Verwaltungsrecht

Coronavirus, SARS-CoV-2, Abschiebung, Asylantrag, Beschwerde, Asylverfahren, Einreise, Bescheid, Afghanistan, Italien, Ausreise, Asylanerkennung, Zulassung, Pass, Verfahrenskostenhilfe, Abschiebungsverbote, Bundesrepublik Deutschland, einstweilige Anordnung, einstweiligen Anordnung

Aktenzeichen  22 T 1834/20

Datum:
4.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 51100
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Ingolstadt
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

1 XIV 192/20 2020-07-13 Bes AGINGOLSTADT AG Ingolstadt

Tenor

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 13.07.2020 (Aktenzeichen 1 XIV 192/20, Bl. 45 der Akten) wird auf die Beschwerde des Betroffenen dahingehend abgeändert, dass der Haftbeschluss außer Vollzug gesetzt wird.
2. Dem Betroffenen wird aufgegeben, sich einmal wöchentlich bei der seinem nächsten Aufenthaltsort zuständigen örtlichen Polizeidienststelle unter Vorlage der vorhandenen Personalpapiere zu melden.
3. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
4. Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Staatskasse 50%, der Betroffene weitere 50%.
5. Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird festgesetzt auf 5000 €.

Gründe

I.
Der Betroffene ist afghanischer Staatsangehöriger.
1. Am 02.07.2020 gegen 22:00 Uhr wurde der Betroffene als Insasse eines Kfz mit italienischer Zulassung bei der Einreise am Grenzübergang Füssen einer Kontrolle zugeführt, eine Einreise ist nicht erfolgt. Der Betroffene konnte sich lediglich mit einem deutschen Führerschein ausweisen, Pass oder Passersatzpapiere liegen nicht vor. Gegenüber den aufnehmenden Polizeibeamten gab der Betroffene an, er besitze einen deutschen Pass, der ihm in Italien entwendet worden sei. Bei Abfrage des Ausländerzentralregisters wurde festgestellt, dass das Asylverfahren des Betroffenen In Deutschland (BAMF Bescheid vom 23.03.2017, Geschäftszeichen 650 955 1-423, Blatt 23 folgende der Akten) rechtskräftig abgeschlossen ist, auch ein Klageverfahren gegen den ablehnenden Bescheid wurde durchgeführt. Am 23.03.2017 wurde die Abschiebung des Betroffenen nach Afghanistan angedroht, konnte wegen fehlender Reisedokumente jedoch nicht vollzogen werden. Der Betroffene erhielt fortlaufend Duldungen, letztmalig ausgestellt durch das Ausländeramt Wuppertal, gültig bis 14.07.2020.
In der Vernehmung räumte der Betroffene ein, gewusst zu haben, dass er unerlaubt nach Deutschland wiedereinreisen wollte. Er meint, sein Asylverfahren in Deutschland laufe noch, in anderen Ländern habe er hingegen keinen Asylantrag gestellt.
Der Abgleich mit der Eurodac-Datenbank ergibt indes, dass Fingerabdrücke am 16.06.2015 in Ungarn abgegeben wurden und dort ein Asylantrag gestellt wurde.
Die beteiligte Behörde betreibt die Zurückweisung des Betroffenen nach Afghanistan. Das dafür erforderliche Konsultationsverfahren mit der afghanischen Behörde wurde unverzüglich eingeleitet. Die Einreiseverweigerung liegt unter Blatt 10 der Akten vor. Der Betroffene wurde von der Bundespolizeiinspektion Kempten am 03.07.2020 angehört, auf die Vernehmung Blatt 12-16 wird verwiesen. Daraus ergibt sich, dass der Betroffene positiv wusste, dass er ohne Aufenthaltstitel nach Deutschland einreist und dies eine Straftat darstellt. Er führt aus, seine Dokumente in Italien vor 2 Tagen verloren zu haben.
2. Auf Antrag der Beteiligten Behörde vom 03.07.2020 erließ das Amtsgericht Kempten (Allgäu) am 03.07.2020 einen Beschluss durch einstweilige Anordnung, wonach den Betroffenen die Freiheit bis 17.07.2020 entzogen wurde (Blatt 42 folgende der Akten, Aktenzeichen 1 XIV 101/20 (B)). Eine Anhörung des Betroffenen fand in diesem Verfahren nicht statt. Der Beschluss ist nicht Gegenstand des hiesigen Beschwerdeverfahrens.
