Medizinrecht

Eilrechtsschutz gegen bayerische Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie

Aktenzeichen  20 NE 20.837

Datum:
22.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 6779
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
IfSG § 28 Abs. 1, § 32
2.BayIfSMV § 2 Abs. 1 S. 2
GG Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Art. 12 Abs. 1
VwGO § 47 Abs. 6

 

Leitsatz

1. Die Bestimmung in § 2 Abs. 1 der 2. BayIfSMV, die den Betrieb sämtlicher Einrichtungen untersagt, die nicht notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern der Freizeitgestaltung dienen, greift in erheblichen Maß in das Grundrecht der Betreiber der Freizeiteinrichtungen aus Art. 12 Abs. 1 GG ein. Die Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit und die ihrer Ermächtigungsgrundlage kann allerdings angesichts der Komplexität des Gegenstands nur nach eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren – und nicht im Eilrechtsschutz – erfolgen (unter Hinweis auf VGH Mannheim BeckRS 2020, 6351 und BVerfG BeckRS 2020, 5596). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei einer Abwägung zeitlich eng befristeter (und vom Verordnungsgeber fortlaufend auf ihre Verhältnismäßigkeit zu evaluierender) Eingriffe in die Grundrechte der Normadressaten u.a. auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) mit dem Grundrecht behandlungsbedürftiger, teilweise lebensbedrohlich erkrankender Personen aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG setzt sich der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch (unter Hinweis auf BVerfG BeckRS 2020, 5589; BeckRS 2020, 5620; BeckRS 2020, 5317; BayVerfGH BeckRS 2020, 4602). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seinem Eilantrag nach § 47 Abs. 6 VwGO verfolgt der Antragsteller das Ziel, den Vollzug von § 2 Abs. 1 Satz 2 der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16. April 2020 (2126-1-5-G, GVBl. 2020 S. 214, im Folgenden: 2. BayIfSMV) bis zu einer Entscheidung über den gleichzeitig erhobenen Normenkontrollantrag einstweilen auszusetzen, soweit der Betrieb von Golf- und Tennisanlagen als Sportplätze untersagt wird.
1. Der Antragsgegner hat am 16. April 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die in der Hauptsache streitgegenständliche Verordnung erlassen, die in § 2 Abs. 1 regelt:
„Untersagt ist der Betrieb sämtlicher Einrichtungen, die nicht notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern der Freizeitgestaltung dienen. Hierzu zählen insbesondere Sauna- und Badeanstalten, Kinos, Tagungs- und Veranstaltungsräume, Clubs, Bars und Diskotheken, Spielhallen, Theater, Vereinsräume, Bordellbetriebe, Museen, Stadtführungen, Sporthallen, Sport- und Spielplätze, Fitnessstudios, Bibliotheken, Wellnesszentren, Thermen, Tanzschulen, Tierparks, Vergnügungsstätten, Wettannahmestellen, Fort- und Weiterbildungsstätten, Volkshochschulen, Musikschulen und Jugendhäuser, Jugendherbergen und Schullandheime. Untersagt werden ferner Reisebusreisen.“
Nach § 5 Abs. 3 Nr. 7 der 2. BayIfSMV ist triftiger Grund für das Verlassen der eigenen Wohnung nach § 5 Abs. 2 „Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine, mit einer weiteren nicht im selben Haushalt lebenden Person oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung“.
2. Der Antragsteller, der in Bayern lebt, rügt eine unzulässige Beschränkung seiner Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Er beantragt,
den Vollzug von § 2 Abs. 1 Satz 2 der 2. BayIfSMV vorläufig bis zu einer Entscheidung über den Normenkontrollantrag auszusetzen, soweit die Verordnung den Betrieb von Tennis- und Golfanlagen als Sportplätze untersagt.
Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, die getroffene Regelung sei unverhältnismäßig und beschränke ihn unzulässigerweise in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, insbesondere im Hinblick auf die Aufrechterhaltung seiner Gesundheit und Abwehrkräfte gegen Infektionskrankheiten durch die Ausübung von Tennis- und Golfsport. Es sei nicht gerechtfertigt, alle Sportstätten gleichermaßen ohne Berücksichtigung des jeweils bestehenden Infektionsrisikos zu schließen. Auch seien die Maßnahmen nicht geeignet, eine weitere Reduktion der Infektionszahlen zu erreichen, weil die Reduktion schon vor Inkrafttreten der streitgegenständlichen Verordnung erreicht worden sei und sich seitdem auf konstantem Niveau bewege.
Tennis und Golf würden bei großem persönlichen Abstand ausschließlich an der frischen Luft gespielt, sodass eine wesentlich geringere Infektionsgefahr bestehe als bei anderen Sportarten. In Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Brandenburg sei der Betrieb der Sportstätten unter Auflagen wieder möglich. Die angegriffene Regelung stehe in Bezug auf Sportarten wie Tennis und Golf in Widerspruch zu § 5 Abs. 3 Nr. 7 BayIfSMV, wonach Sport und Bewegung an der frischen Luft ausdrücklich erlaubt sei. Schließlich sei Sport auch Staatsziel und von Art. 2 Abs. 1 GG umfasst.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Antragsschrift Bezug genommen.
II.
Der zulässige Eilantrag hat in der Sache keinen Erfolg.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nach Auffassung des Senats im Ergebnis nicht vor.
1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 ‒ juris Rn. 12; zustimmend OVG NRW, B.v. 25.4.2019 – 4 B 480/19.NE – juris Rn. 9).
Ergibt demnach die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens im Zeitpunkt der Entscheidung über den Eilantrag nicht (hinreichend) abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, das Hauptsacheverfahren aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, das Normenkontrollverfahren aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung ‒ trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache ‒ dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 ‒ juris Rn. 12).
