Medizinrecht

Kostenerstattungsanspruch des Rechtsnachfolgers bei Therapie im Off-Label-Use

Aktenzeichen  S 15 KR 293/18

Datum:
19.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35004
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 2, § 11 Abs. 1, § 12 Abs. 1, § 13 Abs. 3, § 27 Abs. 1
SGB I § 56 Abs. 1
GG Art. 2

 

Leitsatz

1. Es besteht ein Anspruch auf Kostenerstattung der Therapie mit Avastin auch für den Rechtsnachfolger, wenn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Lebensbedrohlichkeit der Erkrankung und die ausgeschöpften Therapiemöglichkeiten in dem Sinne erwiesen sind, dass nur noch eine palliative Behandlung geplant war. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
2. Steht keine leitliniengerechte Behandlung mehr zur Verfügung und ist die positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf nachgewiesen, darf bei einer entsprechenden Notsituation wegen Unaufschiebbarkeit die Behandlung im Off-Label-Use in Anspruch genommen werden. (Rn. 44 – 47) (redaktioneller Leitsatz)
3. Grundsätzlich können Versicherte eine Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll, was bei Avastin für die Behandlung des spezifischen Karzinoms der Versicherten nicht der Fall ist. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die vom Bundessozialgericht geforderte hinreichende Erfolgsaussicht durch vorliegende, veröffentlichte Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo), die einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen, ist aus statistischen und ethischen Gründen nicht immer durchführbar und deshalb auch nicht zwingend. (Rn. 59 – 63) (redaktioneller Leitsatz)
5. Bei einem Anspruch aus § 2 Abs. 1 a SGBV V handelt es sich um “Ultima ratio”-Behandlungen mit eng begrenztem Anwendungsbereich. (Rn. 66) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 06.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.01.2018 verurteilt, die bereits von der verstorbenen Klägerin beglichenen Kosten für die seit dem 12.07.2017 bis zum 09.03.2018 mit Privatrezept verordneten Avastin-Präparate in Höhe von insgesamt 43.115,40 EUR zu erstatten.
II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Gründe

Die Klage ist zulässig. Das Verfahren war durch den Tod der Versicherten aufgrund ihrer prozessualen Vertretung nicht unterbrochen (§§ 202 SGG – i.V.m. § 246 Abs. 1 S. 1 Zivilprozessordnung). Der Kläger als Sonderrechtsnachfolger der Versicherten (§ 56 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – SGB I) ist prozessführungsbefugt und aktivlegitimiert. Insbesondere ist der geltend gemachte Erstattungsanspruch auf eine „laufende Geldleistung“ gerichtet, da die Versicherte zu einer Vorfinanzierung für mehrere Zeitabschnitte gezwungen war (vgl. BSG, Urteil vom 08. September 2015 – B 1 KR 14/14 R -, Rn. 24, juris, zur Protonentherapie). Auch lebten der Kläger und die Versicherte zur Zeit des Todes der Versicherten in einem gemeinsamen Haushalt.
Die Klage ist auch begründet. Die angegriffenen Bescheide verletzen den Kläger in seinen (abgeleiteten) Rechten. Die Versicherte hatte einen Anspruch auf die Erstattung der Kosten der Therapie mit Avastin in Höhe von 43.115,40 EUR, welcher auf den Kläger im Rahmen der Sonderrechtsnachfolge übergegangen ist.
1. Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruchs ist § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V. Danach hat die Krankenkasse dem Versicherten Kosten einer selbstbeschafften Leistung zu erstatten, die dadurch entstanden sind, dass sie eine unaufschiebbare Leistung entweder nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Alt) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, soweit die Leistung notwendig war (2. Alt). Mit dieser Regelung wird der Grundsatz des Sach- und Dienstleistungsanspruchs nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V für die Fälle ergänzt, in denen die Krankenkasse eine geschuldete Leistung nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stellen kann (Bundessozialgericht (BSG) 02.11.2007, B 1 KR 14/07 R, BSGE 99, 180 = SozR 4-2500 § 13 Nr. 15). Der Naturalleistungsanspruch des Versicherten wandelt sich um in einen Kostenerstattungsanspruch bzw. soweit die Kosten tatsächlich noch nicht beglichen sind, in einen Anspruch des Versicherten auf Freistellung von den Kosten.