3. Mit Antrag vom 13.07.2020 beantragt die beteiligte Behörde Bundespolizeiinspektion Kempten die Verlängerung der Zurückweisungshaft für längstens 10 Wochen bis zum 18.09.2020.
Am 13.07.2020 wurde der Betroffene vor dem Amtsgericht Ingolstadt ohne Beisein seines Verfahrensbevollmächtigten angehört (unterzeichnetes Protokoll in der Ausländerakte sowie im Original im Verfahren Amtsgericht Ingolstadt 1 XIV 190/20, Landgericht Ingolstadt 22 T 2090/20). Der Haftantrag wurde dem Betroffenen in Kopie übergeben und vom Dolmetscher übersetzt sowie mündlich erläutert. Im Rahmen der Anhörung gibt der Betroffene an, ihm sei bekannt gewesen, dass er Deutschland verlassen müsse.
Am 13.07.2020 erlässt das Amtsgericht Ingolstadt den Beschluss mit Anordnung der Sicherungshaft bis 18.09.2020 (Blatt 45 folgende der Akte, Aktenzeichen 1 XIV 192/20). Auf den Beschluss wird verwiesen. Der Beschluss wird dem Betroffenen ausgehändigt und seinem Verfahrensbevollmächtigten zugestellt.
Am 14.07.2020 geht Beschwerde des Betroffenen über den Verfahrensbevollmächtigten ein (Blatt 49 der Akte) mit dem Antrag festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, sowie Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen. Die Beschwerde rügt Nichtbeachtung einer Schutzschrift vom 09.07.2020, Nichteinhaltung der Ladungsfrist und Nichtbefolgung des gestellten Verlegungsantrages für die Anhörung.
Die Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts Ingolstadt stammt vom 19.07.2020. Darin wird ausgeführt, dass die Vertretungsanzeige dem Richter erst gegen Mittag des 13.07.2020 vorgelegt wurde (bei Anhörung am selben Tage um 14:30 Uhr). Es habe Eilbedürftigkeit vorgelegen, das Gericht habe davon ausgehen dürfen, dass der Verfahrensbevollmächtigte nicht erscheinen werde, zumal dies seine ständige Praxis sei.
4. Die Beschwerdekammer hat die Ausländerakten beigezogen und dem Verfahrensbevollmächtigten Akteneinsicht darin gewährt. Verfahrenskostenhilfe wurde gewährt (Blatt 66/67 der Akten sowie Beiheft) und Frist zur Begründung der Beschwerde des 03.08.2020 gesetzt.
Am 30.07.2020 wurde der Betroffene durch den beauftragten Richter der Beschwerdekammer des Landgerichts Ingolstadt angehört. Auf den Anhörungsvermerk vom Tage wird verwiesen (Blatt 93-96 der Akten).
Die beteiligte Behörde teilt unter dem 27.07.2020 ergänzend mit (Blatt 72 folgende der Akte), dass das Identifizierungsverfahren über die afghanische Botschaft unverzüglich eingeleitet und abgestimmt wurde. Am 09.07.2020 sei der Antrag auf Durchführung einer Anhörung zu Identifizierung und Passbeschaffung gestellt worden, es werden regelmäßig Sachstandsanfragen an die afghanische Botschaft gerichtet, zuletzt am 22.07.2020. Anhörungen zu Identifizierung finden bestätigt statt, wie ein Telefonat des Sachbearbeiters der beteiligten Behörde mit der afghanischen Botschaft ergeben. Die beteiligte Behörde betreibt die Zurückweisung des Betroffenen mit dem nächstmöglichen Charterflug am 15.09.2020.
Für den 12.08.2020 sei bei der afghanischen Botschaft der Termin zu Identifizierung des Betroffenen vereinbart. Der Flug für den 15.09.2020 sei gebucht.
II.
Die zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet. Die Sicherungshaft konnte gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug gesetzt werden.
1. Die beteiligte Behörde Bundespolizeiinspektion Kempten war sachlich und örtlich zur Antragstellung zuständig, § 1 Abs. 2 Bundespolizeigesetz, § 2 Bundespolizei Zuständigkeitsverordnung in Verbindung mit § 71 III 1e Aufenthaltsgesetz.
