Sozialrecht

Anrechnung von Mehrleistungen auf eine Unfallrente

Aktenzeichen  W 1 K 20.770

Datum:
8.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 35700
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBeamtVG Art. 85 Abs. 1, Art. 55
SGB VII § 56, § 63, § 94 Abs. 1, Abs. 3
BayVwVfG Art. 48

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die auf Aufhebung des Bescheids vom 06.09.2019, mit dem das Landesamt den Bescheid vom 06.09.2018 gemäß Art. 48 Abs. 1 S. 1 BayVwVfG zurückgenommen hat, gerichtete Klage ist zulässig, aber unbegründet.
1. Der Bescheid vom 06.09.2018 war rechtswidrig und nicht begünstigend. Mit ihm wurden die von der Unfallkasse gewährten Mehrleistungen fälschlicherweise nicht als Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach Art. 85 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 BayBeamtVG bei den der Klägerin zustehenden Versorgungsbezügen berücksichtigt.
Bereits der Wortlaut spricht dafür, dass es sich bei den von der gesetzlichen Unfallversicherung bewilligten Mehrleistungen ebenfalls um einen (Teil der) Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung handelt, da der Begriff „Mehr“-Leistungen deutlich impliziert, dass die gewährte Leistung, vorliegend eine Rente nach § 56 ff SGB VII, lediglich quantitativ aufgestockt wird (vgl. auch die Formulierung in § 94 Abs. 2 SGB VII: „Mehrleistungen zu Renten“). Bei einer qualitativen Erweiterung hätte eine Formulierung wie „zusätzliche Leistungen“ o.ä. nähergelegen. Deshalb sind Mehrleistungen nur in Form der Ergänzung, Erweiterung oder Erhöhung zu gesetzlich ohnehin vorgesehenen Leistungen zulässig. Hingegen dürfen Zuwendungen, die ihrer Art nach nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung gehören, auch nicht als Mehrleistungen erbracht werden, sodass zum Beispiel die Gewährung von Schmerzensgeld etc. nicht zulässig ist (vgl. Hauck/Noftz, SGB VII, § 94 Rn. 3; juris PK – SGB VII, § 94 Rn. 15 ff.; Jung, SGB VII, § 94 Rn. 7).
Nach der Entstehungsgeschichte und dem Zweck der Regelung des Art. 85 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 BayBeamtVG sollte eine Gleichbehandlung von Beamten, die vor dem Eintritt in das Beamtenverhältnis einen Arbeitsunfall erlitten haben und eine Unfallrente erhalten mit Arbeitnehmern und Beamten ohne Statuswechsel („Nur-Beamten“) hergestellt werden. Bei Arbeitnehmern wird der Teil der Unfallrente, der Lohnersatzfunktion hat, mit der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung verrechnet. Beamte erhalten nach einem Unfall einen Unfallausgleich nach § 35 BeamtVG, der keine Lohnersatzfunktion hat und neben den Versorgungsbezügen gewährt wird. Daher ist in den Fällen, in denen ein Beamter vor seinem Eintritt in das Beamtenverhältnis einen Arbeitsunfall erlitten hat und eine Unfallrente erhält, der Teil der Unfallrente, der Lohnersatzfunktion hat, auf das Ruhegehalt anzurechnen (vgl. BT-Drs. 14/7064, S. 40; vgl. auch Ziffer 85.1.4 Satz 1 BayVV-Versorgung).
Nicht nur der Unfallrente an sich, sondern auch den Mehrleistungen kommt Lohnersatzfunktion zu. Eine abweichende Bewertung folgt auch nicht daraus, dass die Mehrleistungen aufgrund einer Satzungsregelung und deshalb gewährt werden, weil es dem Gesetzgeber sozialpolitisch wünschenswert erschienen ist, Personen, die im Interesse des Gemeinwohls tätig geworden und dabei durch Unfall oder Krankheit zu Schaden gekommen sind, bei den Leistungen der Unfallversicherung gegenüber in einem „Normalfall“ betroffenen Personen besser zu stellen. Der Umstand, dass die Mehrleistungen nicht unmittelbar auf der Grundlage einer Vorschrift des SGB VII, sondern gemäß einer nach § 94 SGB VII ermöglichten Satzungsregelung gewährt werden, ändert nichts daran, dass die Mehrleistungen Teil der vom Träger der gesetzlichen Unfallversicherung gewährten, den Lohn ersetzenden Rente sind. Auch der dargelegte gesetzgeberische Grund für die Zuerkennung von Mehrleistungen erlaubt nicht die Annahme, diese Leistungen seien versorgungsrechtlich im Verhältnis zur Unfallrente ein Aliud, also in qualitativer Hinsicht etwas Anderes. Denn dieses Motiv ändert nichts daran, dass die gewährten Mehrleistungen Lohnersatzleistungen darstellen, welche lediglich die im Normalfall erbrachten Leistungen erhöhen (vgl. OVG NRW, B.v. 23.07.2010 – 1B 426/10; OVG NRW, B.v. 29.01.2016 – 1 A 1862/14; B.v. 22.12.2016 – 1 A 2407/15 – jeweils juris).