Die Entscheidung der Beklagten ist rechtswidrig, da ein Leistungsanspruch bestand. Dieser resultiert aus § 2 Abs. 1a SGB V. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, eine von § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Wie die Beweisaufnahme ergeben hat, handelt es sich bei der Krebserkrankung „Glioblastom“ der Versicherten – insoweit unstrittig – um eine lebensbedrohliche Erkrankung. Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat zudem überzeugend dargelegt, dass die Versicherte zum Zeitpunkt des Beginns der Avastin-Behandlung im Juli 2017 austherapiert war und ab Mai 2017 nur noch eine palliative Behandlung geplant war. Alle leitliniengerechten Chemotherapien (außerhalb des hier streitgegenständlichen Off-Label-Use), Radiotherapien und Operationsmöglichkeiten waren nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen erschöpft.
Auch eine Behandlung mit Dexamethason war nach der Überzeugung der Kammer keine leitliniengerechte Behandlung, wie dies vom MDK Bayern mit Gutachten vom 10.11.2020 angedacht wird. Denn der Gerichtsgutachter Dr. G. hat mit Gutachten vom 03.08.2020 überzeugend ausgeführt, dass es im Mai 2020 von den behandelnden Ärzten keine konkrete Empfehlung zur Behandlung der Grunderkrankung gegeben hat. Er hat weiter ausgeführt, dass sich die Raumforderung des Glioblastoms selbst erheblich erweitert hat, welche durch die Gabe von Dexamethason (ein Arzneimittel aus der Gruppe der Kortikoide) auch nach Ansicht des MDK Bayern nicht zu stoppen ist. Die Gabe von Avastin hat jedoch gem. Befund vom 29.08.2017, den Dr. G. auch mit dem Originalbild verifizieren konnte, zu einem Rückgang des Tumors mit weit weniger aktiven Arealen geführt. Der Rückgang des perifokalen Ödoms rechts wird hingegen vom Gutachter zwar beschrieben, aber nicht primär der Gabe von Avastin zugeschrieben und auch nicht als Grund für die Verbesserung des klinischen Bilds benannt. Vielmehr beschreibt der Gutachter den Effekt des Wirkstoffs Bevazicumab auf die Blutgefäßversorgung des Tumors als zugrundeliegendes Wirkprinzip, abgesehen von der zugleich bestehenden antiödematösen Wirkung. Mit ergänzender Stellungnahme vom 13.11.2020 hat der Gutachter Dr. G. noch einmal bestätigt, dass die Verbesserung des klinischen Bildes nicht auf die antiödematöse Wirkung von Avastin zurückzuführen ist. Der Prozess eines malignen Glioms werde nicht durch ein Cortison-Präparat unterbunden. Es dürfe als gesichert angesehen werden, dass die im Falle der Versicherten durch den Einsatz von Avastin erreichte Besserung nicht durch den alleinigen Einsatz eines Cortison-Präparats zu erreichen gewesen wäre.
Zugleich hat der Kläger in der Gerichtsverhandlung vom 19.11.2020 überzeugend ausgeführt, dass die leitliniengerechte Behandlung mit Kortikoiden, speziell mit Dexamethason, entgegen der Mutmaßungen des MDK Bayern erfolgt ist. Der Kläger hat der Versicherten als Arzt in Absprache mit dem behandelnden Onkologen über den gesamten Krankheitsverlauf, d.h. auch bis zum Beginn der Avastin-Behandlung, Dexamethason verabreicht. Diese Aussage erscheint in Anbetracht der Arztbriefe vom 31.03.2017 (Bl. 65 der Gerichtsakte) und vom 27.01.2017 (Bl. 71 der Gerichtsakte) glaubwürdig, da hier eine durchgeführte Behandlung mit Dexamethason dokumentiert ist.
Somit stand zur Überzeugung der Kammer weder im Mai 2017 noch (erst recht) im Juli 2017 eine leitliniengerechte Behandlung zur Verfügung. Schließlich ist auch das dritte Tatbestandsmerkmal von § 2 Abs. 1a SGB V erfüllt, da gem. den überzeugenden Ausführungen von Dr. G., die im Gutachten des MDK vom 10.11.2020 bestätigt wurden, die Gabe von Avastin zu einer spürbar positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf führte. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstrittig.
2. Die Kammer ist auch der Überzeugung, dass sich die Versicherte die Leistung bereits im Juli 2017 besorgen durfte, weil eine entsprechende Notsituation vorlag.
Unaufschiebbar im Sinne der gesetzlichen Regelung sind Leistungen, die im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Durchführung so dringlich waren, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs mehr bestand. Diese Fallgruppe erfasst nicht nur Notfälle i. S. d. § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V, bei denen ein unvermittelt aufgetretener Behandlungsbedarf sofort befriedigt werden muss; unaufschiebbar kann auch eine zunächst nicht eilbedürftige Behandlung werden, wenn mit der Behandlung solange gewartet wird, bis die Leistung zwingend erbracht werden muss, damit der mit ihr angestrebte Erfolg noch erreicht werden kann (vgl. BSG in SozR 3-2500 § 13 Nr. 4 S. 26). Die medizinische Dringlichkeit ist indes nicht allein ausschlaggebend. Die erste Fallgruppe setzt weiter voraus, dass die Krankenkasse die in Rede stehenden Leistungen nicht rechtzeitig erbringen konnte. Davon kann im Regelfall nur ausgegangen werden, wenn sie mit dem Leistungsbegehren konfrontiert war und sich dabei ihr Unvermögen herausgestellt hat. Nur da, wo eine vorherige Einschaltung der Krankenkasse vom Versicherten nach den Umständen des Falles nicht verlangt werden konnte, kann die Unfähigkeit zur rechtzeitigen Leistungserbringung unterstellt werden. § 13 Abs. 3 SGB V will lückenlos alle Sachverhalte der berechtigten Selbstbeschaffung von Leistungen in Fällen des Systemversagens erfassen. Bei seiner Auslegung müssen deshalb die Merkmale der beiden Fallgruppen so aufeinander abgestimmt werden, dass dieser Zweck erreicht wird. Daraus folgt, dass der Kostenerstattungsanspruch mit dem Unvermögen der Krankenkasse zur rechtzeitigen Erbringung einer unaufschiebbaren Leistung nur begründet werden kann, wenn es dem Versicherten – aus medizinischen oder anderen Gründen – nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung die Krankenkasse einzuschalten und deren Entscheidung abzuwarten.
Nach diesen Grundsätzen lag nach der Überzeugung der Kammer eine unaufschiebbare Leistung vor. Unerheblich ist insoweit, dass die Versicherte zwischen Mai 2017 und Juli 2017 ohne Avastin-Gabe nur noch palliativ behandelt wurde und insoweit eine vorherige Antragstellung theoretisch möglich gewesen wäre. Denn nach der glaubwürdigen, von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Aussage der Aktivpartei, war der Versicherten im Mai 2017 die mögliche Behandlung mit Avastin gar nicht bewusst, so dass insoweit gar kein Anlass zu einer Antragstellung bestanden hat. Vielmehr hat die Versicherte erst im Juli 2017 von befreundeten Onkologen ihres Ehemanns (des Klägers) über die Möglichkeit der Behandlung mit Avastin erfahren. Zu diesem Zeitpunkt lag hingegen nach dem überzeugenden Sachverständigengutachten von Dr. G. eine akute Notstandssituation in Bezug auf den Heilversuch mit Avastin vor. Der Gutachter führte hierzu aus, dass die Erkrankung der Versicherten unbehandelt in einigen Wochen bis Monaten zum Tod führen würde. Da die Versicherte ab Mai 2017 nicht mehr kurativ, sondern nur noch palliativ behandelt wurde, bestand eine akute Notlage. Das Gericht geht daher in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen davon aus, dass ein Zuwarten – auch wenn es nur einige Wochen dauern würde – seit Kenntnis der Möglichkeit der Behandlung im Off-Label-Use nicht zumutbar war. Entsprechend bestand eine unaufschiebbare Behandlung in dem Sinne, dass die Leistung zwingend sofort erbracht werden musste, damit der mit ihr angestrebte Erfolg noch erreicht werden konnte. Die erste Fallvariante von § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V ist mithin erfüllt.
Zudem ist eine teleologische Reduktion des Kausalitätskriteriums dergestalt vorzunehmen, dass eine vorherige Entscheidung der Beklagten dann nicht notwendig ist, wenn keine Behandlungsalternative ersichtlich ist. Vor dem Hintergrund des Sinn und Zwecks des Kausalitätskriteriums, der gesetzlichen Krankenversicherung mit der Fallprüfung Gelegenheit zu geben, Behandlungsalternativen zu benennen (vgl. BSG, Urteil vom 08. September 2015 – B 1 KR 14/14 R -, Rn. 10, juris Protonentherapie; KassKomm/Schifferdecker, SGB V, § 13 Rn. 87, juris), erscheint die Forderung einer ablehnenden Entscheidung bei einem – wie hier – austherapierten Patienten als reine Förmlichkeit. Genauso wie das Zuwarten einer ablehnenden Entscheidung dann nicht – als rein förmliche Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „Abwarten einer Entscheidung“ – zu einer Kausalität führt, wenn der Versicherte von vorneherein entschlossen war, die außerhalb des gesetzlichen Leistungskatalogs bestehende Leistung unabhängig von der Entscheidungsbegründung der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch zu nehmen (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 11), darf die Kausalität dann nicht verneint werden, wenn die Entscheidung der Beklagten selbst eine reine Förmlichkeit darstellt, da die Krankenkasse gar nicht mehr imstande ist, alternative leitliniengerechte Behandlungen anzubieten. So lag der Fall aber hier, wie vom Sachverständigen Dr. G. überzeugend ausgeführt.
Darüber hinaus stellt die ablehnende Entscheidung der Beklagten eine Zäsur im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 19.03.2009, 1 BvR 316/09) dar. Ein einheitliches Behandlungsgeschehen ist nicht gegeben (vgl. insoweit KassKomm/Schifferdecker, SGB V, § 13 Rn. 86, juris), da vor jeder Avastin-Gabe von den behandelnden Ärzten überprüft wurde, ob noch eine Wirksamkeit von Avastin gegeben ist oder der Tumor bereits aufgrund von Mutationsereignissen immun gegen die zytostatische Wirkung des Medikaments geworden ist. Entsprechend wurde die Behandlung auch im März 2018 gestoppt, weil eine Wirksamkeit nicht mehr nachweisbar war. Daher wäre selbst bei Verneinen einer Kausalität im Zeitraum zwischen der Leistungsbeschaffung und der ablehnenden Entscheidung der Beklagten diese für die Avastin-Selbstbeschaffungen nach dem 09.09.2017 (Bekanntgabe-Zeitpunkt des Bescheids vom 06.09.2017) gegeben.
3. Schließlich führt auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use von Medikamenten nicht zu einer anderen Einschätzung der Kammer.
Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit. Nach § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Hierbei umfasst die Krankenbehandlung nach Maßgabe des S. 2 Nr. 1 die ärztliche Behandlung, mithin die Tätigkeit des Arztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig ist (§ 28 Abs. 1 S. 1 SGB V).
Diese Leistungen müssen nach dem unter § 12 Abs. 1 SGB V statuierten Wirtschaftlichkeitsgebot ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Aus dem Sachleistungsprinzips nach § 2 Abs. 1 und Abs. 2 SGB V folgt, dass die Krankenkassen den Versicherten die im dritten Kapitel genannten Leistungen unter Beachtung dieses Wirtschaftlichkeitsgebots zur Verfügung stellen, soweit diese Leistungen nicht der Eigenverantwortung der Versicherten zuzurechnen sind. Behandlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen sind nicht ausgeschlossen, wobei Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit das SGB V oder das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) nichts Abweichendes vorsehen.
Die Krankenbehandlung umfasst u. a. die Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Fall 1 SGB V). Versicherte können Versorgung mit einem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel zu Lasten der GKV grundsätzlich nur beanspruchen, wenn eine arzneimittelrechtliche Zulassung für das Indikationsgebiet besteht, in dem es angewendet werden soll. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 S. 3, § 12 Abs. 1 SGB V) dagegen nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (stRspr, vgl zB BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 7, RdNr. 22 mwN – D-Ribose; BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, RdNr. 15 – Ilomedin; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 6 RdNr. 9 – restless legs/Cabaseril; BSG Urteil vom 27.3.2007 – B 1 KR 30/06 R – Juris RdNr. 11 = USK 2007-36 – Cannabinol; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 15 RdNr. 21 – ADHS/Methylphenidat; BSGE 111, 168 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 22, RdNr. 12 – Avastin). Avastin ist für die Behandlung des spezifischen Karzinoms der Versicherten nicht zugelassen. Die Versicherte konnte daher mangels indikationsbezogener Zulassung von der Beklagten die Behandlung ihres Glioblastoms mit Avastin zu Lasten der GKV nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 Fall 1 iVm § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V grundsätzlich nicht verlangen.
Die Versicherte hatte jedoch bereits einen Anspruch auf Behandlung nach den (ursprünglich) vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätzen zum „Off-Label-Use“ von Arzneimitteln. Ein Off-Label-Use kam danach in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl. zB BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, RdNr. 17 f – Ilomedin; BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 19, RdNr. 17 mwN – BTX/A). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. BSGE 95, 132 RdNr. 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 3 RdNr. 27 mwN – Wobe-Mugos E; im Falle des Systemversagens BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 10 RdNr. 24 mwN – Neuropsychologische Therapie).
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lag bei der Versicherten eine lebensbedrohliche Erkrankung vor. Dies ist zwischen den Beteiligten unstrittig. Der vom Gericht bestellte Gutachter hat überzeugend dargelegt, dass keine andere Therapie vorhanden war (auch nicht mit Dexamethason). Dr. G. führte zudem aus, dass es eine umfassende Studienlage gibt, die Avastin eine Wirkmächtigkeit in Bezug auf Glioblastome zuschreibt (zwar nicht im Hinblick auf die Gesamtüberlebensrate, aber im Hinblick auf das progressionsfreie Überleben). Avastin stellt danach ein geeignetes Medikament für die Therapie von therapiefraktären malignen Gliomen dar und verbessert nachweislich die Lebensqualität der Patienten auch in einem palliativen Stadium der Erkrankung (Gutachten Dr. G., S. 13). Aus diesem Grunde wurde auch eine Zulassung in Australien, USA und Schweiz erteilt.
Aufgrund des nachgewiesenen Effekts auf das progressionsfreie Überleben und dem damit verbundenen Benefit im Hinblick auf die Lebensqualität sowie dem Steroideinsparenden Effekt von Bevazicumab wird dieses in der Rezidivsituation weiterhin empfohlen, gegebenenfalls in Kombination mit Lomustin. Auch das Universitätsklinikum J., in dem der Gutachter praktiziert, gibt im Einzelfall die Empfehlung zur Therapie mit Avastin (vgl. S. 12 und 17 des Gutachtens von Dr. G.).
Diese Schlussfolgerung der Studienlage – positiver Effekt auf das progressionsfreie Überleben und auf die klinische Situation der Patienten – hat sich auch im Fall der Versicherten nach den Ausführungen des Sachverständigen bewahrheitet.
Die Therapie mit Avastin war nach den überzeugenden Ausführungen des Gutachters insoweit im Falle der Versicherten in Übereinstimmung mit der Studienlage erfolgt und nicht durch eine Standardtherapie (OP, Bestrahlung und Behandlung mit anderen Zytostatika) ersetzbar. Es lag mithin aufgrund wissenschaftlicher Datenlage eine begründete Aussicht vor, dass mit Bevazicumab der genannte Behandlungserfolg erzielt werden konnte. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nach der nunmehr vom ersten Senat aufgegebenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts lagen mithin vor.