Der primäre Haftantrag bei versuchter Einreise wurde gegenüber dem Amtsgericht Kempten gestellt, zumal der Aufgriff hier erfolgte (§ 416 Absatz ein Satz 1 FamFG, § 39 Abs. 1 Nummer 3 Bundespolizeigesetz).
Nach Verbringung des Betroffenen in die Abschiebehafteinrichtung JVA Eichstätt ist das Amtsgericht Ingolstadt und nach Beschwerde das Landgericht Ingolstadt zuständig geworden (§ 416 Abs. 1 Satz 2 FamFG).
2. Der Betroffene ist Ausländer im Sinne des Gesetzes und unterliegt der Pass- und Aufenthaltstitelpflicht (§ 2 Abs. 1,3, 4 Aufenthaltsgesetz. Befreiungen hiervon liegen nicht vor. Über entsprechend gültige Papiere verfügt der Betroffene nicht. Eine vollendete Einreise liegt nicht vor, die beteiligte Behörde betreibt die Zurückweisung des Betroffenen nach § 71 Abs. 3 Nummer 1 Aufenthaltsgesetz in Verbindung mit Art. 14 Schengener Grenzkodex. Die Zurückweisung ist dem Betroffenen durch das Standardformular Einreiseverweigerung der EU mitgeteilt und mittels Dolmetscher Urdu übersetzt worden. Der Betroffene spricht zur Überzeugung der Kammer auch recht gut Deutsch.
Mildere Mittel als die Zurückweisung des Betroffenen sind nicht ersichtlich. Auch angesichts des langen -allerdings illegalenAufenthaltes des Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland seit 2015 und behaupteter Berufstätigkeit wird die Zurückweisung des Betroffenen nach wie vor als verhältnismäßig angesehen. Gegenüber den Polizeibehörden gab der Betroffene an, in einem türkischen Lebensmittelladen in Wuppertal zu arbeiten, diese Einlassung wiederholt der Betroffene bei der Anhörung vor der Kammer.
Der Betroffene konnte nicht mehr ausführen, ob sein einstiger Wohnsitz, eine Wohnung in Wuppertal, für ihn noch zugänglich sei. Er muss deshalb als ohne festen Aufenthalt eingestuft werden.
Durchführungshindernisse für die Zurückweisung sind nicht ersichtlich.
Der Haftrichter hat von der Zurückweisungsentscheidung der Behörde als Grundlage für seine Anordnung und damit von einer nicht erfolgten Einreise auszugehen. Über die Rechtmäßigkeit der Zurückweisungsentscheidung hat er nicht zu entscheiden. Rechtsschutz wird insoweit allein durch die Verwaltungsgerichte gewährt (vgl. Senat, Beschluss vom 30. Juni 2011 – V ZB 274/10, FGPrax 2011, 315 Rn. 11, 21 zum Transitaufenthalt; Winkelmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl., § 15 AufenthG Rn. 69; BeckOK AuslR/Dollinger, 14. Edition, § 15 AufenthG Rn. 7). Auf der Grundlage der Feststellungen des angefochtenen Beschlusses und des zugrundeliegenden Sachverhaltes eine unerlaubte vollendete Einreise nicht zu erkennen. Die Einreise im Sinne von § 13 AufenthG ist der tatsächliche Vorgang des Betretens des Hoheitsgebiets der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Vorgang ist zeitlich und räumlich gestreckt. An einer zugelassenen Grenzübergangsstelle ist ein Ausländer nach § 13 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AufenthG nicht schon dann rechtlich eingereist, wenn er die Grenze überschritten hat, sondern erst dann, wenn er die Grenzübergangsstelle endgültig passiert hat (BeckOK AuslR/Dollinger, 14. Edition, § 13 AufenthG Rn. 2) (BeckRS 2017, 119954, beckonline).
Insoweit zeigt sich auch der Hinweis des Verfahrensbevollmächtigten im Rahmen der Beschwerdebegründung vom 03.08.2020 auf BGH, Beschluss vom 12.02.2020, VIII ZB 65/19 als rechtlich verfehlt.
3. Nach Ablehnung seines Asylantrages ist der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig. Die Zuständigkeit Deutschlands ist auch angesichts eines im Jahr 2015 geführten Asylverfahrens in Ungarn nicht erloschen. Ein Dublin Verfahren mit Ungarn wurde nicht eingeleitet.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat am 16.08.2019, rechtskräftig seit 01.10.2019 die Abschiebungsandrohung nach Afghanistan bestätigt. Die Abschiebungsandrohung wurde vollziehbar am 31.10.2019.
Es liegt vor der Bescheid des BAMF vom 23.03.2017 (Blatt 23 folgende der Akten), zugestellt am 30.03.2017, bestandskräftig seit 14.04.2017, wonach die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, Asylanerkennung abgelehnt, subsidiärer Schutzstatus nicht zuerkannt wurden, Abschiebungsverbote liegen nicht vor. Der Betroffene wurde weiter aufgefordert die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Auf den Bescheid wird verwiesen. Die Kammer teilt aufgrund der Einlassungen des Betroffenen sowie seines bisherigen Verhaltens und der Dauer seines Aufenthaltes in Deutschland die Einschätzung der beteiligten Behörde, dass der Betroffene nicht freiwillig ausreisen werde.
4. Gegen die zeitliche Prognose der beantragten Haftdauer bestehen keine Bedenken. Die beteiligte Behörde hat das notwendige Verfahren und die hierfür konkret zu erwartenden Zeiträume schlüssig und nachvollziehbar dargelegt.
Der Betroffene wurde an Afghanistan angeboten, das hierzu erforderliche Konsultationsverfahren wurde unverzüglich eingeleitet, die Prognose der beteiligten Behörde geht dahin, dass das gesamte Verfahren 10 Wochen dauere:
Dieser Zeitansatz setzt sich zusammen zur Terminierung einer Anhörung bei der afghanischen Botschaft, der Antrag hierfür wurde am 09.07.2020 gestellt. Die Anhörung ist zur Identifikation des Betroffenen notwendig. Bei positiver erfolgter Identifizierung ist ein Passersatzpapier auszustellen, wofür nach den Erfahrungswerten des Referates 25 der beteiligten Behörde weitere 3 Wochen Zeit eingeplant werden müssen. Eine Bestätigung für den Anhörungstermin vor der afghanischen Botschaft unter den 12.08.2020 liegt vor.
Es schließen sich 4 Wochen Haftdauer an für die Organisation der begleiteten Rückführung, Flugbuchung und tatsächliche Durchführung der Rückführung.
Charterflüge finden am zunächst 12.08.2020 und weiterhin in monatlichen Abständen statt, der nächste am 15.09.2020. Wenn es auf Blatt 6 des Haftantrages heißt, ein Charterflug sei „aktuell für den 12.08.2020 und weiterhin monatlich geplant“, so ist dies missverständlich durch die beteiligte Behörde formuliert. Denn aufgrund der Darlegung des Verfahrensablaufes musste von Anfang an bei Haftantragstellung 13.07.2020 klar sein, dass das Flugzeug am 12.08.2020 bei durchzuführenden Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Die realistische Erreichbarkeit dieses Flugzeuges hätte auch nicht eine Haftantragstellung bis in den September 2020 gerechtfertigt. Dies nur zur Klarstellung.
Ein Charterflug für den Betroffenen ist für den 15.09.2020 geplant und findet in monatlichen Abständen statt. Ein Flug für den 12.08.2020 wurde indes storniert.
Die Zurückweisung des Betroffenen kann aufgrund fehlender Passdokumente nicht unmittelbar vollzogen werden, § 15 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz.
5. Vor dem Amtsgericht wurde der Betroffene ohne Beisein seines Verfahrensbevollmächtigten angehört.
Wie sich aus dem Parallelverfahren Amtsgericht Ingolstadt 1 XIV 190/20 sowie Landgericht Ingolstadt 22 T 2090/20 ergibt, hat sich der Verfahrensbevollmächtigte für den Betroffenen gegenüber dem Amtsgericht Ingolstadt mit Fax vom 09.07.2020 unter Vollmachtsvorlage angezeigt und mit Fax vom 13.07.2020 Verlegung des Anhörungstermins beantragt (Blatt 30 der dortigen Akten). Dem Verlegungsgesuch wurde nicht entsprochen.
