Baurecht

Baugenehmigung, Schadensersatzanspruch, Berufung, Beschwerde, Wohnhaus, Nachbarschutz, Nutzungsausfall, Genehmigung, Grenzabstand, Gemarkung, Zahlung, Bauvorhaben, Bauantrag, Unterlassung, Kosten des Verfahrens, eigene Kosten, kein Anspruch

Aktenzeichen  24 U 4497/19

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 52796
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Verfahrensgang

32 O 443/19 2019-07-29 Urt LGMEMMINGEN LG Memmingen

Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 29.07.2019, Az. 32 O 443/19, wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Memmingen ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des aufgrund der Urteile vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Parteien streiten über Unterlassungsansprüche der Klägerin aufgrund eines Bauvorhabens der Beklagten auf deren Grundstück.
Die Klägerin ist Erbbauberechtigte des mit Wohnhaus und Garage bebauten Grundstücks … in … (Flurnummer … der Gemarkung …). Die Beklagte ist seit 2018 Eigentümerin des Grundstücks … (Flurnummer …, vgl. Auszug aus dem Liegenschaftskataster, Anlage K01), das mit seiner westlichen unbebauten Hälfte nördlich an das Grundstück der Klägerin angrenzt.
Auf Antrag der Beklagten vom 13.01.2018 erteilte die Stadt … mit Bescheid vom 06.03.2018 eine Baugenehmigung für den Anbau von zwei Balkonen und Errichtung einer Dachgaube an dem im östlichen Grundstücksteil gelegenen Wohnhaus; die Balkone sollten in südlicher Richtung angebaut werden. Das Verwaltungsgericht Augsburg hat mit Urteil vom 11.07.2018 (Az. Au K 18.512; Anlage B02) eine Klage der Klägerin gegen die Stadt … auf Aufhebung des Bescheids vom 06.03.2018 abgewiesen. Eine weitere Klage mit dem Ziel, die Stadt … zu verpflichten, der Bauantragstellerin den Rückbau der Dachgaube aufzuerlegen sowie „den Bau hinsichtlich des Anbaus von balkonartigen Altanen an der südlichen Gebäudeaußenwand zu untersagen und einzustellen“, hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 05.12.2018 (Az. Au 4 K 18.1503; Anlage B01) abgewiesen. Mit Beschlüssen vom 11.06.2019 (Az. 2 ZB 18.1560, Anlage B03) und 04.07.2019 (Az. 2 ZB 19.25, Anlage B04) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof Anträge der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen diese Urteile abgelehnt, weil das genehmigte Bauvorhaben nicht gegen das Rücksichtnahmegebot verstoße.
Mit Schriftsatz vom 27.03.2019 hat die Klägerin beim Landgericht Memmingen Klage gegen die Beklagte erhoben mit dem Antrag, diese zu verurteilen, es zu unterlassen, mit der baulichen Ausführung und Errichtung des mit Baugenehmigungsbescheid vom 06.03.2018 genehmigten Anbaus von 2 „Balkonen“ zu beginnen. Da das Bauvorhaben bereits vorher abgeschlossen war, hat die Klägerin ihre Klage in der mündlichen Verhandlung vom 24.06.2019 umgestellt und beantragt,
Die Beklagte wird verurteilt, die ohne Genehmigung errichtete Stahlbaukonstruktion mit zwei Terrassenflächen auf der Südseite des Wohnhauses der Beklagten zu beseitigen.
Hilfsweise:
Die Beklagte wird verurteilt,
an die Klägerin eine Zahlung in Höhe von 44.000,00 € zu leisten sowie einen Nutzungsausfall in Höhe von jährlich 70,00 € aus anteiligem Erbbauzins zu leisten.
Die Beklagte hat die Abweisung der Klage beantragt.
