Verwaltungsrecht

“Angesetzter” im Haftraum – Meldepflicht

Aktenzeichen  2 StVK 507/19

Datum:
25.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 38524
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Amberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BayStVollzG Art. 88 Abs. 4

 

Leitsatz

Bereits die bloße Existenz von „Angesetztem“ in einem Haftraum löst eine Meldepflicht nach Art. 88 Abs. 4 BayStVollzG aus; dazu bedarf es keiner konkreten Feststellungen zu dessen Alkoholgehalt bzw. zur sonstigen chemischen Zusammensetzung (Abweichung zu OLG München Beschluss vom 01.04.2010, 4 Ws 40/10). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe bewilligt.
2. Der Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts wird zurückgewiesen.
3. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 06.08.2019 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
4. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 5000 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller befindet sich in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Amberg. Strafende ist für den XX.XX.20XX vorgemerkt.
Mit Schreiben vom 06.08.2019, hier eingegangen am 12.08.2019, hat der Antragsteller eine gerichtliche Entscheidung nach §§ 109 ff. StVollzG beantragt. Ergänzend trug der Antragsteller am 09.08.2019 vor. Unter dem 21.08.2019 beantragte er Prozesskostenhilfe und die Beiordnung von Rechtsanwalt B. aus M..
Die Vollzugsbehörde hat zu dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit Schreiben vom 02.09.2019 Stellung genommen.
Der Antragsteller erhielt Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
Er tat dies mit Schreiben vom 10.09.2019 und vom 12.09.2019.
Der Antragsteller wendet sich gegen die Disziplinarmaßnahme vom 06.08.2019 gegen ihn in Form des Entzugs der Verfügung über das Hausgeld und des Einkaufs für die Dauer von einem Monat, zur Bewährung ausgesetzt für die Dauer von 3 Monaten, die die Antragsgegnerin gegen ihn verhängte, weil am 29.07.2019 im Wasserkocher des Antragstellers im mit insgesamt 6 Gefangenen belegten Haftraum … „Angesetzter“ gefunden wurde, was der Antragsteller der Antragsgegnerin nicht zuvor gemeldet hatte.
Der Antragsteller ist der Meinung, dass es in der JVA Amberg mangels Hausordnung kein Alkoholverbot gebe. Jedenfalls sei ihm eine Hausordnung nicht bekannt gegeben wurden. Den Inhalt in seinem Wasserkocher bestreite er. Jedenfalls habe er nicht erkannt, dass es sich um „Angesetzten“ gehandelt habe. Für eine Meldung an die Antragsgegnerin sei ihm schon kein ausreichendes Zeitfenster verblieben. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München habe keine Meldepflicht bestanden. Eine Meldung habe von ihm wegen zu befürchtender Repressalien nicht verlangt werden können.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Schreiben des Antragstellers Bezug genommen.
Die Antragsgegnerin hält den Antrag wegen Missbrauchs für unzulässig. Sie geht von einer Meldepflicht aus, sobald in einem Gefängnis mittels Früchten und Hefe ein Gärungsprozess zur Herstellung von Alkohol in Gang gesetzt wird.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme der JVA Amberg Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist nicht wegen Rechtsmissbrauchs unzulässig. Der Antragsteller verfolgt die Aufhebung der gegen ihn verhängten Disziplinarmaßnahme. Darin liegt ein legitimes Ziel. Soweit er daneben jedwede vermeintliche rechtswidrige Maßnahme gegen ihn anfechten will, begründet dies noch keinen Missbrauch im vorliegenden Fall.
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist unbegründet und war deshalb zurückzuweisen.
Das Bestehen einer Hausordnung und deren Bekanntgabe an den Antragsteller kann vorliegend dahingestellt bleiben. Denn mit der verhängten Disziplinarmaßnahme soll nicht ein Verstoß gegen Nummer 22 der Hausordnung sanktioniert werden.
Der Inhalt des Wasserkochers steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund der dienstlichen Feststellungen und Äußerungen des Vollzugsbeamten C., des Inspektors im Justizvollzugsdienst D. und der Regierungsrätin E.. Nach deren Bekundungen roch das Gemisch im Wasserkocher eindeutig nach Alkohol. Es waren in einer Flüssigkeit Fruchtstückchen zu erkennen. Ein Gärungsprozess fand augenscheinlich und dem Geruch nach statt.
Diese Sinneswahrnehmungen waren auch dem Antragsteller möglich. Jedenfalls der olfaktorischen Wahrnehmung konnte sich der Antragsteller nicht entzogen haben. Die Kammer sieht sich nicht in der Lage, der Einlassung des Antragstellers zu folgen, er habe den Geruch von Alkohol nicht erkannt. Dieser Geruch ist einem erwachsenen Mann in Mitteleuropa bekannt.
Nach den dienstlichen Feststellungen und Äußerungen des Vollzugsbeamten C. war der Geruch nach „Angesetztem“ bis auf den Gang hinaus wahrnehmbar. Daraus folgert die Kammer, dass der Gärungsprozess bereits geraume Zeit stattfand. Dies wiederum bedeutet, dass dem Antragsteller ein ausreichendes Zeitfenster für eine Meldung zur Verfügung stand.
Die Kammer verkennt nicht die Rechtsprechung des OLG München (Beschluss vom 01. April 2010 – 4 Ws 40/10 (R) -, juris). Danach kann erst dann, wenn Art, Menge und Wirkungsgehalt des im Haftraum aufgefundenen Rauschmittels bekannt sind, beurteilt werden, ob Disziplinarmaßnahmen wegen erheblicher Gefahren für die Gesundheit von Personen im Sinne des Art. 88 Abs. 4 BayStVollzG zu Recht verhängt worden sind. Mangels chemischer Analyse des am 29.07.2019 aufgefundenen Gemischs könnte folglich vorliegend eine Disziplinarmaßnahme nicht ausgebracht werden.
Überzeugender ist für die Kammer indes die Ansicht von Arloth/Krä (Strafvollzugsgesetz, 4. Aufl., § 82 Strafvollzugsgesetz Rn. 7): bereits die bloße Existenz von „Angesetztem“ in einem Haftraum löst eine Meldepflicht aus; dazu bedarf es keiner konkreten Feststellungen zu dessen Alkoholgehalt und bzw. zur sonstigen chemischen Zusammensetzung. Objektiv ist der Genuss von Angesetztem je nach Art der Herstellung und der verwendeten Zutaten geeignet, die Gesundheit erheblich zu gefährden. Es kann sich ein erheblicher Alkoholgehalt bilden, der geeignet ist, Alkoholvergiftungen auszulösen. Ungeachtet dessen kann sich bei Vergärung ohne Destillation Methanol bilden. Die subjektiven Anforderungen erscheinen bei Kenntnis von der Existenz von „Angesetztem“ im Haftraum insofern erfüllt, als bei verständiger Würdigung in der Laiensphäre, also auch ohne Kenntnis der genauen chemischen Prozesse, erkennbar ist, dass der Genuss von Alkohol, der durch die Ingangsetzung eines Fäulnisprozesses ohne Kühlung und Destillation vergoren wird, zumindest abstrakt geeignet ist, die Gesundheit erheblich zu gefährden.
Zuzugeben ist dem Antragsteller und der Rechtsprechung des OLG München, dass dem Antragsteller eine genaue Kenntnis der Zusammensetzung des Gemischs und dessen Alkoholgehalts nicht möglich war. Gleiches trifft aber auf denjenigen zu, der das Gemisch angesetzt hat und es konsumieren wollte. Er hat die chemischen Prozesse nicht messbar im Griff und setzt sich deshalb auch für einen Laien erkennbar einer besonderen Gefahr aus. Daraus resultiert die Meldepflicht nach Art. 88 Abs. 4 Bayerisches Strafvollzugsgesetz, wonach die Gefangenen die Umstände, die eine Gefahr für das Leben oder eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit einer Person bedeuten, unverzüglich zu melden haben. Dieser Pflicht kam der Antragsteller zumindest fahrlässig nicht nach, was seine Sanktionierung im Disziplinarverfahren rechtfertigt.