Das Amtsgericht führt hierzu In seinem Nichtabhilfebeschluss hierzu aus (Blatt 55 folgende der Akten), dass ihm das Fax am Mittag des 13.07.2020 vorgelegt worden sei.
Hierzu wird verwiesen auf die Abhilfeentscheidug des Amtsgerichts, in der ausgeführt wird, dass 1 Stunde vor dem Anhörungstermin die Vertretungsanzeige des Rechtsanwaltes eingegangen sei. Dies ist ausweislich der Aktensituation nicht zutreffend, womöglich wurde die Vertretungsanzeige dem Richter indes erst kurz vor dem Termin vorgelegt.
Der Rechtsanwalt sei noch zum Termin geladen worden, dem Verlegungsantrag sei der Amtsrichter nicht nachgekommen, weil er davon ausgegangen seien, dass der Rechtsanwalt ohnehin nicht erscheine, dies entspreche der üblichen Praxis.
Dieses Verfahren zeigt sich fehlerhaft.
Auch in Anbetracht der Tatsache, dass der Betroffene im Verfahren der einstweiligen Anordnung vor dem Amtsgericht Kempten nicht angehört wurde (vergleiche hierzu zitiertes Parallelverfahren vor dem Amtsgericht Ingolstadt und Landgericht Ingolstadt) und in Haftsachen Eilbedürftigkeit besteht, hätte das Amtsgericht im Rahmen einer weiteren einstweiligen Anordnung entscheiden und erneut unter Ladung des Verfahrensbevollmächtigten die Anhörung durchführen müssen.
Der im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnde Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert dem Betroffenen, sich zur Wahrung seiner Rechte in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und billigt ihm das Recht zu, diesen Bevollmächtigten zu der Anhörung hinzuzuziehen; ist der Betroffene anwaltlich vertreten, ist deshalb auch sein Rechtsanwalt zum Anhörungstermin zu laden (MüKoFamFG/Wendtland, 3. Aufl. 2019 Rn. 2, FamFG § 420 Rn. 2, vgl. OLG Frankfurt a. M. InfAuslR 1998, 114 (115).
Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, indem es z. B. dessen Verlegungsantrag nicht berücksichtigt, kann dies zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung führen, BGH NVwZ 2016, 1430 (1432).
Vorliegend sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt.
Wie das Anhörungsprotokoll vor dem Amtsgericht zeigt, konnte der Betroffene -und dies trotz bestellten Dolmetschers in deutscher Sprachesich vor dem Richter vollständig und interessensgerechte selbst vertreten. Die Ausführungen, die er vor dem Amtsgericht tätigte, führen nicht zu der rechtlichen Beurteilung, dass die Anordnung und Aufrechterhaltung von Zurückweisungshaft sich als fehlerhaft zeigte.
Bei der Anhörung vor dem Landgericht Ingolstadt, nunmehr unter Beisein des Verfahrensbevollmächtigten, wurden ebenfalls keine weiteren sachdienlichen Argumente vorgetragen, die eine andere rechtliche Beurteilung durch die Anhörung erzeugen konnten. Ergänzend wurde hier lediglich auf Fragen des Verfahrensbevollmächtigten vorgetragen zur Motivation des Betroffenen, bei bestehendem vorsätzlichem illegalen Aufenthalt Deutschland zu verlassen um mit weiteren Landesangehörigen wieder einzureisen bzw. dies zu versuchen. Dieser Vortrag mag bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Rolle spielen, der Tatbestand der versuchten unerlaubten Einreise war zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens völlig unstreitig.
Diese Tatsache gestattet die Wertung, dass die durchgeführte Anhörung ohne Beisein des Verfahrensbevollmächtigten nicht zur Rechtswidrigkeit der Haftanordnung führte.
Auch lässt sich nicht argumentieren, dass es an der Ordnungsgemäßheit der Durchführung der Anhörung insgesamt fehle, wenn der Verfahrensbevollmächtigte nicht zugegen ist. Die Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung der Sicherungshaft ist in § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG zwingend vorgeschrieben. Ein solcher Verstoß gegen die Pflicht zur vorherigen Anhörung drückt der gleichwohl angeordneten Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (BGH Senat, Beschluss vom 4. März 2010, V ZB 184/09, Rdn. 12, juris; BVerfG InfAuslR 1996, aaO S. 201, BGH Beschluss vom 17.6.2010 – V ZB 127/10, BeckRS 2010, 17283 Rn. 7-9, beckonline).