Das Landgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen. Zwar sei die Klageänderung sachdienlich, die Klage sei aber unbegründet. Das Grundstück der Klägerin sei zu weit vom Grundstück der Beklagten entfernt, um wesentlich beeinträchtigt zu sein. Ein Anspruch folge nicht aus §§ 1004, 823 BGB. Die Uneinsehbarkeit eines Grundstücks sei kein geschütztes Rechtsgut. Selbst wenn sie unter § 906 BGB fiele, wäre eine geringfügige Beeinträchtigung – wie sie allenfalls vorliege – zu dulden. Die Grenzabstände zum Grundstück der Klägerin seien nicht verletzt. Es bestehe kein Anspruch, dass das klägerische Grundstück auf alle Zeiten uneinsehbar bleibe. Eine Lärmbelästigung, die von der Klägerin befürchtet werde, sei erst dann zu prüfen, wenn sie vorliege, und mache das Bauvorhaben nicht unzulässig.
Gegen dieses ihr am 07.08.2019 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung vom 13.08.2019, die sie mit Schriftsatz vom 07.10.2019 begründet hat.
Sie stellt folgende Anträge:
1. Die Beklagte wird unter Abänderung des durch das LG Memmingen vom 29.07.2019, 32 O 443/19 verkündeten Urteils verurteilt, auf eigene Kosten die ohne Genehmigung errichtete Stahlkonstruktion mit zwei Terrassenflächen auf der Südseite des Wohnhauses der Beklagten zu beseitigen.
hilfsweise:
Die Beklagte wird verurteilt, die ohne Genehmigung errichtete Stahlkonstruktion mit zwei Terrassenflächen auf der Südseite des Wohnhauses der Beklagten durch sich oder dritte Personen nicht zu nutzen bzw. nicht nutzen zu lassen.
weiter hilfsweise:
Die Beklagte wird verurteilt, die ohne Genehmigung errichtete Stahlkonstruktion mit zwei Terrassenflächen auf der Südseite des Wohnhauses der Beklagten durch sich oder dritte Personen nicht zu nutzen bzw. nicht nutzen zu lassen, solange nicht sowohl auf der Südseite als auch Westseite jeweils eine wenigstens 2 m hohe blickdichte Sichtschutzwand installiert ist.
äußerst hilfsweise:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Zahlung von 44.000 € als Ausgleichsanspruch gem. § 906 Abs. 2 BGB zu leisten.
Hilfsweise für den Fall, dass das Gericht die Darlegungen der Klägerin zur Ausgleichshöhe für unzureichend halten sollte:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin eine Zahlung von 44.000 € als Ersatz für den finanziellen Aufwand einer Sichtschutzwand sowie einen Nutzungsausfall für den Grundstücksstreifen für die Sichtschutzwand bzw. den Grenzabstand in Höhe von jährlich 70,00 € aus anteiligem Erbbauzins zu leisten.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ihr in den Verfügungsverfahren 32 W 760/19 und 32 O 721/19 (2) entstandenen Verfahrenskosten als Schadensersatz zu erstatten.
3. Die Beklagte wird verurteilt, es zu unterlassen, vor der südlichen Giebelseite des Wohnhauses der Beklagten die gesetzlich vorgeschriebene Abstandsfläche i. S. d. BayBO durch die Errichtung etwaiger Gebäudeteile, insbesondere einer Terrasse o. ä. zu überbauen.
Darüber hinaus beantragt die Klägerin die Zurückverweisung sowie im Fall einer Zurückweisung der Berufung die Zulassung der Revision.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Ergänzend wird auf das angefochtene Urteil, die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen in beiden Instanzen Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Klägerin ist nur zum Teil zulässig. Soweit sie zulässig ist, ist sie nicht begründet.
1. Die in der Berufungsbegründung gestellten Anträge 2 und 3 sind gemäß § 533 ZPO unzulässig.
1.1. Mit Berufungsantrag 2 macht die Klägerin erstmals einen Schadensersatzanspruch bezüglich der Kosten des vorangegangenen Verfahrens über den Erlass einer einstweiligen Verfügung geltend. Den Antrag der Klägerin hatte das Landgericht Memmingen mit Beschluss vom 07.06.2019 – Az. 32 O 721/19 (2) – zurückgewiesen, die dagegen gerichtete Beschwerde der Klägerin wurde vom Einzelrichter des 24. Zivilsenats mit Beschluss vom 01.08.2019 – Az. 24 W 760/19 – zurückgewiesen. Der Klägerin wurden jeweils die Kosten des Verfahrens auferlegt.
Bei der Geltendmachung dieser Kosten als Schadensersatz handelt es sich um einen neuen Streitgegenstand gegenüber dem Haupt- und Hilfsantrag aus 1. Instanz. Der Klageantrag stellt ein Aliud dar; auch der zugrunde liegende Lebenssachverhalt bedürfte einer Ergänzung. Damit kann über Antrag 2 nicht auf der Grundlage der in 1. Instanz vorgetragenen und im Berufungsverfahren entscheidungsrelevanten Tatsachen entschieden werden.
Im Übrigen ist Berufungsantrag 2 auch wegen eines Verstoßes gegen § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO unzulässig, da er eine unbestimmte Leistungsklage enthält. Die Höhe der geltend gemachten Verfahrenskosten lässt sich weder dem Antrag noch der Begründung entnehmen.
1.2. Mit Berufungsantrag 3 macht die Klägerin erstmals einen Unterlassungsanspruch gegen die Beklagte geltend, vor der südlichen Giebelseite des Wohnhauses die Abstandsfläche zu überbauen. Auch dabei handelt es sich um einen neuen Streitgegenstand. Eine Entscheidung darüber kann nicht auf Tatsachen gestützt werden, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat.
2. Berufungsantrag 1 mit seinen zahlreichen Hilfs- und Hilfshilfsanträgen ist dagegen zulässig. Der Hauptantrag entspricht dem in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht gestellten Hauptantrag. Der „äußerst hilfsweise“ gestellte Antrag auf Verurteilung der Beklagten zu einer Zahlung von 44.000,00 € entspricht dem in 1. Instanz gestellten Hilfsantrag, ohne den Antrag auf Verurteilung zur Zahlung eines Nutzungsersatzes von 70,00 € jährlich, der jedoch in einem wiederum hilfsweise gestellten Antrag wiederkehrt. Die zum Hauptantrag gestellten ersten zwei Hilfsanträge sind zwar neu, aber jedenfalls aufgrund des Sachvortrags zu entscheiden, den das Berufungsgericht seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat. Die Beklagte hat sich auch rügelos auf sie eingelassen.
3. Die Berufung ist in Berufungsantrag 1 nicht begründet.
3.1. Ein Anspruch der Klägerin auf Beseitigung oder Unterlassung der Nutzung der beiden Balkone am Wohnhaus der Beklagten ergibt sich nicht aus dem Zivilrecht.
Nach § 903 S. 1 BGB kann der Eigentümer mit der Sache nach Belieben verfahren und andere ausschließen, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen. Hieraus ergibt sich zunächst das Recht der Beklagten, auf ihrem Grundstück an ihr Haus zwei Balkone anzubauen; Einschränkungen dieses Rechts können sich insbesondere aus dem öffentlichen Baurecht ergeben, liegen aber hier nicht vor.
Entgegen der in der Berufungsverhandlung von der Klägerin vertretenen Meinung handelt es sich bei den streitgegenständlichen Bauteilen um Balkone. Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 BayBO definiert den Begriff „Balkone“ nicht, sondern ordnet an, dass kleinere, dort hinsichtlich ihrer Maße beschriebene Balkone bei der Bemessung der Abstandsflächen außer Betracht bleiben.
Inwieweit die Klägerin, deren Rechtsstellung als Erbbauberechtigte insoweit der einer Eigentümerin entspricht (vgl. J. Lange in: Herberger/ Martinek/ Rüßmann/Weth/ Würdinger, jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 823 Abs. 1 BGB, Rn. 19) andere Personen, wie etwa die Beklagte, von der Nutzung ihres Grundstücks ausschließen kann, ergibt sich aus § 906 Abs. 1 BGB. Danach muss der Eigentümer bestimmte von einem Grundstück ausgehende Einwirkungen hinnehmen, wenn die Einwirkung die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Unter § 906 BGB fallen grenzüberschreitende Einwirkungen, die in ihrer Ausbreitung weitgehend unkontrollierbar und unbeherrschbar sind; auch bei den ähnlichen Einwirkungen muss es sich um Grenzüberschreitungen mit gesundheits- oder sachschädigender Wirkung handeln (Palandt/Herrler, 78. Aufl. 2019, § 906 Rn. 6). Ein das ästhetische Empfinden des Nachbarn verletzenden Anblick ist nicht als „ähnliche von einem andern Grundstück ausgehende Einwirkung“ im Sinne des BGB § 906 anzusehen (BGH, Urteil vom 07. 03. 1969 – V ZR 169/65 -, BGHZ 51, 396-400). Umgekehrt stellt die Einsehbarkeit eines Grundstücks von einem Nachbargrundstück aus keine Einwirkung auf das Grundstück dar, so dass auch die Beeinträchtigung der Uneinsehbarkeit keine Einwirkung darstellt (OLG Köln Urteil vom 23. 01. 1992 – 7 U 169/91NJW-RR 1992, 526 [527]; BeckOK BGB/Fritzsche, 52. Ed. 1.8.2019, BGB § 903 Rn. 25; Wilhelmi in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 903 BGB, Rn. 1).
3.2. Ein solcher Anspruch folgt auch nicht aus den Bestimmungen der BayBO über die Abstandsflächen.
a) Grundsätzlich kann die Verletzung nachbarschützender Regelungen des Abstandsflächenrechts sowohl einen verschuldensunabhängigen Beseitigungsanspruch des Nachbarn nach § 1004 BGB analog, als auch einen Schadensersatzanspruch auf Naturalrestitution nach § 823 Abs. 2 BGB begründen. Allerdings setzt der Beseitigungsanspruch voraus, dass das unter Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht errichtete Gebäude den Nachbarn nicht nur unerheblich beeinträchtigt (Hahn/Kraus in: Simon/Busse, 134. EL Januar 2020, BayBO Art. 6 Rn. 627).
b) Das Abstandsflächenrecht gewährt Nachbarschutz grundsätzlich nur denjenigen Eigentümern oder dinglich Berechtigten, deren Grundstücke unmittelbar an das Baugrundstück angrenzen. Die nachbarschützende Wirkung der Abstandsflächenvorschriften kann über die unmittelbar angrenzenden Grundstücke hinaus auch noch weitere Grundstücke erfassen, z. B. Grundstücke, die durch ein anderes schmales Grundstück, durch einen Weg oder Bachlauf oder eine Straße vom Baugrundstück getrennt sind (Simon/ Busse, BayBO Art. 6 Rn. 606).
c) Obwohl das Grundstück der Klägerin direkt an das Baugrundstück angrenzt, kommt eine Verletzung von Abstandsflächenvorschriften durch den Bau der beiden Balkone nicht in Betracht. Denn das Haus der Beklagten, an das die beiden Balkone angebaut wurden, liegt im östlichen Teil des Grundstücks, der nach Süden an das Grundstück FlNr. 905/4 grenzt. Die Grundstücksgrenze mit dem klägerischen Grundstück FlNr. 905/7 befindet sich dagegen im westlichen, dem hinteren Teil des Grundstücks, der nach wie vor unbebaut ist. Das Verwaltungsgericht Augsburg (Urteil vom 05.12.2018, Az. Au 4 K 18.1503) hat zu diesem Fall unter Bezug auf Simon/Busse, BayBO Art. 66 Rn. 65, ausgeführt: „Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots („Einfügen“ gemäß § 34 Abs. 1 Bau GB) kommt hier daher unter keinem denkbaren Gesichtspunkt in Betracht. Das umzubauende Gebäude befindet sich nicht in der Flucht des klägerischen Grundstücks, sondern deutlich nach Osten abgesetzt. Diese Absetzung gilt umso mehr für das Wohngebäude der Klägerin. […] Die an der Südwand anzubringenden Balkone bzw. Anbauten sind von den Einfügungskriterien nach § 34 Abs. 1 Bau GB nicht angesprochen, ein besonderer Ausnahmefall ist hier aus Sicht der Kammer insbesondere angesichts der Entfernung der Balkon-Anbauten selbst zur nordöstlichsten Ecke des klägerischen Grundstücks (ca. 9 m), ihrer gegenüber dem Grundstück der Klägerin versetzten Lage sowie ihrer Ausrichtung nach Süden (also nicht hin zum klägerischen Grundstück) eindeutig nicht gegeben.“ Dem schließt sich der Senat an.
d) Zur Berufungsrüge unter Randnummer 8 der Berufungsbegründung vom 07.10.2019:
Ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 9 BayBO liegt nicht vor. Nach dieser Sonderregelung dürfen Garagen einschließlich deren Nebenräume, überdachte Tiefgaragenzufahrten, Aufzüge zu Tiefgaragen und Gebäude ohne Aufenthaltsräume und Feuerstätten, gebäudeunabhängige Solaranlagen, Stützmauern und geschlossene Einfriedungen unter dort näher bezeichneten Umständen in die Abstandsflächen eines Gebäudes oder ohne eigene Abstandsflächen gebaut werden. Aus dem Vortrag der Klägerin ergibt sich das Vorliegen dieser Voraussetzungen nicht. Zudem kommt immer nur eine Berührung der Grenze zum Grundstück FlNr. 905/4, nicht aber zum klägerischen Grundstück in Betracht.
e) Zur Berufungsrüge unter Randnummer 11:
Auf die Frage, ob sich im Wohnhaus der Beklagten an der Stelle der Balkontüren zu den beiden Balkonen früher Fenster befunden haben, kommt es nicht an. Wie das Landgericht zutreffend ausführt, besteht kein Anspruch darauf, dass ein Grundstück auf alle Zeiten hinaus uneinsehbar bleibt (vgl. oben 3.1).
f) Zur Berufungsrüge unter Randnummern 16/25:
Dem Urteil des Landgerichts ist nicht zu entnehmen, dass die Baugenehmigung Ansprüche nach §§ 1004, 906 Abs. 2 BGB präkludiert. In Abschnitt I. 2. c) der Entscheidungsgründe heißt es vielmehr, dass eine Baugenehmigung nicht zwingend zivilrechtliche Ansprüche ausschließt. Ihr Vorhandensein wird lediglich als Indiz für eine Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften gewertet. Dies ist zutreffend, zumal die Klage gegen die Baugenehmigung in zwei Instanzen ohne Erfolg geblieben ist. Die Privilegierungsvorschriften des Art. 6 Abs. 9 S. 1 BayBO spielen keine Rolle, da die Balkone nicht in eine das klägerische Grundstück schützende Abstandsfläche gebaut worden sind (vgl. oben d). Auf den Beweisantrag betreffend der Länge der Grenzbebauung kommt es daher nicht an.
g) Zur Berufungsrüge unter Randnummern 26/30:
Der Berufungsbegründung ist nicht zu entnehmen, inwieweit „im Hinblick auf den geänderten Hauptantrag sowie den beiden Hilfsanträgen ein Verstoß gegen § 139 ZPO“ vorliegen soll. Damit das Rechtsmittelgericht die Kausalität einer Verletzung der Prozessleitungspflicht prüfen kann, muss in der Rechtsmittelbegründung (§ 520 III 2 Nr. 2 ZPO) angegeben werden, was auf entsprechenden Hinweis hin vorgetragen worden wäre (Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 139 ZPO, Rn. 20). Dies ist nicht geschehen.
h) Zur Berufungsrüge unter Randnummern 31/33:
Entgegen der Berufungsrüge sind die Tatsachenfeststellungen weder unrichtig noch unvollständig. Die Annahme des Landgerichts, dass das Grundstück der Klägerin vom Bauvorhaben der Beklagten zu weit entfernt ist, um überhaupt wesentlich beeinträchtigt zu sein, trifft zu.
i) Zur Berufungsrüge unter Randnummern 34/37:
Die Beweisangebote der Klägerin zur Existenz eines zweiten Gebäudes (Holzhütte) sowie eines Holzunterstandes an der seitlichen Grundstücksgrenze sind für die Entscheidung ohne Bedeutung. Sie spielen nämlich nur im Rahmen der Regelung des Art. 6 Abs. 9 BayBO eine Rolle, die jedoch nicht anwendbar ist.
j) Zur Berufungsrüge unter Randnummern 38/51:
Es spielt für die Entscheidung keine Rolle, ob die Ausführung des Baus von der Baugenehmigung abweicht. Daraus würde sich keine Verletzung nachbarschützender Normen der Bayerischen Bauordnung oder des BGB ergeben. Damit kommt es auch nicht darauf an, wann der Klägervertreter eine Abweichung der Ausführung von der Baugenehmigung behauptet hat.
3.3. Zu den „weitere[n] Ausführungen zum Fehlverständnis des LG Memmingen“ (Randnummern 58/66):
Da weder ein Recht auf „Uneinsehbarkeit des Grundstücks“ noch ein zivilrechtlicher Abwehranspruch gegen die verunstaltende Wirkung von Bauwerken in der Nachbarschaft besteht, entsprechen die Ausführungen des Landgerichts Memmingen der Sach- und Rechtslage. Auf die Einhaltung der Baugenehmigung kommt es hierfür ebenso wenig an, wie auf die behauptete Verletzung der gesetzlichen Abstandsflächen im Verhältnis zum Grundstück FlNr. 905/4.
3.4. Auf die unter Randnummern 67/74 erneut behauptete Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung wegen Verstoßes gegen Nachbarrecht ist zu wiederholen, dass allenfalls ein Verstoß gegen das Nachbarrecht des Eigentümers des Grundstücks FlNr. 905/4 in Betracht kommt. Die Klägerin als Erbbauberechtigte des Grundstücks FlNr. 905/7 kann sich darauf nicht berufen. Der Eigentümer des Grundstücks FlNr. 905/4, der dem Bauantrag durch die Nachbarunterschrift zugestimmt hat, ist keine Partei dieses Rechtsstreits. Im Übrigen ist erneut darauf hinzuweisen, dass die Klage der Klägerin gegen die Baugenehmigung in zwei Instanzen ohne Erfolg geblieben ist.
3.5. Eine zivilrechtliche Relevanz der nach Ansicht der Klägerin unvollständigen Bauvorlagen ist den Ausführungen unter Randnummern 75/101 und den dort umfangreich zitierten Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes und von Verwaltungsgerichten nicht zu entnehmen.
3.6. Da es auf die Rechtmäßigkeit der von zwei Instanzen überprüften Baugenehmigung nicht ankommt, ist es für die Entscheidung ohne Bedeutung, ob die beiden Balkone im baurechtlichen Sinn als Balkone nach Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 BayBO oder als Gebäudeerweiterungen zu werten sind (zu Randnummern 49/64, ab S. 23 der Berufungsbegründung). Der Senat geht davon aus, dass es sich um Balkone handelt (vgl. oben unter 3.1., S. 6).
3.7. Da die Beklagte im Verhältnis zur Klägerin nicht das 16 m-Privileg nach Art. 6 Abs. 6 BayBO in Anspruch nimmt, gehen die Ausführungen unter Randnummern 65/83 (ab S. 27) an der Sache vorbei. Einen Art. 6 Abs. 6 S. 4 BayBO gibt es nicht. Die von der Beklagten errichtete Dachgaube ist nicht streitgegenständlich.
3.8. Die an der Grenze des Grundstücks der Beklagten zum Grundstück FlNr. 905/4 bestehende Garage der Beklagten und eine daran angebaute Holzhütte sind nicht streitgegenständlich (zu Randnummern 84/93).
3.9. Unter Randnummer 96 (auf S. 31) räumt die Klägerin ein, dass die anfallende Abstandsfläche betreffend das Terrassen-Bauwerk nicht auf das Grundstück der Klägerin fällt. Auf die Ausnahmeregelung des 16-m-Privilegs kommt es daher vorliegend nicht an.
Dem Urteil des VG München vom 29.02.2016 – M 8 K 15.2295 ist zu entnehmen, dass auch ein nicht direkt angrenzender Nachbar unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebots geltend machen kann, dass sich das Vorhaben nicht in die Reihenhauszeile einfügt (a.a.O., Rn. 42, juris). Die Frage, ob das Bauvorhaben auch gegen Abstandsflächenvorschriften verstößt, hat das VG München dagegen offen gelassen (a.a.O. Rn. 46) und sich damit auch nicht zu der Frage geäußert, ob ein nicht direkt angrenzender Nachbar sich auf die Verletzung von Abstandsflächenvorschriften, die andere Nachbarn schützen, berufen kann.
