Medizinrecht

Medizinal-Cannabis nur mit vertragsärztlicher Verordnung

Aktenzeichen  S 7 KR 928/20 ER

Datum:
6.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 45565
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V § 13 Abs. 3a, § 31 Abs. 6 S. 1
SGG § 86b

 

Leitsatz

Die Genehmigung einer Versorgung mit Cannabis-Arzneimitteln setzt neben einer vertragsärztlichen Verordnung auch eine begründete ärztliche Einschätzung voraus. Der Vertragsarzt muss den Abwägungsprozess erkennen lassen und darlegen, dass andere Behandlungsansätze erfolglos erprobt worden sind. Es reicht nicht aus, eine Therapieresistenz und Unverträglichkeiten bezüglich der Standardtherapien lediglich pauschal festzustellen, ohne diese Befunde zu belegen und zu begründen.
1. Die Versorgung mit Medizinal-Cannabis verlangt eine vorherige vertragsärztliche Verordnung. (Rn. 32 – 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Cannabis-Privatrezepte dokumentieren nicht, dass der verordnende Arzt sich persönlich von den gesetzlichen Voraussetzungen der Verordnungsfähigkeit überzeugt hat.  (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Gründe

I.
Streitig ist, ob der Antragsteller im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes einen Anspruch auf Kostenerstattung von Medizinal-Cannabisblüten für die Vergangenheit sowie auf künftige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten von monatlich 40 Gramm der Sorte Bedrocan hat.
Der 1984 geborene Antragssteller ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Das Zentrum Bayern Familie und Soziales hat eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 50 festgestellt. Mit dem Ambulanzbrief vom 23.11.2016 stellte das Klinikum C. eine Arachnoidalzyste ohne neurochirurgischen Handlungsbedarf fest.
Für den Antragssteller beantragte Dr. D. mit Schreiben vom 25.04.2017, das bei der Antragsgegnerin am 13.07.2018 eingegangen ist, die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Mit dem Bescheid vom 08.08.2018 lehnte Antragsgegnerin diesen Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, dass vor der Inanspruchnahme von Cannabis eine Bewilligung der Krankenkasse erforderlich sei, diese liege jedoch nicht vor. Mit dem Schreiben vom 12.12.2019 verlangte der Antragssteller erneut die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Zur Begründung trug er vor, dass nach dem Ablauf der dreiwöchigen Frist am 03.08.2018 die Genehmigungsfiktion eingetreten sei.
Laut der Bescheinigung von Dr. D. vom 02.01.2020 leide der Antragssteller an chronischen Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. Daneben bestehe ein Wirbelsäulensyndrom mit BWS und LWS.
Zu Protokoll der Geschäftsstelle hat der Antragssteller am 21.07.2020 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt, mit dem er Kostenerstattung für MedizinalCannabisblüten sowie die künftige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten begehrt.
Der Antragssteller hat vier Privatverordnungen von Dr. D. über Medizinal-Cannabisblüten von jeweils 40 Gramm der Sorte Bedrocan vorgelegt. Auf Grundlage dieser Privatverordnungen hat der Antragssteller bereits die entsprechenden Medizinal-Cannabisblüten auf eigene Kosten zur Behandlung erhalten.
Der Antragssteller trägt vor, dass er an einer schweren und seltenen Erkrankung leide. Eine vertragsärztliche Verordnung sei nach der Vorschrift des § 31 Abs. 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht erforderlich. Auch aufgrund der Genehmigungsfiktion habe er einen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten. Die dreiwöchige Frist zur Entscheidung sei bereits am 03.08.2018 abgelaufen, der Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin sei jedoch erst am 11.08.2018 eingegangen. Bereits bestehende Genehmigungsfiktionen müssten durch einen Verwaltungsakt aufgehoben werden. Die Rücknahme sei jedoch nicht möglich, da die fiktive Leistungsbewilligung nicht von Anfang an rechtswidrig gewesen sei.
Die Antragsgegnerin trägt vor, dass eine für die Versorgung mit Cannabis notwendige vertragsärztliche Verordnung nicht vorgelegt worden sei. Zudem sei fraglich, ob alle dem medizinischen Standard entsprechenden Therapiemethoden zur Behandlung des Antragsstellers ausgeschöpft worden seien. Die Genehmigungsfiktion begründe nach der aktuellen Rechtsprechung des BSG keinen eigenständigen Leistungsanspruch. Auch hinsichtlich eines Anspruchs auf Versorgung mit Cannabis bestehe kein Anordnungsgrund, weil keine besondere Eilbedürftigkeit bestehe. Schließlich sei der Antragssteller im Verwaltungsverfahren wiederholt seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen. Auch eine Kostenerstattung für die Vergangenheit könne durch eine einstweilige Anordnung nicht erreicht werden, da insofern kein Anordnungsgrund bestehe.
Der Antragssteller beantragt sinngemäß, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten,