Das BSG (erster Senat) verlangt nunmehr in neueren Entscheidungen (BSG, Urteil vom 13. Dezember 2016 – B 1 KR 10/16 R, Rn. 17; bestätigt durch BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R -, Rn. 14, juris; bestätigt von BayLSG, Urteil vom 08.10.2020, Az. L 4 KR 349/18, Entscheidungsgründe liegen noch nicht vor; a.A. wohl BayLSG, Beschluss vom 29.05.2017, L 5 KR 291/17 B ER), dass von hinreichenden Erfolgsaussichten im dargelegten Sinne nur dann auszugehen ist, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen. Nach der Feststellung der Kammer kam es bis zur mündlichen Verhandlung nicht zu einer abgeschlossenen, veröffentlichten kontrollierten klinischen Phase III-Studie mit Relevanz für die Erkrankung der Versicherten (vergleiche auch insoweit die Aussagen von Dr. G. – S. 10 seines Gutachtens -, dass die Zulassung von Avastin von der EMA ursprünglich verweigert worden ist, weil ein Kontrollarm in der Studie Wick et al 2010 fehlte). Insoweit läge nach der nunmehrigen – strengen – Prüfung des BSG entgegen der eindeutigen Aussagen des Sachverständigen keine begründete Aussicht vor, dass mit Bevazicumab der genannte Behandlungserfolg erzielt werden kann – ungeachtet dessen, dass der klinisch-relevante Nutzen bei den hiermit befassten Onkologen in Situationen, in denen sich die Versicherte befand, anerkannt wird (vergleiche Aussage des Sachverständigen – S. 17 des Gutachtens – dass die Therapie mit Bevazicumab im Universitätsklinikum J. in diesen Grenzen Praxis ist). Das BSG setzt sich bei dieser Einengung des „Off-Label-Uses“ zudem nicht damit auseinander, aus welchen Gründen Phase III-Studien bisher unterblieben sind (etwa aus Wirtschaftlichkeitserwägungen der Pharmaunternehmen) und ob andere Wirksamkeitsnachweise (etwa Metaanalysen etc.) oder Endpunkte (dazu gleich unten) nicht genauso – insbesondere im Hinblick auf Art. 2 GG (dazu gleich unten) – Berücksichtigung finden müssen.
Wie der Gutachter Dr. G. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 16.11.2020 diesbezüglich überzeugend ausführte, ist eine vom BSG geforderte Phase-III-Studie im Hinblick auf das betroffene Patientenkollektiv der Versicherten (Palliativpatienten, bei denen es um die Verbesserung der Lebensqualität durch Verringerung der klinischen Symptome geht) aus statistischen und ethischen Gründen gar nicht durchführbar. Zurecht weist der Gutachter darauf hin, dass sich die bei der EMA gescheiterten Anträge allesamt auf das Gesamtüberleben bezogen. Lediglich bei dieser Endpunkt-Definition hat sich kein (signifikanter) Vorteil des Wirkstoffs Bevazicumab ergeben, so dass es zur Ablehnung der Zulassung kam. Würde hingegen als Endpunkt ein palliatives Ziel (Lebensqualität der Patienten am Ende ihrer durchlaufenen Standardtherapie) gesetzt, geht der Gutachter davon aus, dass eine Zulassung zu erteilen wäre (sofern eine entsprechende Studie ethisch durchführbar wäre) und unterstreicht noch einmal, dass Avastin als Therapieoption aufgrund seines sehr guten palliativen Effekts immer zu überprüfen sei.
Er stützt diese Auffassung auch auf eine aktuelle Veröffentlichung im „Journal of Neuro-Oncology“ aus dem Jahr 2020 (148:373-379), für die das Patientenkollektiv der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen in einen Arm mit Bevacizumab- und einen Arm ohne Bevacizumab-Behandlung (je nach Finanzierungsentscheidung der Krankenkassen) unterteilt wurde. Es zeigte sich in dieser retrospektiven Studie auch ein erhöhter Nutzen in Bezug auf das Gesamtüberleben, signifikant abhängig vom Rezidivgrad des Glioblastoms.
Dies zeigt eindrucksvoll, dass das Kriterium einer (mit welchem Endpunkt?) kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) dem Problem nicht gerecht wird. Denn das Studiendesign selbst und nicht unbedingt nur die „Wirksamkeit“ des Arzneistoffs hat erhebliche Relevanz für die Zulassung eines Arzneistoffs (vgl. etwa https://www.value-dossier.de/studiendesign; https://www.amboss.com/de/wissen/Studientypen der medizinischen Forschung; Ludwig, Forum 2020, 35:368-372; Klinische Endpunkte in Studien; Was ist relevant für HTA und Patienten?).
Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob nicht selbst unter Zugrundelegung der (neueren) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Behandlungs-Genehmigung hätte erfolgen müssen, da das Bundessozialgericht (lediglich) auf Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R -, Rn. 14, juris) abstellt. Daher müssten auch Metaanalysen oder retrospektive Studien wie die genannte Studie aus Nürnberg ausreichend sein, um das vom Bundessozialgericht aufgestellte Qualitätsmerkmal zu erfüllen, zumal wenn – wie hier – Phase III-Studien bei der vorliegenden Indikation gar nicht ethisch vertretbar durchgeführt werden können. Der Frage, ob die Studie aus Nürnberg und die weiteren vorhandenen Studien einer Phase III-Studie im Sinne der Entscheidung des BSG qualitätsmäßig vergleichbar sind, muss hingegen aus folgenden Gründen nicht nachgegangen werden:
4. Die Versicherte hatte – unabhängig von der oben skizzierten „strengen“ Auffassung zum „Off-Label-Use“ – Anspruch auf Behandlung mit Bevazicumab nach den vom Bundesverfassungsgericht (Entscheidung vom 06.12.2005, 1 BvR 347/98) entwickelten, und mittlerweile in § 2 Abs. 1a SGB V normierten Anforderungen an das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung (vgl. Verordnungsfähigkeit von nicht zugelassenen Arzneimitteln mit nicht nachgewiesener Wirksamkeit LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 10.05.2016, L 6 KR 87/12 S. 3 KR, Leitsatz 2 und Rn. 37, juris). Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
Nicht gefolgt werden kann in diesem Zusammenhang dem Urteil des BSG vom 13. Dezember 2016 (B 1 KR 10/16 R, Rn. 18 ff.) und dem Folgeurteil vom 11. September 2018 (B 1 KR 36/17 R -, Rn. 15 ff., juris). Der erste Senat setzt sich nach Auffassung der Kammer nicht hinreichend mit den Grundrechtsschranken auseinander, die das Bundesverfassungsgericht in seinem „Nikolausbeschluss“ gesetzt hat. Da § 2 Abs. 1a SGB V zeitlich nach diesem Beschluss – in deklaratorischer Erfüllung der verfassungsrechtlichen Vorgaben – kodifiziert wurde, ist eine „gebotene einschränkende Auslegung“ (so BSG, B 1 KR 10/16 R, Rn. 26) nicht möglich. Nicht das Bundessozialgericht, sondern das Bundesverfassungsgericht ist für die Festlegung der grundrechtsbezogenen Schranken-Schranken (vgl. hierzu nur etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrechte II, § 6 IV 4) zuständig. Diese vom Bundesverfassungsgericht mit seinem Beschluss vom 06.12.2005 gezogenen Grenzen werden zulasten des Grundrechtssubjekts verschoben, wenn das BSG (B 1 KR 10/16 R, Rn. 23, 19) feststellt was folgt: „Die Gesamtrechtssystematik unterstreicht, dass die grundrechtsorientierte Auslegung die externen institutionellen Sicherungen der Arzneimittelzulassungsverfahren nach innerstaatlichem Recht und nach Gemeinschaftsrecht nicht aushebeln soll.“ bzw.: „Der erkennende Senat hat darauf hingewiesen, dass ebenso wenig die Rechtsprechung des BVerfG dazu führen darf, dass unter Berufung auf sie im Einzelfall Rechte begründet werden, die bei konsequenter Ausnutzung durch die Leistungsberechtigten institutionelle Sicherungen aushebeln, die der Gesetzgeber gerade im Interesse des Gesundheitsschutzes der Versicherten und der Gesamtbevölkerung errichtet hat.“
Grundrechte sind immer auch und in erster Linie Individualrechte. Das Bundessozialgericht geht in seinen Urteilen hingegen davon aus, dass der institutionelle Schutz der Gesundheit der Versichertengemeinschaft durch das Arzneimittelzulassungsverfahren durch „eine vermeintlich ?großzügige, im Interesse des einzelnen Versicherten erfolgende richterrechtliche Zuerkennung von Ansprüchen auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel“ faktisch systematisch unterlaufen und umgangen würde (BSG, a.a.O., Rn. 25). Diese Sichtweise verkennt die Qualität der Grundrechte als individuelle Schutzrechte, wonach Art. 2 GG gerade Leben und körperliche Unversehrtheit des einzelnen Grundrechtssubjekts im Blick hat. Es handelt sich nicht um eine „richterrechtliche Zuerkennung“ von Ansprüchen, sondern um einen gesetzlichen Anspruch (§ 2 Abs. 1a SGB V), der unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts kodifiziert wurde. Auch kann die Kammer durch Zuerkennung einer „Off-Label-Behandlung“ im oben aufgezeigten Rahmen keine „faktisch systematische“ Umgehung des Arzneimittelrechts erkennen. Vielmehr handelt es sich bei einem Anspruch aus § 2 Abs. 1a SGB V um „Ultima ratio“-Behandlungen mit eng begrenztem Anwendungsbereich. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu in einer aktuellen Entscheidung (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 11. April 2017 – 1 BvR 452/17 -, Rn. 22, 23, juris), die die Rechtsprechung zum „Nikolausbeschluss“ fortführt, aus:
„Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (BVerfGE 115, 25) (…) aus den genannten Grundrechten einen verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Krankenversorgung abgeleitet, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung vom regulären Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht. (…) Die Schutzwirkungen des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vermitteln allerdings auch über diesen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch hinaus subjektivrechtlichen Grundrechtsschutz. (…) Die Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich an der grundrechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. (…) Den Versicherten steht insoweit ein Anspruch auf eine verfassungsmäßige Ausgestaltung und auf eine grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zu.“ (Unterstreichung durch Kammer)
Eine Unterscheidung zwischen einer Arzneimitteltherapie und einer sonstigen Therapie findet sich weder hier noch im „Nikolausbeschluss“. Sobald die „Ultima ratio“-Situation (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 BvR 2056/12 -, Rn. 18, juris) gegeben ist, besteht ein verfassungsunmittelbarer – subjektiv-rechtlicher – Leistungsanspruch. Dieser kann nach Überzeugung der Kammer nicht mit Hinweis auf den institutionalisierten (objektiv-rechtlichen) Gesundheits- und damit Grundrechtsschutz, wie ihn das Arzneimittelzulassungsrecht gewährleistet, ausgehebelt werden. Die objektiv-rechtlichen Schutzpflichten des Staates und die Grundrechtsberechtigung des Leistungsempfängers sind vielmehr zwei Ausprägungen des verfassungsrechtlich gewährten Grundrechtsschutzes, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können.
Insoweit überzeugt auch nicht, wenn das BSG ausurteilt: „Diese Schutzpflichten sollen die Versicherten auch davor bewahren, auf Kosten der GKV mit zweifelhaften Therapien behandelt zu werden, wenn auf diese Weise eine naheliegende, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht wahrgenommen wird.“ (BSG, Urteil vom 11. September 2018 – B 1 KR 36/17 R -, Orientierungssatz 4, juris). Denn eine naheliegende, medizinischem Standard entsprechende Behandlungsmöglichkeit lag im Falle der Versicherten gerade nicht vor.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lag bei der Versicherten die vom Bundesverfassungsgericht geforderte (BVerfG, Beschluss vom 10. November 2015 – 1 BvR 2056/12 -, Rn. 18, juris) notstandsähnliche Situation vor. Die Versicherte musste nach „allen verfügbaren medizinischen Hilfen greifen“ (BVerfG, a.a.O.).
Nach allem war der Klage stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG, folgt dem Ausgang des Rechtsstreits und berücksichtigt, dass der Sonderrechtsnachfolger ebenfalls gerichtskostenprivilegiert ist.


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