3.10. Der Hinweis auf die 15-m-Grenze nach Art. 6 Abs. 9 S. 2 BayBO spielt nur dann eine Rolle, wenn der Nachbar ein Bauwerk unter Inanspruchnahme des Privilegs nach Art. 6 Abs. 9 S. 1 BayBO errichtet, dessen Abstandsflächen auf das Grundstück der Klägerin fallen würden. Dies ist aber nicht der Fall.
3.11. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme, das aus § 34 BauGB und § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO abgeleitet wird, liegt weder nach den Feststellungen des Landgerichts noch denen des Verwaltungsgerichts vor. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 11.06.2019 – 2 ZK 18.1560 – einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme mit ausführlicher Begründung (Rn. 5/9), auf die Bezug genommen wird, verneint.
3.12. Der Gebietserhaltungsanspruch wird als eine der schärfsten Waffen des öffentlich-rechtlichen Nachbarrechts angesehen (Schröer, Öffentliches Baurecht – Grenzen des Gebietserhaltungsanspruchs, NJW 2009, 484). Der Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 23. 01. 2018 – 15 CS 17.2575 -, Rn. 18, juris), kommt aber auch im unbeplanten Innenbereich zur Anwendung, wenn die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung entspricht und somit die Voraussetzungen des § 34 Abs. 2 BauGB vorliegen (Schröer, a.a.O.).
Beim Gebietserhaltungsanspruch handelt es sich um ein Institut des öffentlichen, namentlich des Bauplanungsrechts, aus dem zivilrechtliche Ansprüche nicht erwachsen. Zudem liegt es fern, in dem Anbau von zwei Balkonen an ein Wohnhaus eine Abweichung vom Charakter des faktischen Baugebiets zu sehen, das nach dem klägerischen Vortrag als Wohngebiet anzusehen sei. Die Beklagte hat in der Berufungsverhandlung dazu vorgetragen, dass in dem Gebiet eher geschlossene Wohnbebauung vorhanden sei, mit freistehenden Häusern, Doppelhäusern und – auf der anderen Seite des …wegs – mit Reihenhäusern. Es ist nicht ersichtlich, dass sich das Haus der Beklagten aufgrund des Anbaus der beiden der Wohnnutzung dienenden Balkone nicht mehr in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen sollte.
3.13. Die Klägerin stützt den behaupteten Beseitigungsanspruch auch in Randnummern 167/230 auf eine Verletzung der Abstandsflächen. Eine solche Verletzung zum Nachteil der Klägerin liegt nicht vor. Eine analoge Anwendung von § 1004 BGB kommt damit nicht in Betracht, schon gar nicht zugunsten der Klägerin, die von einer etwaigen Überschreitung der Abstandsflächen nicht betroffen wäre. Es kommt auch nicht darauf an, ob das errichtete Bauwerk der Baugenehmigung entspricht, so dass der beantragte Sachverständigenbeweis nicht zu erheben ist. Ebenso wenig ist von Belang, ob es sich bei den Wohnräumen im EG, OG und DG des Wohnhauses der Beklagten um jeweils baulich getrennte, in sich abgeschlossene Wohneinheiten handelt. Bereits eingangs wurde ausgeführt, dass in der Bebauung eines Nachbargrundstücks keine Einwirkung auf das klägerische Grundstück liegt (vgl. oben 3.1). Ein Verstoß gegen Abstandsvorschriften liegt ebenso wenig vor wie eine Zuführung unwägbarer Stoffe nach § 906 BGB; aus letzterer würde auch kein Beseitigungsanspruch folgen.
4. Da die Klägerin durch die Errichtung der beiden Balkone am Wohnhaus der Beklagten nicht in ihren Rechten verletzt wird, kann sie auch eine Untersagung der Nutzung nicht verlangen, auch nicht in der eingeschränkten Form mit Installierung einer Sichtschutzwand. Daher besteht auch kein Anspruch auf Ersatz des finanziellen Aufwands für die Errichtung einer Sichtschutzwand und kein Anspruch auf Ersatz für den Nutzungsausfall für einen Grenzstreifen, den die Klägerin zur Errichtung einer Sichtschutzwand nutzen will.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.


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