2. Nach diesen Maßstäben kommt eine vorläufige Außervollzugsetzung der mit dem Normenkontrollantrag des Antragstellers angegriffenen Vorschrift der 2. BayIfSMV nicht in Betracht.
a. Der Senat hat sich bereits in mehreren Eilentscheidungen (BayVGH, B.v. 30.3.2020 – 20 NE 20.63 – juris; B.v. 9.4.2020 – 20 NE 20.663 – BeckRS 2020, 5446; 20 NE 20.688 – BeckRS 2020, 5449; 20 NE 20.704 – BeckRS 2020, 5450) mit der Außervollzugsetzung von Teilregelungen der 1. BayIfSMV auseinandergesetzt. Dabei ist der Senat im Rahmen der Eilverfahren davon ausgegangen, dass die angegriffenen Bestimmungen formell wirksam seien und in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine wirksame Rechtsgrundlage finden dürften.
Weiter hat sich der Senat mit Beschluss vom 30. März 2020 (20 CS 20.611 – juris) zur Rechtmäßigkeit von Geschäftsschließungen anlässlich der Corona-Pandemie auf Grundlage der Allgemeinverfügung des Antragsgegners vom 16. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 143) im Hinblick auf das Vorliegen einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage geäußert. Die dort dargestellten Grundsätze lassen sich auf die in § 2 Abs. 1 2. BayIfSMV getroffene Regelung übertragen. Ziel der angeordneten Schließung von Freizeiteinrichtungen ist auch, Personenansammlungen und unnötige Personenkontakte zu vermeiden, um Infektionsketten zu unterbrechen.
Weil jedoch die angegriffene Bestimmung der 2. BayIfSMV in erheblichen Maß in das Grundrecht der Betreiber der Freizeiteinrichtungen aus Art. 12 Abs. 1 GG eingreift, auf das der Antragsteller selbst sich als Nutzer der Sporteinrichtungen nicht mit Erfolg berufen kann und die Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit und die ihrer Ermächtigungsgrundlage (vgl. zum Eingriff in die Berufsfreiheit durch allgemeine Betriebsschließungen kritisch VGH BW B.v. 9.4.2020 – 1 S 925/20 – bisher nicht veröffentlicht) angesichts der Komplexität des Gegenstands nur nach eingehender Prüfung in einem Hauptsacheverfahren erfolgen kann, sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache derzeit als offen anzusehen (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 – 1 BvR 802/20 – juris Rn. 11).
b. Eine Folgenabwägung führt allerdings zu dem Ergebnis, dass der Eilantrag abzulehnen ist. Durch den weiteren Vollzug der angegriffenen Verordnung kommt es zwar zu schwerwiegenden und partiell irreversiblen Eingriffen in die Freiheitsgrundrechte aller Menschen, die sich im Geltungsbereich der Verordnung aufhalten. Würde der Vollzug der Verordnung jedoch ausgesetzt, wäre mit hinreichender Wahrscheinlichkeit mit (deutlich) vermehrten Infektionsfällen zu rechnen, die nach der aktuellen Risikobewertung des nach § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 IfSG hierzu berufenen Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 26. März 2020 (vgl. https://www.rki. de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Risikobewertung.html) zwingend so weit wie möglich zu verhindern sind, um die weitere Ausbreitung des Virus zu verzögern und damit Zeit für die Schaffung von Behandlungskapazitäten sowie für die Durchführung und Entwicklung von Schutzmaßnahmen und Behandlungsmöglichkeiten zu gewinnen.
Dabei ist die Risikobewertung anhand der bundesweit sehr unterschiedlichen Verbreitung der Infektion vorzunehmen (S. 7 des Situationsberichts des RKI v. 21.4.2020 (vgl. https:/www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situa-tionsberichte/2020-04-21)), woraus sich regional unterschiedlich strenge Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Infektionszahlen ergeben können. Wie der Übersicht auf den Seiten 2 und 3 entnommen werden kann, gehören die (steigenden) Infektionszahlen in Bayern mit 293 Fällen auf 100.000 Einwohner derzeit zu den höchsten im Bundesgebiet. Deswegen führt allein der Einwand des Antragstellers, in anderen Bundesländern sei Golfspielen bereits wieder erlaubt, jedenfalls derzeit noch nicht zur Unverhältnismäßigkeit der für Bayern getroffenen Regelung. Sportliche Betätigung an der frischen Luft außerhalb organisierter Sportstätten ist dem Antragsteller unbenommen. Der geltend gemachte Widerspruch zwischen der Schließung der Sportstätten und der Möglichkeit anderweitiger sportlicher Betätigung ist nicht erkennbar.
Bei einer Abwägung zeitlich eng befristeter (und vom Verordnungsgeber fortlaufend auf ihre Verhältnismäßigkeit zu evaluierender) Eingriffe in die Grundrechte der Normadressaten u.a. auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) mit dem Grundrecht behandlungsbedürftiger, teilweise lebensbedrohlich erkrankender Personen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG setzt sich der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch (so im Ergebnis auch BVerfG, B.v. 10.4.2020 – 1 BvQ 28/20 – http://www.bverfg.de/e/qk20200410_1bvq00 2820. html; B.v. 9.4.2020 – 1 BvQ 29/20 – http://www.bverfg.de/e/qk20200409_1 bvq002920.html; B.v. 7.4.2020 – 1 BvR 755/20 – juris; BayVerfGH, E.v. 26.3.2020, Vf. 6-VII-20, juris Rn. 13 ff.).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Da die vom Antragsteller angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 3. Mai 2020 außer Kraft tritt (§ 10 Satz 1 2. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren auf der Grundlage von Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht angebracht erscheint.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben