Europarecht

Anrechnung eines Betriebskostenguthabens bei Aufstockern

Aktenzeichen  S 22 AS 1385/19

Datum:
29.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1052
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
Nürnberg
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 11 Abs. 3, § 22 Abs. 3
SGB X § 48

 

Leitsatz

Die Regelung über die Freistellung der Anrechnung eines Betriebskostenguthaben für zuvor nicht anerkannte Aufwendungen für Unterkunft und Heizung ist entsprechend auf den Fall anzuwendn, dass das Betriebskostenguthaben bei sogeannten Aufstockern vollständig aus Eigenmitteln aufgebaut wurde (Abweichend von  BSG, Urt. v. 22.03.2012, – B 4 AS 139/11 R -). (Rn. 23 – 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid vom 25.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat den Klägerinnen die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Klage hat vollumfänglich Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
Das Gericht konnte gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da alle Beteiligten ausdrücklich ihr Einverständnis erklärt haben.
Gegenstand dieses Rechtsstreites ist der Bescheid vom 25.07.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2019, mit dem der Beklagte die Leistungen für den Zeitraum 01.01.2019 bis 30.04.2019 teilweise aufgehoben hat und von den Klägerinnen eine Erstattung in Höhe von 207,53 EUR (Kl. 1) und 26,15 EUR (Kl. 2) verlangt.
Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§§ 87, 90 und 92 Sozialgerichtsgesetz – SGG). Statthafte Klageart ist die isolierte Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klage ist begründet, weil der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und die Klägerinnen in ihren Rechten verletzt. Zum einen darf nach Auffassung der erkennenden Kammer bei sog. „Aufstockern“ ein vollständig aus eigenen Mitteln durch Vorauszahlungen angehäuftes Betriebskostenguthaben nicht auf den Leistungsanspruch angerechnet werden. Zum anderen wäre, selbst wenn eine Anrechnung vorzunehmen wäre, eine Verteilung auf einen Zeitraum von vier Monaten rechtlich nicht möglich.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung ist § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 3 SGB III. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse (also rückwirkend) aufzuheben, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) oder soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Wird ein Verwaltungsakt aufgehoben, sind gemäß § 50 Abs. 1 SGB X die zu Unrecht erbrachten Leistungen zu erstatten.
An der formellen Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides bestehen keine Zweifel, insbesondere hat der Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 05.07.2019 vorher gemäß § 24 Abs. 1 SGB X ordnungsgemäß angehört.
Materiellrechtlich ist der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid aber rechtswidrig.
Die Klägerinnen haben eine Mitteilungspflicht verletzt, indem sie die Auszahlung des Betriebskostenguthabens nicht unverzüglich mitgeteilt und die Betriebskostenabrechnung vom 09.11.2018 erst am 03.06.2019 vorgelegt haben. Leistungsempfänger sind nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB I verpflichtet, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich dem Leistungsträger mitzuteilen. Sie können sich nicht darauf beschränken, ohne jeglichen Anhaltspunkt auf die vorgelegten Kontoauszüge zu verweisen, aus denen sich der Beklagte die nötigen Informationen selbst zusammensuchen solle. „Mitteilen“ bedeutet in diesem Zusammenhang eine aktive Kommunikation des Leistungsempfängers, mit der der Leistungsträger auf den Umstand der Änderung konkret hingewiesen wird. Nicht ausreichend ist hingegen die kommentarlose Vorlage von Unterlagen, aus denen sich die Änderung nach dem objektiven Empfängerhorizont nicht eindeutig ergibt. Die Mitteilungspflicht besteht auch unabhängig davon, ob die Erstattung des Betriebskostenguthabens sich materiellrechtlich tatsächlich auf die Höhe des Leistungsanspruchs auswirkt oder nicht. Es obliegt dem Leistungsträger, eine Auswirkung auf die Leistungshöhe zu prüfen.
Durch die Verletzung der Mitteilungspflicht hat sich jedoch der Leistungsanspruch der Klägerinnen nicht geändert, so dass eine Teilaufhebung weder nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X („soweit“), noch nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X („Minderung des Anspruchs“) vorzunehmen war. Der Zufluss der Betriebskostenerstattung in Höhe von 207,53 EUR verringert im vorliegenden Fall nicht die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, weil die Klägerinnen als sog. „Aufstocker“ dieses Guthaben durch entsprechende monatliche Abschlagszahlungen vollständig aus ihren eigenen Mitteln – und nicht aus Sozialleistungen – angehäuft haben.
Nach § 22 Abs. 3 SGB II mindern Rückzahlungen und Guthaben, die dem Bedarf für Unterkunft und Heizung zuzuordnen sind, grundsätzlich die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift.
Das Bundessozialgericht hat zwar mit Urteil vom 22.03.2012, Az. B 4 AS 139/11 R festgestellt, dass § 22 Abs. 3 SGB II nicht auf die Anrechnung von Rückzahlungen beschränkt sei, die allein aus Zahlungen des Leistungsberechtigten resultierten. Dies sei der Norm nicht zu entnehmen. Genauso wie Guthaben zu berücksichtigen seien, die aus Zeiten stammten, zu denen keine Hilfebedürftigkeit bestand, sei es unerheblich, wer die Zahlungen getätigt habe (BSG a.a.O., juris-Rn. 19 unter Verweis auf LSG Baden-Württemberg Urteil vom 20.1.2010 – L 3 AS 3759/09). Diese Rechtsprechung ist jedoch überholt. Durch das Neunte Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachungsgesetz vom 26.07.2016, welches am 01.08.2016 in Kraft getreten ist, ist in § 22 Abs. 3 SGB II ein zweiter Halbsatz eingefügt worden, wonach sich auch Rückzahlungen, die sich auf nicht anerkannte Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung beziehen, nicht mindernd auf die Bedarfe im aktuellen Monat auswirken. Der Gesetzgeber hält dies nämlich für unbillig, soweit der rückgezahlte Betrag der Höhe nach zuvor erbrachten Eigenmitteln entspreche (BTDrs. 18/8041, S. 38).
Entsprechend des gesetzgeberischen Willens muss nach Auffassung der Kammer der neue § 22 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB II auch im Falle der Klägerinnen gelten, die das Betriebskostenguthaben als Aufstockerinnen vollständig aus Eigenmitteln aufgebaut haben. Die Interessenlage ist vergleichbar mit derjenigen eines Leistungsempfängers, der den nicht angemessenen Teil seiner Unterkunftskosten aus dem Regelbedarf bestreitet.
Aber selbst wenn das Guthaben anzurechnen wäre, wäre die vom Beklagten vorgenommene Aufteilung auf vier Monate bis zum Ende des Bewilligungszeitraumes rechtswidrig. Grundsätzlich erfolgt die Anrechnung eines Betriebskostenguthabens gemäß § 22 Abs. 3 SGB II nach dem Monat der Rückzahlung oder der Gutschrift. Guthaben aus Betriebs- und Heizkostenabrechnungen stellen auch Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II dar. § 22 Abs. 3 SGB II modifiziert als lex specialis lediglich die Reihenfolge der Einkommensberücksichtigung sowie deren Zeitpunkt und bestimmt, dass das Guthaben die für Unterkunft und Heizung entstehenden Aufwendungen (und nicht die hierfür gewährten Leistungen) mindert (Piepenstock in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl., § 22, Stand: 09.04.2020, Rn. 186). Der Charakter als einmalige Einnahme bleibt aufgrund der beschränkten Modifikationswirkung des § 22 Absatz 3 SGB II aber unberührt (vgl. LSG Thüringen Urt. v. 20.7.2016 – L 4 AS 225/14, juris-Rn. 35), denn § 22 Abs. 3 SGB II trifft keine abweichende Regelung hinsichtlich des Verteilzeitraumes, sondern nur bezüglich deren Beginn („nach dem Monat des Zuflusses“). Dort wo der speziellere § 22 Abs. 3 SGB II eine Modifizierung der Regelungen über die Berücksichtigung von Einkommen nicht anordnet, verbleibt es bei den allgemeinen Regelungen (Krauß in: Hauck/Noftz, SGB, 10/12, § 22 SGB II, Rn. 210). Soweit das LSG Thüringen im oben zitierten Urteil eine gleichmäßige Verteilung auf vier Monate nicht beanstandet hat, ist dies auf die damals gültige Vorschrift des § 2 Abs. 4 Satz 3 AlgII-V i.d.F. vom 18.12.2008 zurückzuführen, wonach einmalige Einnahmen, soweit nicht im Einzelfall eine andere Regelung angezeigt ist, auf einen angemessenen Zeitraum aufzuteilen und monatlich mit einem entsprechenden Teilbetrag zu berücksichtigen waren. Diese Vorschrift ist aber durch § 11 Abs. 3 Satz 4 SGB II abgelöst worden, der nunmehr eine feste Verteilung auf sechs Monate vorsieht.
Der Beklagte hätte demgemäß – soweit eine Anrechnung im Monat nach dem Zufluss der Gutschrift zum Wegfall der Leistungen geführt hätte – auf die allgemeine Vorschrift zur Anrechnung von Einkommen zurückgreifen müssen und die Einnahme gemäß § 11 Abs. 3 Satz 4 SGB II auf sechs Monate verteilen müssen. Dies ist nicht geschehen.
Im Ergebnis war die Klage somit erfolgreich mit der Folge, dass die Klägerinnen keine Erstattung leisten müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Berufung war gemäß § 144 SGG nicht zuzulassen.


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