein. Dies gilt auch dann, wenn die vorhandene Mischung von Gebäuden mit und ohne seitlichen Grenzabstand „regellos“ erscheint (vgl. VG Regensburg, U.v. 5.3.2020 – RO 7 K 18.321, m.w.N.).
Vorliegend kann dahinstehen, ob eine geschlossene, halboffene oder jedenfalls „regellose“ Bebauung vorliegt. Denn die Rechtsfolge von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist, dass die von ihm erfasste Außenwand an der Grundstücksgrenze errichtet werden darf. Nicht zulässig hingegen ist ein Errichten der Außenwand mit nur vermindertem Grenzabstand. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt hierzu aus: „(…)Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ist nicht einschlägig. Nach dieser Vorschrift ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Ein solcher Fall ist hier schon deshalb nicht gegeben, weil das streitgegenständliche Gebäude nicht unmittelbar an der Grundstücksgrenze liegt, sondern zu dieser einen Abstand zwischen ca. 50 und 80 cm einhält (vgl. BayVGH, U.v. 22.11.2006 – 25 B 05.1714 – NVwZ-RR 2007, 512/513 zu einem Abstand zwischen ca. 35 und 60 cm). Nach seinem klaren Wortlaut regelt Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nur den unmittelbaren Anbau an die Grundstücksgrenze, nicht aber einen grenznahen Anbau mit Abstandsflächen, die kleiner als die gesetzlich vorgeschriebenen sind, wie z.B. bei Traufgassen oder „engen Reihen“ (vgl. BayVGH, U.v. 22.11.2006 a.a.O. m.w.N.). Dies wird durch Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO bestätigt, der die Zulässigkeit von „Abstandsflächen größerer oder geringerer Tiefe“ regelt und letztlich leerlaufen würde, wenn man Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO generell entsprechend auf grenznahe Gebäude anwenden würde. Zwar ist hierdurch nicht ausgeschlossen, dass diese Vorschrift bei sehr geringen seitlichen Grenzabständen ausnahmsweise entsprechend angewendet wird (vgl. Schwarzer/ König, BayBO, 4. Aufl. 2012, Art. 6 Rn. 17), doch ist hierfür im konkreten Fall weder etwas vorgetragen noch ersichtlich.“ (BayVGH, B.v. 3.4.2014 – 1 ZB 13.2536 -, Rn. 11, juris; vgl. auch BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 2 ZB 15.2670, BeckRS 2018, 7008, beck-online).
Die erkennende Kammer schließt sich diesem Normverständnis vollumfänglich an und macht sich die Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zu eigen. Das streitgegenständliche Gebäude ist im Norden nicht unmittelbar an der Grundstücksgrenze situiert, sondern hält im maßgeblichen nordöstlichen Bereich des Vorhabengrundstücks auf einer Länge von ca. 11 m einen Abstand zwischen 2,5 m bis 4 m ein. Demnach ist auch kein sehr geringer seitlicher Grenzabstand gegeben, der eventuell eine ausnahmsweise entsprechende Anwendung des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO rechtfertigen könnte.
Es gilt nach alledem der Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO, dass vor der nördlichen Außenwand des Vorhabens Abstandsflächen einzuhalten sind.
2. Nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung betrug die Tiefe der Abstandsflächen 1 H, mindestens 3 m, Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO in der Fassung vom 27.07.2009, gültig vom 1.8.2009 bis 31.8.2018 (nachfolgend: a.F.). In Kerngebieten und in festgesetzten urbanen Gebieten betrug die Tiefe 0,5 H, mindestens jeweils 3 m (Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO a.F.). Vor zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge genügte als Tiefe der Abstandsflächen die Hälfte der nach Abs. 5 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m; das galt nicht in Kern-, Gewerbe- und Industriegebieten (Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO a.F.).