Anders als in Fällen, in denen eine Anhörung insgesamt unterbleibt, liegt hier kein rechtlich relevanter und kausal gewordener Fehler vor. Der Verfahrensfehler des AG führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Haft, so dass sich die Entscheidung des Amtsgerichts noch als richtig erweist (§ 74 II FamFG). Grundsätzlich kommt die Aufhebung der Haftanordnung oder (nach Erledigung) die Feststellung der Rechtswidrigkeit wegen eines Verfahrensfehlers nur in Betracht, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Grund hierfür ist, dass gem. § 72 I 1 FamFG eine Rechtsbeschwerde nur darauf gestützt werden kann, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Verletzung des Rechts beruht.
Dies erfordert, wenn – wie hier – kein Fall eines absoluten Beschwerdegrundes iSd § 72 III FamFG iVm § 547 ZPO vorliegt, entsprechende Darlegungen in der Beschwerde zur Ursächlichkeit des Verfahrensfehlers für die Entscheidung.
Hieran fehlt es.
Dass der Betroffene bei der von ihm gewünschten anwaltlichen Vertretung während der Anhörung tatsächliche oder rechtliche Umstände mit der Folge vorgebracht hätte, dass die Haftanordnung nicht ergangen wäre, ergibt sich aus der Begründung der Beschwerde nicht.
Die Beschwerde unterlässt es weiter vorzutragen oder im weiteren Verfahren entsprechenden Vortrag nachzubessern, weshalb das Fehlen des Verfahrensbevollmächtigten im Anhörungstermin 13.07.2020 für den Betroffenen in irgendeiner Weise nachteilig gewesen sein solle.
Von einer vorsätzlichen „Vereitelung“ der Ladung des Verfahrensbevollmächtigten kann auch keine Rede sein.
Der Amtsrichter hat im Bestreben um rasche Anhörung des Betroffenen hierzu überzeugend ausgeführt. Auch ist richtig, dass der Verfahrensbevollmächtigte, der in einer Vielzahl von Verfahren in Abschiebehaftsachen beteiligt ist, regelmäßig -wohl aufgrund der großen Entfernung von Hannover nach Ingolstadtjedoch nicht auftritt. Dies gestattet freilich nicht den Schluss darauf, auf seine Anwesenheit werde generell verzichtet. Lediglich eine vorsätzliche Vereitelung des Amtsgerichts liegt nicht vor.
Die Anhörung ohne den Verfahrensbevollmächtigten gibt der durchgeführten Anhörung vom 13.07.2020 nicht den Charakter einer tatsächlich erfolgten „Nichtanhörung“. Dies kann vorliegen, wenn eine Anhörung zwar stattgefunden hat, hierbei dem Gericht jedoch ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, der die Grundlagen der Anhörung betrifft und ihr den Charakter einer „Nichtanhörung“ verleiht (vgl. näher BGH [Senat], Beschluss vom 18.2.2016 – V ZB 23/15, BeckRS 2016, 06043 Rn. 26). Der Verfahrensfehler des AG hat aber nicht ein solches Gewicht, dass die Anhörung als „Nichtanhörung“ zu qualifizieren wäre (vgl. NVwZ 2016, 1430 Rn. 8-11, beckonline).
Zuletzt zitiert der Verfahrensbevollmächtigte eine von ihm eingereichte Schutzschrift unter dem Hinweis, es habe sich in bayerischen Haftverfahren eingebürgert, nicht darauf hinzuweisen, dass Betroffene anwaltlich vertreten werden (sein Schreiben vom 09.07.2020). Ohne dies kommentieren zu müssen, fehlt es am Eingang einer solchen Schutzschrift, die das Amtsgericht oder Beschwerdegericht hätten berücksichtigen können oder müssen.