1.dem Antragssteller die Kosten für Medizinal-Cannabisblüten der Sorte Bedrocan im Umfang der vorgelegten Privatverordnungen von Dr. D. vom 30.03.2020, 28.04.2020, 02.06.2020 und 02.07.2020 zu erstatten und
2.den Antragssteller bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens vorläufig bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache monatlich mit vierzig Gramm Medizinal-Cannabisblüten der Sorte Bedrocan zu versorgen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Das Gericht entscheidet gemäß § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) über die vom Antragssteller erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Erforderlichenfalls muss der Antrag ausgelegt werden. Dabei geht das Gericht von dem aus, was der Antragssteller erreichen möchte; im Zweifel wird dieser den Antrag stellen wollen, der ihm am besten zum Ziel verhilft (Meistbegünstigungsprinzip; MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 123 Rn.
In Auslegung der klägerischen Anträge begehrt der Antragssteller mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung für die Vergangenheit Kostenerstattung für Medizinal-Cannabisblüten und für die Zukunft bis zu einer abschließenden Entscheidung in der Hauptsache die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten als Sachleistung.
Der Antrag ist zulässig.
Der Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung ist vorliegend gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG statthaft. Einstweilige Anordnungen sind demnach zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Bezüglich der erforderlichen drohenden wesentlichen Nachteile (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG) macht der Antragssteller geltend, dass die fehlende Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten schwere Auswirkungen auf seine Gesundheit habe.
Der Antrag ist unbegründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind demnach auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
Ein solcher Antrag ist auch schon vor Klageerhebung zulässig (§ 86b Abs. 3 SGG), wenn gegen eine ablehnende Entscheidung der Krankenkasse Widerspruch eingelegt worden ist. Die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Dabei hat das Gericht die Belange der Öffentlichkeit und des Antragstellers abzuwägen. Wenn eine Klage keine Aussicht auf Erfolg hätte, ist ein Recht, das geschützt werden muss, nicht vorhanden (LSG München, Beschluss vom 25.06.2018 – L 4 KR 119/18 B ER – Rn. 35).
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl der Anordnungsgrund als auch der Anordnungsanspruch glaubhaft sind (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit §§ 290 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung – ZPO). Die Glaubhaftmachung begnügt sich bei der gemäß § 103 SGG von Amts wegen gebotenen Ermittlung des Sachverhaltes mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit – während im Hauptsacheverfahren die volle Überzeugung von den beweiserheblichen Tatsachen notwendig ist (vgl. MKLS/B. Schmidt, 12. Aufl. 2017, SGG § 103 Rn. 6a).
Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs ist das materielle Recht, das vollumfänglich zu prüfen ist. Steht dem Antragsteller ein von ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.09.2015 – L 4 KR 276/15 B ER – Rn. 19).
1. Der Antrag auf Kostenerstattung von Medizinal-Cannabisblüten für die Vergangenheit ist unbegründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG besteht kein Anordnungsgrund, da eine Regelungsanordnung, welche die Antragsgegnerin zur Kostenerstattung von Medizinal-Cannabisblüten für die Vergangenheit verpflichten würde, zur Abwendung wesentlicher Nachteile nicht nötig ist. Es ist dem Antragssteller zuzumuten, die für die begehrte Erstattung von bereits getätigten Auslagen für Medizinal-Cannabisblüten den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.
Eine Verpflichtung zur Zahlung von Geldleistungen für einen zurückliegenden Zeitraum wird von Sinn und Zweck der Regelung nicht erfasst. Leistungen für die Vergangenheit können grundsätzlich nur im Hauptsacheverfahren geltend gemacht werden (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.02.2013 – L 1 KR 33/13 B ER). Denn das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG ist regelmäßig nicht darauf gerichtet, Geldleistungen für die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart und Zukunft zu gewähren (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.09.2015 – L 4 KR 276/15 B ER – Rn. 22; MKLS/Keller, 13. Aufl. 2020, SGG § 86b Rn. 35a).
2. Der Antrag auf künftige Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten ist unbegründet.
Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG besteht kein Anordnungsanspruch, weil nach materiellem Recht der erhobene Anspruch nicht besteht, so dass eine Klage in der Hauptsache keine Aussicht auf Erfolg hätte.
aa. Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten aus § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V liegen nicht vor.
Gemäß § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten in Form von getrockneten Blüten in standardisierter Qualität, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Gemäß § 31 Abs. 6 SGB V soll die Möglichkeit eröffnet werden, einen individuellen Therapieversuch mit Cannabis-Arzneimitteln vorzunehmen. Es ist eine Abwägung vorzunehmen, womit im Falle einer Standardbehandlung zu rechnen sein wird und wie sich diese konkret auf den Versicherten auswirkt. Hierfür ist eine begründete Einschätzung erforderlich, welche zwingend den Abwägungsprozess erkennen lassen muss. (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.02.2019 – L 11 KR 240/18 B ER – Rn. 19; BeckOK SozR/Bischofs, 01.09.2019, SGB V § 31 Rn. 92).
Zur Überzeugung des Gerichts besteht keine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass für die Erkrankung des Antragsstellers eine Standardtherapie nicht zur Verfügung steht oder eine vorhandene Standardtherapie nicht anschlägt oder unter Abwägung der Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands nicht zur Anwendung kommen kann. Aus der ärztlichen Bescheinigung von Dr. D. vom 02.01.2020 geht nicht hervor, dass andere Behandlungsansätze erfolglos erprobt worden sind. Eine Therapieresistenz und Unverträglichkeiten bezüglich der Standardtherapien werden lediglich pauschal festgestellt, ohne diese Befunde zu belegen und zu begründen.
Ein Anordnungsanspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten nach § 31 Abs. 6 SGB V besteht auch deshalb nicht, weil es an einer vertragsärztlichen Verordnung fehlt.
Nach dem Gesetzeswortlaut des § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB V ist eine vertragsärztliche Verordnung Voraussetzung für die Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten (vgl. LSG Bayern, Beschluss vom 25.06.2018 – L 4 KR 119/18 B ER – Rn. 42, KassKom/Nolte, SGB V § 31 Rn. 75g). Als versichertes Mitglied hat der Antragssteller gegenüber der Antragsgegnerin gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V einen Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Mit der vertragsärztlichen Verordnung wird der Anspruch auf Krankenbehandlung im Einzelfall konkretisiert. Schließlich stellt der Vertragsarzt das Vorliegen einer Krankheit fest und verordnet eine medizinisch nach Zweck oder Art bestimmte Dienst- oder Sachleistung zu einer Behandlung im Sinne des § 27 Satz 1 SGB V (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.1993 – 4 RK 5/92).
Der Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung bedarf zu seiner Realisierung der Konkretisierung im Einzelfall, die eine vertragsärztliche Verordnung gemäß § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V auf dem entsprechenden Formblatt erfordert (BSG 16.12.1993 – 4 RK 5/92). Ein Privatrezept bzw. privatärztliches Betäubungsmittelrezept genügt hierfür nicht, weil damit allein nur das Vorliegen der Voraussetzungen des Betäubungsmittelrechts bestätigt werden, nicht aber die Voraussetzungen gemäß § 31 Abs. 6 SGB V (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.09.2017 – L 11 KR 3414/17 ER-B – Rn. 19). Liegt lediglich ein Privatrezept vor, ist nicht erkennbar und auch nicht dokumentiert, dass der verordnende Arzt sich persönlich vom Vorliegen der in § 31 Abs. 6 Satz 1 SGB V enthaltenen Voraussetzungen überzeugt hat (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 19.09. 2017 – L 11 KR 3414/17 ER-B – Rn. 21).
bb. Ein Leistungsanspruch des Antragsstellers auf Versorgung mit MedizinalCannabisblüten besteht nicht aufgrund der Genehmigungsfiktion gem. § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V.
Der Erstattungsanspruch des § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V setzt im Zusammenhang mit der Mitteilungspflicht (§ 13 Abs. 3a S. 5 SGB V) und dem Eintritt der Genehmigungsfiktion (§ 13 Abs. 3a S. 6 SGB V) voraus, dass die Krankenkasse keinen oder keinen hinreichenden Grund mitteilt. Die beantragte Leistung gilt nach Ablauf der Fristen des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V als genehmigt (§ 13 Abs. 3a S. 6 SGB V).
Nach der höchstRichterlichen Rechtsprechung begründet eine fingierte Genehmigung nach dem Leistungsrecht (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V) keinen eigenständigen Naturalleistungsanspruch, sondern bei Ablauf der in § 13 Abs. 3a SGB V genannten Fristen nur ein Recht auf Selbstbeschaffung mit Anspruch auf Erstattung der Beschaffungskosten (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R).