Art und Ausmaß des Alkoholgehalts waren allenfalls allein bei der Sanktionszumessung zu berücksichtigen. Insoweit führte die Antragsgegnerin aus: in die Entscheidung wurde unter anderem einbezogen, dass es sich bei dem Antragsteller um das 1. Disziplinarverfahren in der hiesigen Anstalt handelt. Es konnte nicht nachgewiesen werden, wer den Angesetzten hergestellt hat. Dennoch wurde ein Verstoß gegen die Meldepflicht erkannt. Dabei handelt es sich um einen erheblichen Verstoß, da dieser mit schweren Folgen verbunden sein kann. Es wurde eine Disziplinarmaßnahme in Form von Entzug der Verfügung über das Hausgeld und des Einkaufs für einen Monat zur Bewährung nach Art. 110 Abs. 1 Nummer 2 in Verbindung mit Art. 111 Abs. 2 Bayerisches Strafvollzugsgesetz angeordnet. Als Bewährungszeit wurden 3 Monate festgelegt. Die Maßnahme wurde bewusst milde gewählt, da dem Antragsteller nach seiner erst kürzlich erfolgten Verlegung eine Chance gegeben werden soll, sein Wohlverhalten unter Beweis zu stellen und sich in der hiesigen Anstalt einzugliedern.
Dabei brachte die Antragsgegnerin zum Ausdruck, dass sie allenfalls von einem geringen Alkoholgehalt ausgeht. Ein relevanter Alkoholgehalt wurde nicht sanktionsschärfend berücksichtigt.
Die Befürchtung von Repressalien durch Mitgefangene beseitigte den Pflichtenverstoß nicht (vgl. Ullenbruch in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 6. Aufl. 2013, § 82 Verhaltensvorschriften Rn. 7). Dies gilt vorliegend jedenfalls bei einer Abwägung zwischen der Gefahr, die vom „Angesetzten“ ausging, und den nicht näher spezifizierten Befürchtungen des Antragstellers, der mit einer Körpergröße von 1,93 Meter, seiner Eloquenz und seiner den Bediensteten gegenüber mitunter frotzelnden Art (vgl. 2 StVK 490/19) zur Überzeugung der Kammer nicht zur Gruppe tatsächlich gefährdeter Gefangener zählt.
III.
Dem Antragsteller war Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Ausgehend von der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München bot das Begehren des Antragstellers hinreichende Aussicht auf Erfolg und erschien nicht mutwillig, § 114 Abs. 1 ZPO. Dass die Kammer in der Hauptsache von der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts München abweicht, darf dem Antragsteller nicht zum Nachteil gereichen.
Die Beiordnung eines Rechtsanwalts war nicht erforderlich. Da in Strafvollzugssachen kein Anwaltszwang besteht, käme die Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß § 121 Abs. 2 ZPO nur in Betracht, wenn eine derartige Vertretung erforderlich erscheint oder der Gegner anwaltlich vertreten ist. Maßgebliche Kriterien im Hinblick auf die erstgenannte Alternative sind zum einen Schwierigkeit, Umfang und Bedeutung der im konkreten Fall zu bewältigenden Rechtsmaterie sowie andererseits die persönlichen Fähigkeiten und Kenntnisse der bedürftigen Partei (vergleiche LNNV: StVollzG, 12. Aufl., P Rn. 139). Der Antragsteller war fähig und in der Lage, sich gewandt auszudrücken und die einschlägige Rechtsprechung und Kommentarliteratur in seinem Sinne zu zitieren. Er selbst berichtete der Kammer in einem anderen Verfahren, seine Anträge mit einer Erfolgsquote von 55% zu stellen. Demnach bedurfte er keines Rechtsanwalts.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Absatz 1, Absatz 2 Satz 1 StVollzG.
Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf den §§ 60, 52 Absatz 1 bis 3 GKG. Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass sich der Antragsteller haftbedingt in einer ungünstigen finanziellen Situation befindet. Andererseits berücksichtigte die Kammer, dass der Antragsteller besonderen Wert auf eine umfassend korrekte Behandlung legt. Der Antragsteller erklärte der Antragsgegnerin, dass sie sich im „Kriegszustand“ befinden. Er betreibe lückenlose Vergeltungsmaßnahmen gegen die Antragsgegnerin. Es sei bekannt, dass der Antragsteller gegen unberechtigte Disziplinarmaßnahmen erheblich gegensteuere. Er drohe nur ungern. Wie böse er sei, vermöge er gerne zu demonstrieren. Demnach wendet sich der Antragsteller in einer koordinierten Aktion gegen sämtliche Maßnahmen der Antragsgegnerin, die aus seiner Sicht rechtswidrig sind. Dies ist sein gutes Recht; zugleich dokumentiert der Antragsteller so sein gesteigertes Interesse an jeder einzelnen Entscheidung. Deshalb war der Regelstreitwert festzusetzen.


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