6. Erforderlich sind bei der Zurückweisungshaft Darlegungen dazu, dass dem Betroffenen die Einreise verweigert worden ist und dass und aus welchen Gründen er nicht unmittelbar an der Grenze zurückgewiesen werden kann, sowie Darlegungen zur Durchführbarkeit der Zurückweisung in den beabsichtigten Zielstaat und zur notwendigen Haftdauer. Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein. Sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falles wesentlichen Gesichtspunkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Zurückweisungshaft nicht angeordnet werden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 10. Mai 2012 – V ZB 246/11, InfAuslR 2012, 328 Rn. 9 für Abschiebungshaft, vom 6. Dezember 2012 – V ZB 118/12, juris Rn. 4 und vom 31. Januar 2013 – V ZB 20/12, FGPrax 2013, 130 Rn. 15 beide für Zurückschiebungshaft) (BGH, Beschluss vom 20. September 2017 – V ZB 118/17 -, Rn. 6, juris).
Die Zurückweisungshaft setzt ebenso wie die Verlängerung des Transitaufenthalts nach Ablauf von 30 Tagen (dazu Senat, Beschluss vom 10. März 2016 – V ZB 188/14, InfAuslR 2016, 295 Rn. 5) einen Haftgrund nicht voraus (Senat, Beschluss vom 22. Juni 2017 – V ZB 127/16, InfAuslR 2017, 345 Rn. 10).
Art. 15 der Rückführungsrichtlinie ist auf die Zurückweisungshaft nicht anwendbar. Deutschland hat mit der Einführung und Beibehaltung der Zurückweisungshaft nach § 15 Abs. 5 AufenthG und des Transitaufenthalts gemäß § 15 Abs. 6 AufenthG für die Fälle der unerlaubten Einreise auf dem Luft-, See- oder Landweg ein Sonderregime eingeführt, das die Haftanordnung nicht von dem Vorliegen von Haftgründen abhängig macht; das ist nach Art. 2 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie zulässig (dazu: Senat, Beschluss vom 10. März 2016 – V ZB 188/14, InfAuslR 2016, 295 Rn. 5, 9 f. für Transitaufenthalt).
Im Übrigen muss festgestellt werden, dass der Betroffene seine zeitlich befristete deutsche Duldung bei der Grenzkontrolle bewusst nicht vorgezeigt hat, um über seinen aufenthaltsrechtlichen Status zu täuschen. Insoweit zeigte er lediglich einen deutschen Führerschein vor. Der Betroffene gab an, in Italien seinen deutschen Pass verloren zu haben. Ein solcher wurde ihm aber gar nicht erst ausgestellt. Die Fluchtgefahr lässt sich damit durch Unterdrückung von fehlenden aufenthaltslegitimierende Dokumente nach § 62 Absatz III a Nummer 1 Aufenthaltsgesetz bestätigen.
Die durch das Ausländeramt Wuppertal erteilte Duldung erlischt mit der Ausreise aus der Bundesrepublik.
Auch liegt der Fluchtgrund der Entziehung der Aufenthaltsbeendigung vor, die Abschiebung nach Afghanistan wurde bereits am 23.03.2017 angeordnet. Der Betroffene weiß auch, dass er zur Ausreise verpflichtet ist, hat sich dieser jedoch entzogen. Aktenkundig ist der Betroffene mehrfach im Rahmen des Asylverfahrens in seiner Heimatsprache darüber belehrt worden, dass er Identifikationspapiere beschaffen und vorlegen muss. Ebenso ist unrichtig, dass das Asylverfahren des Betroffenen in Deutschland noch laufe. Auch hiermit möchte der Betroffene über seinen aufenthaltsrechtlichen Status in Deutschland täuschen. Zu erwähnen ist ferner die wahrheitswidrige Behauptung des Betroffenen, dass er erstmals in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat. Zu verweisen ist hierzu auf das von ihm betriebene Verfahren in Ungarn aus 2015.
Der Betroffene unterlässt es auch pflichtwidrig seit Jahren, bei einer Passbeschaffung mitzuwirken, § 62 Absatz 3 b Nummer 5 Aufenthaltsgesetz.
Gegenüber dem beauftragten Richter bei der Anhörung gab der Betroffene an, nicht nach Afghanistan zurückkehren zu wollen. Seine anfängliche Einlassung gegenüber den Polizeibehörden, er werde freiwillig in sein Heimatland einreisen, ist deshalb bestätigt als Schutzbehauptung einzustufen (vergleiche Blatt 4 der Akte).