Eine fingierte Genehmigung vermittelt dem Versicherten eine Rechtsposition sui generis. Diese erlaubt es ihm, sich die Leistung (bei Gutgläubigkeit) selbst zu beschaffen und verbietet es der Krankenkasse nach erfolgter Selbstbeschaffung, eine beantragte Kostenerstattung mit der Begründung abzulehnen, nach dem Recht der GKV bestehe kein Rechtsanspruch auf die Leistung. Dies folgt aus Entstehungsgeschichte, Binnensystematik der Vorschrift und der Fortentwicklung des Genehmigungsfiktionsrechts in der parallelen Vorschrift des § 18 Abs. 1 Abs. 6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Der Wortlaut der Vorschrift erlaubt diese Auslegung. Sie steht auch im Einklang mit dem Regelungszweck. § 13 Abs. 3a Satz 6 und 7 SGB V stehen nach dieser Auslegung auch in Einklang mit höherrangigem Recht. Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) wird nicht verletzt (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – Rn. 9 f.).
Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich nur, dass mit Eintritt der Genehmigungsfiktion nach Ablauf der Frist Versicherte die Möglichkeit der Selbstbeschaffung mit Anspruch auf Kostenerstattung haben. Sie regelt aber weder die Rechtsnatur der Genehmigungsfiktion im Sinne eines Verwaltungsakts noch ordnet sie einen Naturalleistungsanspruch sui generis als ihre Rechtsfolge ausdrücklich an (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – Rn. 12). Die Gesetzesmaterialien bestätigen diesen Wortlautbefund. Danach wollte der Gesetzgeber mit § 13 Abs. 3a Satz 6 und 7 SGB V nur einen eigenständigen Kostenerstattungsanspruch schaffen. Der Entwurf der Bundesregierung des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (PatRVerbG – BT-Drucks 17/10488) sah ein Verfahren zur Beschleunigung der Bewilligungsverfahren bei den Krankenkassen vor. Es sollte zur schnellen Klärung von Leistungsansprüchen führen und bewirken, dass „die Versicherten bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen in kurzer Zeit ihre Leistungen“ erhalten (BT-Drucks 17/10488 S. 32). Bei nicht rechtzeitiger Leistungserbringung sollten Versicherte sich erforderliche Leistungen selbst beschaffen können. Hierfür sollten die Versicherten nach Ablauf gesetzlich geregelter Fristen und fruchtlos von ihnen gesetzter angemessener Fristen ein Recht zur Selbstbeschaffung mit nachfolgender Kostenerstattung erhalten (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – Rn. 13).
Die systematische Verortung des Abs. 3a in § 13 SGB V, der die Überschrift „Kostenerstattung“ trägt, spricht ebenfalls für die Auslegung, dass § 13 Abs. 3a SGB V keinen Naturalleistungsanspruch sui generis eröffnet (vgl Helbig in jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020, § 13 RdNr. 144). § 13 Abs. 1 SGB V regelt den Grundsatz, dass die Krankenkasse anstelle der Sach- oder Dienstleistung Kosten nur erstatten darf, soweit es das SGB V oder das SGB IX vorsieht. Vor Einfügung des Absatzes 3a in § 13 SGB V hatten die übrigen Absätze der Vorschrift nur Kostenerstattungsansprüche zum Gegenstand und auch Absatz 3a regelt in Satz 7 als Rechtsfolge ausdrücklich nur eine Kostenerstattung. Zu einem Naturalleistungsanspruch schweigt Absatz 3a dagegen (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – Rn. 14).
Die Auslegung des § 13 Abs. 3a SGB V als Kostenerstattungsregelung steht auch mit dem Beschleunigungszweck und dem Sanktionscharakter des § 13 Abs. 3a SGB V in Einklang (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – Rn. 17). Die Gesamtregelung will erreichen, dass der Versicherte Naturalleistungen schnell erhält. Zweck der Vorschrift ist es dagegen nicht, einem Versicherten Leistungen zu verschaffen, auf die er nach dem Recht der GKV keinen Anspruch hat. Ist die Krankenkasse nicht in der Lage oder nicht willens, schnell zu entscheiden, soll der Versicherte selbst die Beschleunigung bewirken können. Das Selbstbeschaffungsrecht macht ihn unabhängig vom weiteren Vorgehen der Krankenkasse (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – Rn. 18).
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verlangt nicht, dass eine fingierte Genehmigung nach nicht fristgemäßer Entscheidung über einen Leistungsantrag einen Anspruch auf die beantragte Sachleistung zur Rechtsfolge haben muss, damit mittellose Versicherte sich Leistungen zulasten der GKV verschaffen können, auf die materiell-rechtlich nach dem Leistungsrecht des SGB V kein Anspruch besteht. Entscheidend ist, dass alle Versicherten nach den gleichen rechtlichen Grundsätzen Zugang zu den Sachleistungsansprüchen der GKV haben. Dass finanziell besser gestellte Versicherte sich eine umstrittene Leistung grundsätzlich einfacher auf ihre Kosten beschaffen können, war schon bisher auch bei der Anwendung des § 13 Abs. 3 SGB V (Kostenerstattung für selbstbeschaffte Leistungen in einem Notfall bzw. bei nach vorherigem Antrag zu Unrecht erfolgter Ablehnung) möglich, ohne dass die Rechtsprechung des BSG dies als verfassungswidrig eingestuft hat (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – Rn. 21).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.


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