Auch die gesetzgeberisch gewollte Gleichstellung mit einem Nur-Beamten, der keine Leistungen aus dem SGB VII bezieht, spricht gegen eine Anrechnungsfreiheit der Mehrleistungen, da bei einem Nur-Beamten im Beamtenversorgungsrecht Mehrleistungen per se nicht vorgesehen sind und somit auch nicht anrechnungsfrei bleiben können. Dieser stünde damit schlechter als ein Beamter, der auch Leistungen aus dem SGB VII – u.a. in Form von Mehrleistungen – bezieht.
Schließlich kann auch der hinter der Gewährung der Mehrleistung stehende Belohnungs- bzw. Prämierungsgedanke als besondere Anerkennung für eine Aufopferungsleistung einer Anrechnung nicht entgegenstehen (anders BSG, U.v. 15.08.1996 – 9 RVg 5/94 – juris für eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz – OEG), da dieser Gedanke die bereits oben dargestellte Lohnersatzfunktion nicht entfallen lässt. Hierfür spricht, dass der Belohnungs- bzw. Prämierungsgedanke auch bereits der Gewährung der Unfallrente als solcher in Fällen des § 2 Abs. 1 Nr. 13a) SGB VII zugrunde liegt, so dass nicht erkennbar ist, warum dieser Gedanke dann der Anrechnung von Mehrleistungen entgegenstehen sollte, wenn der Gesetzgeber vor diesem Hintergrund nicht bereits bei der Anrechnung der Unfallrente als solcher hiervon abgesehen hat. Der Gesetzgeber hat in Art. 85 BayBeamtVG zudem explizit eine Ausnahme von der Anrechnung vorgesehen, nämlich einen dem Unfallausgleich entsprechenden Betrag, da diesem keine Lohnersatzfunktion zukommt. Hat der Gesetzgeber also eine Leistung/einen Betrag, dem anerkanntermaßen keine Lohnersatzfunktion zukommt, ausdrücklich von der Anrechnung ausgenommen, so spricht vieles dafür, dass auch die dem Gesetzgeber bekannten Mehrleistungen als weitere Ausnahme aufgenommen worden wären, wenn sie nach dessen Willen hätten anrechnungsfrei bleiben sollen.
§ 94 Abs. 3 SGB VII, der eine Anrechnung der Mehrleistungen auf Geldleistungen, deren Höhe vom Einkommen abhängig ist, verbietet, ist vorliegend nicht direkt anwendbar, da die bundesgesetzliche Regelung betreffend die gesetzliche Unfallrente bzw. gesetzliche Leistungen in der Regelungszuständigkeit des Bundesgesetzgebers nicht für das Bayerische Versorgungsrecht Geltung beanspruchen kann. Fraglich ist, ob der Rechtsgedanke fruchtbar zu machen ist: Es ist davon auszugehen, dass das Beamtenversorgungsrecht ein abgeschlossenes Regelungs- und Versorgungssystem im Verhältnis zum System der gesetzlichen Sozialversicherung darstellt. Bestimmte in einem der beiden System geregelte Vor- oder auch Nachteile sind – zumindest ohne klar erkennbare gesetzgeberische Anhaltspunkte wie vorliegend – nicht ohne weiteres für das jeweils andere System fruchtbar zu machen, sodass sich die Klägerin vorliegend nicht auf diese begünstigende Sonderregelung im SGB VII berufen kann (so auch: juris PK, SGB VII, § 94 Rn. 30, a.A. Jung, SGB VII, § 94 Rn. 13). Kommt die Auslegung des Art. 85 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 BayBeamtVG zu dem Ergebnis, dass Mehrleistungen nicht anrechnungsfrei bleiben (s.o.), so spricht auch der Gesetzesvorbehalt des Art. 3 BayBeamtVG gegen eine Anrechnungsfreiheit.
Dahingestellt bleiben kann daher, ob vorliegend überhaupt die Voraussetzungen des § 94 Abs. 3 SGB VII vorliegen, d. h. ob die Witwen- und Waisenversorgung eine Geldleistung darstellt, deren Höhe vom Einkommen abhängt. Bejaht hat das das BSG (Urteil vom 15.08.1996 – 9 RVg 5/94 – juris) hinsichtlich der Ruhensvorschrift nach § 65 BVG, nach der der Anspruch auf Versorgungsbezüge ruht, wenn beide Ansprüche auf derselben Ursache beruhen, in Höhe der Bezüge aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Nach der Legaldefinition ist ein Verwaltungsakt begünstigend, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt, Art. 48 Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG. Dies war beim Verwaltungsakt vom 06.09.2018 nicht der Fall, da nach dem Tenor zwar Versorgungsbezüge gewährt werden, diese jedoch aufgrund der erstmalig vorgenommenen Ruhensberechnung gegenüber dem Ausgangsversorgungsbescheid in Höhe des Ruhensbetrages niedriger ausfallen, womit es sich um einen belastenden Verwaltungsakt handelt. Nach dem objektiven Erklärungsgehalt regelt der Bescheid nicht mehr die Gewährung von Versorgungsbezügen, sondern lediglich erstmalig belastend das Ruhen eines Teils der Versorgungsbezüge aufgrund der Unfallrente; der Bescheid erscheint daher auch nicht teilweise begünstigend und enthält auch nicht begünstigend die Aussage, dass kein höherer Betrag zum Ruhen gebracht wird als verbeschieden. Dies trifft auf den Bescheid vom 06.09.2018 indes nicht zu, denn dieser enthält lediglich die – belastende – Regelung, dass die Versorgungsbezüge der Klägerin aufgrund der Ruhensvorschrift des § 55 BeamtVG um monatlich 528,86 EUR gekürzt werden.
Allerdings handelte es sich um einen geringeren Ruhensbetrag als gesetzlich vorgesehen (infolge der Nichtberücksichtigung des Mehrbetrages bei der Anrechnung, s.o.). Belastet ein Verwaltungsakt den Betroffenen weniger als möglich oder erwartet, so wird er dadurch allein nach h.M. nicht schon zu einem begünstigenden Verwaltungsakt (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 48 Rn. 69). Keinen begünstigenden Verwaltungsakt stellt die irrtümlich zu niedrige Festsetzung vom Bürger zu zahlender Geldbeträge dar. Insoweit enthält der Verwaltungsakt grundsätzlich nicht die begünstigende Aussage, dass ein höherer Geldbetrag nicht gefordert werden wird. Die Festsetzung eines zu niedrigen Gebührensatzes kann nach Abs. 1 Satz 1 zurückgenommen werden (vgl. Stellkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48 Rn. 123, 43). Als Begünstigung ist eine zu niedrige Belastung nur anzusehen, wenn durch die entsprechende Festsetzung zugleich ausdrücklich oder konkludent verbindlich klargestellt bzw. sonst geregelt wurde oder der Bürger den Verwaltungsakt jedenfalls nach Treu und Glauben so verstehen durfte, dass die Behörde auf weitergehende oder andersartige zusätzliche Belastungen verzichtet bzw. solche jedenfalls nicht mehr auferlegt werden würden und dem Verwaltungsakt insofern eine der des Satzes ne bis in idem vergleichbare Konsumationswirkung zukommt (vgl. Kopp/Ramsauer, a.a.O.).
Den Bescheiden ist nach deren objektiven Erklärungsinhalt, §§ 133,157 BGB analog, hinsichtlich eines Verzichts auf einen höheren Ruhensbetrag nichts zu entnehmen. Die reine Bezifferung des Ruhensbetrages in der Anlage zum Bescheid stellt sich insoweit als neutrales Ergebnis einer Berechnung dar. Umgekehrt weist aber auch die Formulierung, dass die Ruhensberechnung nur so lange gelte, als sich die der Berechnung zugrundeliegenden Verhältnisse nicht ändern, nicht auf das Gegenteil hin, zumindest nicht für den hier vorliegenden Fall einer lediglich rechtlich falschen Einschätzung der Behörde.
Letztlich kann diese Frage dahingestellt bleiben: Selbst wenn man vor dem Hintergrund, dass der Teil des über der Höchstgrenze liegenden Ruhegehalts kraft Gesetzes ruht und der Ruhensbescheid feststellenden Charakter hat (vgl. BVerwG, U.v. 15.11.2016 – 2 C 9/15 – juris), so dass die Klägerin den Bescheid vom 06.09.2018 angesichts der – auf Basis der beim LfF vorliegenden Unterlagen der Unfallkasse – explizit vorgenommenen (deklaratorischen) Feststellung der Höhe des Ruhensbetrages nach Treu und Glauben so verstehen durfte, dass weitergehende Belastungen aufgrund der Leistungen der Unfallkasse nicht geltend gemacht werden (vgl. auch BayVGH, U.v. 26.11.2018 – 14 B 15.910 – juris Rn. 40), ändert sich nichts am Gesamtergebnis.
In diesem Falle sind die Einschränkungen der Rücknehmbarkeit nach Art 48 Abs. 2 BayVwVfG zu beachten, wobei vorliegend keine Erkenntnisse dazu existieren, dass die Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut haben und ihr Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn die Begünstigten gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen haben, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen können. Dies hat die Klägerin nicht vorgetragen.
Der Beklagte hat hinsichtlich der Rücknahme im Bescheid vom 06.09.2019 sein Ermessen ausgeübt, ohne dass Ermessensfehler im Sinne des § 114 VwGO ersichtlich sind. Im Bescheid wurde darauf hingewiesen, dass das Vertrauen der Klägerin auf den Bestand der ursprünglichen Ruhensregelung dem Interesse des Freistaats Bayern an der sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung von Haushaltsmitteln gegenüberzustellen ist. Das LfF hat dem Interesse des Freistaats Bayern den Vorrang eingeräumt, weil ein Verbrauch der Leistungen oder entsprechende Vermögensdispositionen nicht möglich gewesen seien, so dass das schützenswerte Vertrauen der Kläger gering gewesen sei. Dies ist nicht zu beanstanden.
Nach alldem bleibt die Anfechtungsklage erfolglos.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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