Nach der Änderung des Abstandsflächenrechts durch die Bauordnungsnovelle 2020 beträgt die Tiefe der Abstandsflächen 0,4 H, in Gewerbe- und Industriegebieten 0,2 H, jeweils aber mindestens 3 m, vgl. Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO in der aktuellen Fassung vom 25.5.2021, gültig ab 1.6.2021 (nachfolgend: n.F.). Durch städtebauliche Satzung oder eine Satzung nach Art. 81 BayBO kann ein abweichendes Maß der Tiefe der Abstandsfläche zugelassen oder vorgeschrieben werden (Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO n.F.). Abweichend von Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO beträgt die Abstandsfläche in Gemeinden mit mehr als 250.000 Einwohnern außerhalb von Gewerbe-, Kern- und Industriegebieten sowie festgesetzten urbanen Gebieten 1 H, mindestens jedoch 3 m (Art. 6 Abs. 5a Satz 1 BayBO n.F.). Vor bis zu zwei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge genügen in diesen Fällen 0,5 H, mindestens jedoch 3 m, wenn das Gebäude an mindestens zwei Außenwänden Art. 6 Abs. 5a Satz 1 BayBO beachtet (Art. 6 Abs. 5a Satz 2 BayBO n.F.).
Im vorliegenden Fall einer Anfechtungsklage mit dem Ziel der Aufhebung der angefochtenen Baugenehmigung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage entscheidend, die im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Verwaltungsaktes gegeben war. Hat sich nach Erteilung der angefochtenen Baugenehmigung die Sach- oder Rechtslage geändert, so ist das für das verwaltungsgerichtliche Verfahren nur von Bedeutung, wenn die Änderung für den Bauherrn günstig ist (vgl. Busse/Kraus/Dirnberger, 141. EL März 2021, BayBO Art. 66 Rn. 590 f. m.w.N.).
Hiervon ausgehend hält das streitgegenständliche Vorhaben weder die zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung erforderlichen Abstandsflächentiefen noch die nunmehr nach der jetzt geltenden, für den Bauherrn günstigeren Rechtslage, erforderlichen Abstandsflächentiefen ein.
Ausweislich des Abstandsflächenplans (Bl. 1 d. Behördenakte) kommen die Abstandsflächen unter Heranziehung des 16m-Privilegs (0,5 H) mit bis zu 1,5 m auf dem Grundstück Fl. Nr. 105 des Klägers zum Liegen. Die fünf Dachgauben an der maßgeblichen nordwestlichen Traufseite bleiben bei der Bemessung der Abstandsflächen nicht gem. Art. 6 Abs. 8 Nr. 3 BayBO a.F. außer Betracht, da sie jedenfalls mehr als insgesamt 5 m an der Außenwand in Anspruch nehmen. Etwas anderes folgt auch nicht durch die Rechtsänderung mit der Bauordnungsnovelle, da gem. Art. 6 Abs. 4 Satz 4 BayBO n.F. Dachgauben grundsätzlich abstandsflächenrelevant sind. Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO n.F., wonach bei Gebäuden an der Grundstücksgrenze die Seitenwände von Vorbauten und Dachaufbauten, auch wenn sie nicht an der Grundstücksgrenze errichtet werden, bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht bleiben, gilt nicht hinsichtlich der Frontflächen der Dachgauben. Selbst bei einer erforderlichen Abstandsflächentiefe von 0,4 H unter Heranziehung des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO n.F., der aufgrund der Einwohnerzahl der Stadt P. einschlägig ist (vgl. Genesis Online-Datenbank des Bayerischen Landesamtes für Statistik, Tabelle 12411-001, Fortschreibung des Bevölkerungsstandes: Gemeinden), kommt die Abstandsfläche der von Osten gesehen zweiten der fünf Dachgauben mit mind. 0,5 m auf dem Grundstück des Klägers zum Liegen.
3. Der Beigeladene kann sich auch nicht auf Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO a.F. berufen.
Gem. Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO a.F. finden die Vorschriften über die Regelung der Abstandsflächentiefe nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 und 2 BayBO a.F. keine Anwendung, wenn sich einheitlich abweichende Abstandsflächentiefen aus der umgebenden Bebauung im Sinn des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ergeben. Nach dem Wortlaut des Gesetzes, der von „Abstandsflächentiefen“ spricht, ist auf den absoluten Grenzabstand und nicht auf ein entsprechend einheitliches Verhältnis, also einen einheitlichen Bruchteil von H, zwischen Gebäudehöhe und Grenzabstand abzustellen (vgl. Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, 52. Update März 2021, 9.7.4 Voraussetzungen, Rn. 173i; BayVGH, U.v. 7.3.2013 – 2 BV 11.882 -, Rn. 28, juris). Für die tatbestandliche Voraussetzung der Einheitlichkeit genügt – anders als beim Maßstab des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO a.F. – eine diffuse Umgebungsbebauung nicht. Gleichwohl ist keine zentimetergenaue Übereinstimmung der Gebäude- bzw. Grenzabstände zu fordern. Bei markanten Unterschieden in der Bauweise, der Lage der Baukörper oder der Gebäudehöhen in der maßgeblichen Umgebung kann man nicht mehr von einheitlich abweichenden Abstandsflächentiefen im Sinn des Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO a.F. sprechen (vgl. BayVGH, U.v. 7.3.2013 – 2 BV 11.882 -, Rn. 28, juris).
Hiervon ausgehend ergibt sich ausweislich der Luftbilder, der topographischen Karten und der ALKIS-Flurkarte aus dem BayernAtlas sowie des Lageplans in der Bauakte nicht, dass die umgebende Bebauung einheitliche Abstandsflächentiefen aufweist. Vielmehr handelt es sich bezüglich der Gebäude- und Grenzabstände im Umgriff der näheren Umgebung, bestehend aus dem Straßengeviert M., B., W. und K., um eine diffuse Bebauung. In der maßgebenden Umgebung finden sich eine Vielzahl an Grenzbauten (u.a. Fl. Nrn. 147 [seitliche und vordere Grundstücksgrenze], 148 [seitliche Grundstücksgrenze], 142/3 [seitliche Grundstücksgrenzen], 145 [vordere und seitliche Grundstücksgrenze], 108 [vordere, hintere und seitliche Grundstücksgrenze], 96 [vordere, hintere und seitliche Grundstücksgrenze], 95 [vordere und hintere Grundstücksgrenze]) sowie im Übrigen Grenzabstände zwischen etwa 2 m und 9 m (Fl. Nrn. 107 und 144, seitliche Grundstücksgrenzen) und zwischen 2,5 m und 6 m (Fl. Nrn. 98 und 148, vordere/hintere Grundstücksgrenzen).
4. Schließlich wurde eine Abweichung von den Vorschriften des Abstandsflächenrechts gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO zwar beantragt (vgl. Bl. 1 d. Behördenakte), jedoch nur hinsichtlich des Überdeckens der Abstandsflächen des Süd-West-Flügels und des Nord-Ost-Flügels erteilt (vgl. Ziffer 2 des Bescheidstenors). Es kann auch nicht von einem sog. versteckten Dispens bzw. einer konkludenten Abweichung ausgegangen werden. Zum einen hat das Landratsamt in Ziffer 3 der Bescheidsgründe ausgeführt, dass Abstandsflächen aufgrund der geschlossenen Bauweise in der näheren Umgebung gem. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht erforderlich seien, so dass es nach Auffassung der Landratsamtes hinsichtlich der Außenwände zu den anliegenden Grundstücken schon gar keiner Abweichung bedurfte. Zum anderen muss die Zulassung einer Abweichung aus Gründen der Bestimmtheit (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG) sowie der Rechtssicherheit ausdrücklich geschehen und es muss deutlich werden, auf welchen konkreten Sachverhalt sich die Abweichung bezieht (vgl. Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, 48. Update September 2020, 7.6 Entscheidung, Rn. 73, m.w.N.). Eine konkludente Abweichung kann – wenn überhaupt – nur in Betracht kommen, wenn sich hierfür hinreichende Anhaltspunkte in den Gründen der Baugenehmigung und den zugrundeliegenden Planunterlagen finden. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Auch der Umstand, dass die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist, rechtfertigt nicht den Schluss, dass die Genehmigungsbehörde eine Abweichung erteilt hat (vgl. Busse/Kraus/Dhom/Simon, 141. EL März 2021, BayBO Art. 63 Rn. 58).
Nach alledem war der Klage stattzugeben und der Bescheid vom 28.11.2017 war aufzuheben.
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Dem Beigeladenen können keine Verfahrenskosten auferlegt werden, da dieser keinen Sachantrag gestellt hat, § 154 Abs. 3 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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