Die Abschiebung ist auch tatsächlich durchführbar. Auch angesichts der bestehenden und gerade in Ländern mit unterentwickelter Infrastruktur besonders empfindlich zutagetretenden Corona-Pandemie ist festzustellen, dass Flüge nach Afghanistan derzeit durchgeführt werden. Die Kammer hat kursorisch die tatsächliche Durchführung und Buchbarkeit von Flügen überprüft (Flug.Check 24.de) und zahlreiche Flüge in beliebigen Zeitfenstern ermitteln können. Dies bedeutet nun nicht zwangsläufig, dass eine zügigere Zurückweisung des Betroffenen möglich sei, zumal die sicherheitsrelevanten Umstände hierfür erfüllt sein müssen; es zeigt aber immerhin, dass solche Flüge tatsächlich stattfinden, die Beschwerde behauptet Gegenteiliges auch nicht. Auch teilt die beteiligte Behörde unter dem 05.08.2020 ergänzend mit, dass Afghanistan keinem Rückführungsstopp unterliege.
7. Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ist bei der Zurückweisung (§ 15 Abs. 1 AufenthG) – anders als bei der Abschiebung und der Zurückschiebung – nicht erforderlich (Abgrenzung zu Senat, Beschluss vom 24. Februar 2011, V ZB 202/10, FGPrax 2011, 146) (BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2017 – V ZB 41/17 -, juris).
Rechtsanwalt G. C. aus K. beantragt für den Betroffenen unter dem 29.07.2020 vor dem BAMF Aufnahme des Verfahrens hinsichtlich des Abschiebeschutzes nach § 60 Abs. 5 oder 7 Aufenthaltsgesetz (Blatt 76-91 der Akte). Hierauf wird verwiesen. Für das Verfahren relevante Argumente trägt wieder die Beschwerde vor noch sind sie aus dieser Schrift ersichtlich.
8. Bei zusammenfassender Abwägung und Berücksichtigung der verfahrensbezogenen Umstände gelangt die Kammer zum Ergebnis, dass die Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Anordnung von Meldeauflagen geeignet ist, der Besonderheit des Falles Rechnung zu tragen, § 426 FamFG. Wie der Betroffene im Rahmen seiner Anhörung vor dem Landgericht glaubwürdig darstellt, ist seine Ausreise und versuchte Wiedereinreise erfolgt, um von tragischem Schicksal getroffener Verwandtschaft Unterstützung zu leisten, was für sich genommen sicherlich kein schädliches Motiv darstellt. Auch die Tatsache, dass der Betroffene sich bei seinem insgesamt 5-jährigen illegalen Aufenthalt in der Bundespolitik Deutschland zumindest nicht nachweislich keines weiteren strafbaren Vergehens schuldig gemacht hat, mag für ihn sprechen.
Die Frage des „Ob“ einer Zurückweisungsmaßnahme steht wie bekannt nicht zur Disposition der Haftgerichte.
Zuletzt verbleiben bei der tatsächlichen Durchführbarkeit der Abschiebung, was die Beschwerde ebenfalls gar nicht erst vorträgt, aber dennoch gerichtsbekannt ist, verbleibende Zweifel, die nicht zulasten der antragstellenden Behörde gehen, aber sich auch nicht zulasten des Betroffenen auswirken dürfen. Auch bei zugesagtem und gebuchten Charterflug für die Rückführung des Betroffenen nach Afghanistan wie hier kann eine kurzfristige Absage der Abschiebemaßnahmen durch die afghanischen Behörden, sei es durch die Corona-Pandemie bedingt, sei es aufgrund nicht näher nachvollziehbarer Umstände der afghanischen Behörden, nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden. Die verbleibenden Restzweifel gebieten deshalb die vom Verfahrensbevollmächtigten zumindest im Hilfsantrag auch beantragte Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Meldeauflagen.
Die Beschwerde war insoweit erfolglos, als sie die Feststellung der Rechtswidrigkeit bisher erlittener Haft begehrte. Hierauf bezieht sich die teilweise Zurückweisung des Rechtsbehelfes.
Der Erfolg der Beschwerde ist etwa hälftig gegeben. Dies gestattet die paritätische Kostenverteilung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens, Verfahrenskostenhilfe wurde gewährt.
9. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf §§ 61 Abs. 1 Satz 1, 36 Abs. 3 GNotKG.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben