Verwaltungsrecht

Verwaltungsgerichte, SGB VIII, Hilfe zur Erziehung, Bevollmächtigter, Aufgaben des Jugendamts, Beweisantrag, Eingliederungshilfe, Selbstbeschaffung, Geeignetheit, Altverfahren, Systemversagen, Schriftsätze, Verwaltungsgerichtsentscheidungen, Selbstbeschaffte Maßnahme, mündlich Verhandlung, Einschätzungsspielraum, Träger der öffentlichen Jugendhilfe, Ablehnungsbescheid, Selbstbeschaffte Hilfe, Leistungsberechtigter

Aktenzeichen  M 18 K 19.4963

Datum:
14.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 43893
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 27
SGB VIII § 31
SGB VIII § 36a Abs. 3
SGB VIII § 35a
VwGO § 86

 

Leitsatz

Tenor

I.    Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde. 
II.    Der Bescheid des Beklagten vom … wird aufgehoben.     
Der Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Kosten für die traumapädagogische Begleitung ihres Sohnes … durch Frau … für den Zeitraum vom … bis einschließlich … 2020 zu erstatten.     
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.    Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Kläger 4/5 und der Beklagte 1/5.
IV.     Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.     
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Soweit die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen wurde (zeitlich unbestimmter Antrag auf Hilfegewährung auch über Zeitpunkt der Volljährigkeit des A. hinaus), war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber nur teilweise begründet. Die Kläger haben lediglich einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die traumapädagogische Begleitung ihres Sohnes A. durch Frau Dr. B. als selbstbeschaffte Hilfe zur Erziehung nach § 36a SGB VIII i.V.m. §§ 27, 31 SGB VIII für den Zeitraum 2… … bis einschließlich 15. Dezember 2020. Der Bescheid vom 2… … ist rechtswidrig und aufzuheben (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO). Ein weitergehender Anspruch der Kläger besteht nicht; die Klage war daher im Übrigen abzuweisen.
Der Entscheidung ist der durch den Bevollmächtigten der Kläger zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 14. Oktober 2020 gestellte Klageantrag zu Grunde zu legen, welcher den Zeitraum von 1. Mai 2019 (Einstellung der Kostenübernahme durch den Beklagten mit Abrechnung Stand 25. April 2019) bis 1. April 2022 (Eintritt der Volljährigkeit des A.) umfasst.
Er war insoweit sachdienlich durch das Gericht nach § 88 VwGO auszulegen als Antrag auf Erstattung der Kosten für die in der Vergangenheit liegende selbstbeschaffte Maßnahme seit 1. Mai 2019 (§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII i.V.m. §§ 27, 31 SGB VIII) und auf Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung der Jugendhilfemaßnahme für die Zukunft bis zum 1. April 2022 (§§ 27, 31 SGB VIII). Der so ausgelegte Antrag geht auch nicht über das das mit der Klageschrift vom 1. Oktober 2019 formulierte Klagebegehren hinaus.
Mit der so verstandenen Klage wird – auch soweit es sich um die Erstattung der Kosten für die in der Vergangenheit liegende selbstbeschaffte Maßnahme handelt (st. Rspr.; vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 15/11 – juris Rn. 12) – die Durchsetzung eines Anspruchs auf Erlass eines Verwaltungsaktes bezweckt, folglich liegt eine Verpflichtungsklage i.S.v. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO vor. Die hierzu ergangenen Versagungsbescheide des Beklagten vom 27. August 2019 und 2… … sind insoweit als „Anfechtungsannex“ vom Streitgegenstand umfasst (Eyermann/Schübel-Pfister, 15. Aufl. 2019, VwGO § 113 Rn. 40). Die ablehnende Entscheidung des Beklagten ist im engeren Sinne überhaupt nicht Gegenstand des Verfahrens; ihre Aufhebung braucht weder beantragt noch vom Gericht ausgesprochen zu werden (Wysk/Bamberger, 3. Aufl. 2020, VwGO § 113 Rn. 98); die gerichtliche (Aufhebungs-)Entscheidung ist insoweit rein deklaratorisch.
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei Leistungen der Jugendhilfe ist regelmäßig der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich (OVG Lüneburg, B.v. 31.3.2020 – 10 PA 68/20 – juris Rn. 6). Ob vorliegend von dem Grundsatz des maßgeblichen Zeitpunkts abzuweichen ist, da eine Ablehnung der Bewilligung über einen längeren Zeitraum als den dem Bescheid nächstliegenden Zeitraum erfolgt ist (vgl. OVG Lüneburg a.a.O. Rn. 7), kann vorliegend im Ergebnis offenbleiben, da sich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht unterschiedlich darstellt.
Den von dem Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung am 14. Oktober 2020 bedingt für den Fall der Klageabweisung gestellten Beweisanträgen war nicht nachzukommen. Bedingt gestellte Beweisanträge sind solche, die nur für den Fall gestellt werden, dass das Gericht die unter Beweis gestellte Tatsache als entscheidungserheblich ansieht. Für diese Hilfsbeweisanträge gilt § 86 Abs. 2 VwGO nicht; ihnen kann vielmehr materiell eine Anregung zur weiteren Erforschung des Sachverhalts im Sinne des § 86 Abs. 1 VwGO entnommen werden. Über sie ist nicht durch vorab zu fassenden Beschluss zu entscheiden, sondern erst in den Gründen der die Instanz abschließenden Entscheidung, es sei denn, das Gericht kommt ihnen nach (Eyermann/Schübel-Pfister, 15. Aufl. 2019, VwGO § 86 Rn. 53). Das Gericht erachtet die bedingt gestellten Beweisanträge überwiegend für nicht entscheidungserheblich, im Übrigen als ungeeignet und verweist im Einzelnen insoweit auf die nachfolgenden Ausführungen.
I.
Die Kläger haben für die Vergangenheit einen Anspruch auf Ersatz der Kosten für die selbstbeschaffte Maßnahme ausschließlich für den Zeitraum vom 2… … bis einschließlich 15. Dezember 2020 gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII i.V.m. §§ 27, 31 SGB VIII.
Für in der Vergangenheit liegende Maßnahmen scheidet eine rückwirkende Bewilligung der Jugendhilfemaßnahme aus, da Maßnahmen der Jugendhilfe der Deckung eines aktuellen Bedarfs des Hilfeempfängers dienen. Dementsprechend kann sich ein Anspruch für die Vergangenheit ausschließlich auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Maßnahme gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII richten (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12).
Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe nach den §§ 27 ff. SGB VIII grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird.
Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn (1.) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, (2.) die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und (3.) die Deckung des Bedarfs (a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder (b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 – 12 ZB 16.1920 – juris Rn. 35). Liegt hingegen ein Systemversagen in dem Sinne vor, dass das Jugendamt gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über eine begehrte Hilfeleistung entschieden hat, darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. In dieser Situation ist er – obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamts fehlt – dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet oder notwendig gehalten (BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21/11 – NJW 2013, 1111; U.v. 9.12.2014 – 5 C 32/13 – NJW 2015, 2278, m.w.N.).
Entgegen der offenbar vertretenen Ansicht des Bevollmächtigten der Kläger kann dem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom … … 2017 – M 18 K 16.3069 – für den Zeitraum ab April 2018 keinerlei Aussagekraft oder Bindungswirkung beigemessen werden. Vielmehr hat das Gericht im damaligen Verfahren ausschließlich über den Zeitraum bis einschließlich März 2018 geurteilt und insoweit ein Systemversagen des Beklagten sowie das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII festgestellt (vgl. auch BayVGH im „Altverfahren“ zur Gegenstandwertbeschwerde, B.v. 21.2.2020 – 12 C 19.1981 – n.v. Rn. 3). Soweit das Verwaltungsgericht im dortigen Verfahren über den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hinausgegangen ist, war dies erkennbar allein dem Umstand geschuldet, dass das Gericht annahm, dass der Beklagte bis März 2018 ein sachgerechtes Hilfeplanverfahren nicht würde durchführen können, sodass das Gericht davon ausging, dass sich die rechtmäßige Selbstbeschaffung bis zum März 2018 fortsetzte.
Auch aus der Erstattung der Kosten durch den Beklagten bis einschließlich April 2019 – und damit über den damaligen Urteilsspruch hinausgehend – kann kein Anspruch für den weiteren Zeitraum abgeleitet werden. Weder kann darin die Bewilligung der Maßnahme noch das Einräumen eines Ersatzanspruches aufgrund eines weiteren Systemversagens gesehen werden. Vielmehr hatte der Beklagte spätestens in seinem Schreiben vom 11. Juni 2019 darauf hingewiesen, dass für die Zukunft eine Klärung des Hilfebedarfs auch für A. zwingend erforderlich sei.
Darüber hinaus erfolgt die Gewährung von Jugendhilfeleistungen regelmäßig zeitabschnittsweise und damit befristet (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2016 – 12 C 16.1571 – juris). Denn die Frage, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung von Jugendhilfe erfüllt sind, ist nach dem jeweils aktuellen Hilfebedarf zu beurteilen, der für folgende Zeitabschnitte jeweils gesondert festzustellen ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 – 12 ZB 13.2025 – juris Rn. 12; VG Magdeburg, B.v. 26.11.2012 – 4 b 235712 – juris Rn. 5 f.). Selbst aus einer früheren Gewährung von Jugendhilfeleistungen – was vorliegend nicht gegeben ist – kann folglich nicht der Anspruch auf Fortführung der Maßnahme abgeleitet werden.
Nach diesen Maßgaben lagen hier die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII lediglich für den Zeitraum vom 2… … bis einschließlich 15. Dezember 2020, nicht jedoch für den vorangegangenen Zeitraum ab Mai 2019 vor.
1. Ein Anspruch auf Kostenerstattung für den Zeitraum Mai 2019 bis zu dem (ersten) ablehnenden Bescheid vom 27. August 2019 scheitert bereits daran, dass in diesem Zeitraum gemäß der Aussagen der Kläger in der mündlichen Verhandlung und in Übereinstimmung mit den von den Klägern vorgelegten Rechnungen keine kostenverursachende Beratung und Begleitung der Familie durch Fr. Dr. B. stattfand.
Zudem scheitert ein Anspruch jedenfalls ab dem 11. Juni 2019 an der fehlenden Mitwirkungsbereitschaft der Kläger, so dass der eine Hilfe ablehnende Bescheid vom 27. August 2019 rechtmäßig erlassen wurde.
Nach § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII ist Grundlage einer zeit- und zielgerichteten Intervention ein Hilfeplan, der im Zusammenwirken von Personensorgeberechtigten, Kind oder Jugendlichem und den Fachkräften des Jugendamts erstellt werden soll. In diesem Plan sind – als Mindestanforderungen – individuell der Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe und die notwendigen Leistungen festzulegen. Die Bereitschaft zur Mitwirkung der Leistungsberechtigten ist eine generelle Voraussetzung bei der Gewährung persönlicher Hilfen. Bei fehlender Mitwirkungsbereitschaft des Leistungsberechtigten – bei der Hilfe zur Erziehung also der Personensorgeberechtigten – ist die Hilfe nicht zu gewähren, da eine Tatbestandsvoraussetzung fehlt (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 40).
Der Beklagte hatte mit Schreiben vom 11. Juni 2019 an den Bevollmächtigten der Kläger (auch) in Bezug auf A. auf die Notwendigkeit nach § 36 SGB VIII hingewiesen, die Ausgestaltung der Hilfe zusammen mit den Klägern, dem Jugendlichen selbst und dem Maßnahmenträger zu besprechen und einen Hilfeplan aufzustellen. Dieser Obliegenheit waren die Kläger jedenfalls bis zum 27. August 2019 nicht nachgekommen. Hierzu machten sie primär terminliche Gründe geltend. Letztlich ließen sie aber erkennen, dass sie eine persönliche Besprechung nicht für erforderlich hielten, weil sie die Frage des Bedarfs bereits für geklärt hielten; so teilte ihr Bevollmächtigter dem Beklagten mit Schriftsatz vom 26. März 2019 mit, dass zu einer Kontaktaufnahme mit den Klägern keine Veranlassung bestehe. Nachdem die Kläger dergestalt eine zeitnahe Besprechung aus den verschiedensten Gründen abgelehnt hatten, war eine eindeutige Positionierung des Beklagten durch Erlass eines klärenden Bescheides sachgerecht und erforderlich. Daher geht auch der Vorwurf des Bevollmächtigten der Kläger fehl, der Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 27. August 2019 sei rechtsmissbräuchlich gewesen.
2. Auch für den Zeitraum vom 29. August 2019 bis zum Erlass des (weiteren) Bescheids vom 2… … besteht mangels Systemversagens kein Anspruch der Kläger auf Erstattung der in dieser Zeit angefallenen Kosten.
Der Beklagte hat das Schreiben des Bevollmächtigten der Kläger vom 29. August 2019 – wie mit Schreiben der Bevollmächtigten des Beklagten vom 5. September 2019 und E-Mail vom 9. September 2019 dargelegt – sachgerecht als erneuten Antrag interpretiert und umgehend ein neues Hilfeplanverfahren eingeleitet. Mit Schreiben vom 5. September hat der Bevollmächtigte der Kläger nochmals explizit einen erneuten Antrag auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 31 SGB VIII für A. in Form der pädagogischen Unterstützung durch Frau Dr. B. gestellt. Einer erneuten Antragstellung stand auch nicht der ablehnende Bescheid vom 27. August 2019 entgegen, da dieser die Hilfeleistung ausschließlich aus formalen Gründen ablehnte.
Das Hilfeplanverfahren ist ein Verwaltungsverfahren, das im Rahmen verschiedener Abschnitte teilweise informell und teilweise als formelles Verfahren ausgestaltet ist. Dokumentation und zugleich Ergebnis des Hilfeplanverfahrens ist nach § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII der Hilfeplan, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthalten soll (BeckOGK/Bohnert, Stand: 1.10.2020, SGB VIII § 36 Rn. 45; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn.1). Die (gemeinsame) Feststellung des Sachverhalts und die Entscheidung über die geeigneten, den Bedarf im Einzelfall deckenden Leistungen sind ein einheitlicher Prozess (Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 64). Dabei verlangt die Feststellung des erzieherischen Bedarfs sowohl die tatsächlichen Feststellungen unter Mitwirkung der Leistungsberechtigten und des Leistungsadressaten als auch deren Bewertung im Rahmen einer (darauf basierenden) psychosozialen Diagnostik (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 40).
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass über einen Antrag auf Gewährung von Jugendhilfemaßnahmen möglichst zeitnah zu entscheiden und das Hilfeplanverfahren mit der Bedarfsprüfung daher in angemessenem zeitlichen Rahmen durchzuführen ist.
Vorliegend hat das Verfahren zwar mehrere Monate gedauert. Dies ist jedoch insbesondere auch auf das zögerliche Verhalten der Kläger zurückzuführen. Daher kann nicht bereits aufgrund der zeitlichen Verzögerung von einem Systemversagen ausgegangen werden, das eine Selbstschaffung rechtfertigen könnte.
Das Gespräch im Haus der Kläger zur Bedarfsprüfung fand – auf Grund der bis dahin angeführten Terminverhinderung durch die Kläger – erst am … … 2019 statt, bei dem die Fachkräfte des Beklagten auch mit A. persönlich sprachen. Die von dem Beklagten hierbei erbetene Schweigepflichtentbindung für die Kontaktaufnahme mit Lehrern des A. wurde unter dem 10. Oktober 2019 vorgelegt. Unter dem 14. Oktober 2019 bat der Beklagte Frau Dr. B. um Qualifikationsnachweise sowie eine Konzeptbeschreibung zu ihrer Hilfeform, welche ihm mit E-Mail vom 30. Oktober 2019 zugeleitet wurden. Die Mitarbeiterinnen des Jugendamtes führten im Zeitraum 17. Oktober 2020 bis 23. Oktober 2020 Telefonate mit vier Lehrkräften an der Schule des A., darunter der Rektor und die Klassenleitung. Nachdem der Beklagte mit Schreiben vom 14. November 2019 an die Übersendung eines aktuellen Kinderund Jugendpsychiatrischen Gutachtens für A. erinnert hatte, wurde am … … … die jugendpsychiatrische Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. med. J. vom … … … übermittelt. Aufgrund dieser Erhebungen erstellten die zuständigen Sozialpädagoginnen des Beklagten am … … 2019 die soziale Diagnose zu A.; die dort ausgesprochene Empfehlung (Heimerziehung) war am 18. Dezember 2019 Gegenstand einer Fallkonferenz. Über deren Ergebnis wurde der Bevollmächtigte der Kläger unter dem 7. Januar 2020 in Kenntnis gesetzt und um Erörterung und Rückmeldung gebeten. Auf dessen Erwiderung vom 13. Februar 2020 wurde der streitgegenständliche Bescheid vom 2… … erlassen. Ungeachtet der Fehlerhaftigkeit dieses Bescheids (dazu nachfolgend) kann daher bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht von einem Systemversagen des Beklagten ausgegangen werden. Dem Jugendamt muss ein angemessener Prüf- und Entscheidungszeitraum nach dem Vorliegen der erforderlichen Informationen eingeräumt werden (vgl. VG München, B.v. 9.6.2020 – M 18 E 20.1392 – juris Rn. 47; BeckOK SozR/Winkler, 58. Ed. 1.9.2020, SGB VIII § 36a Rn. 18 m.w.N.).
3. Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII besteht jedoch für die Zeit ab Erlass des ablehnenden Bescheids vom 2… … bis zur mündlichen Verhandlung bzw. darüber hinaus bis zum 15. Dezember 2020.
Der Beklagte hat nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise nach dem Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit über die begehrte Hilfeleistung entschieden. Aufgrund dieses Systemversagens durften die Kläger im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII anstelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen und es stand ihnen im Folgenden ein Anspruch auf Erstattung der Kosten zu.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte bereits im Altverfahren unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung ausgeführt, dass es sich bei der Entscheidung des Jugendamtes über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung der betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte handelt, das nicht den Anspruch objektive Richtigkeit erhebt, sondern „lediglich“ eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar ist. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich daher regelmäßig darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt wurden (BayVGH, B.v. 5.4.2019 – 12 ZB 18.534 – n.v., Rn. 37 m.w.N.).
Dementsprechend ist bei der Selbstbeschaffung einer vom Jugendamt abgelehnten Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu prüfen, ob der von der Behörde erstellte Hilfeplan bzw. das von ihr verfolgte „Hilfekonzept“ verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. Die insoweit vorzunehmende Prüfung erstreckt sich nicht nur auf eine reine Ergebniskontrolle, sondern erfasst auch die vom Jugendamt gegebene Begründung. Denn diese muss für den Betroffenen nachvollziehbar sein, um ihn in die Lage zu versetzen, mittels einer Prognose selbst darüber zu entscheiden, ob eine Selbstbeschaffung gerechtfertigt ist. Hat das Jugendamt die begehrte Hilfe aus vertretbaren Erwägungen abgelehnt („sog. sozialpädagogische Fachlichkeit“), besteht weder ein Anspruch des Betroffenen auf die begehrte Hilfeleistung noch auf den Ersatz von Aufwendungen für eine selbstbeschaffte Hilfe (BayVGH im „Altverfahren“ – a.a.O. Rn. 38; B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11; BeckOGK/Bohnert, 1.10.2020, SGB VIII § 36a Rn. 18).
a) Der Beklagte hat nicht im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit über die von den Klägern beantragte Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 SGB VIII entschieden.
Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.
Eine dem Kinderwohl entsprechende Erziehung ist nicht gewährleistet, wenn im Einzelfall ein erzieherischer Bedarf vorliegt und diese Mangellage durch die Erziehungsleistung der Eltern nicht behoben wird, also ein „Erziehungsdefizit“ besteht. Es kommt also auf einen (objektiven) Mangel an, nicht auf einen (subjektiven) Makel in der Person des Erzogenen oder des Erziehers; vielmehr genügt ein objektiver Ausfall von Erziehungsleistung, ohne dass dieser Ausfall vorwerfbar sein müsste (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 27 Rn. 2). Das Vorliegen einer Mangellage ist zu messen am Ziel der Erziehung, also der Gewährleistung des Kindeswohls. Dieses besteht in der Entwicklung der leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit (so noch § 1 JWG) bzw. der eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (vgl. § 1 SGB VIII). Es ist dann erreicht, wenn die Grundbedürfnisse des Kindes befriedigt sind. Maßstab für die Gewährleistung des Kindeswohls sind weder Qualitätsstandards einer (abstrakten) Idealfamilie noch solche einer (durchschnittlichen) Normalfamilie, sondern die in der konkreten Familie erreichbaren. Die Standards sind also abhängig von Alter und Entwicklung des Kindes ebenso wie von dem Milieu, in dem es aufwächst. Werden die in der konkreten Familiensituation erreichbaren Standards für eine gelungene geistige, körperliche oder seelische Entwicklung des Kindes nicht erreicht und ist dadurch das Kindeswohl gefährdet, liegt ein Erziehungsdefizit vor. Das Defizit ist also nicht am Maßstab eines erzieherischen Optimums (bestmögliche Erfüllung des Kindeswohls), sondern an dem des „erzieherischen Minimums“ (keine Gefährdung des Kindeswohls) zu messen (Kunkel/Kepert a.a.O. SGB VIII § 27 Rn. 5).
Vorliegend gehen sowohl die Kläger als auch der Beklagte – sachgerecht – davon aus, dass bei A. erzieherischer Bedarf i.S.v. § 27 Abs. 1 SGB VIII besteht. Die Entwicklung von A. stellt sich als nicht altersentsprechend dar, so dass eine Mangellage vorliegt.
Die Kläger sowie Frau Dr. B. berichten nach wie vor von einer großen Rivalität zwischen den beiden Adoptivbrüdern, man könne die beiden keine Sekunde alleine lassen. A. manipuliere seinen Bruder und ziehe die Fäden. Er versuche zu jeder Zeit, die Kläger, Lehrer oder andere Erwachsene auf die Probe zu stellen; A. verstehe mittlerweile alle Regeln und beobachte jeden genau, um zu sehen, wo er manipulieren könne und die Kontrolle habe. Wenn etwas nicht nach Plan laufe, werde er aus Angst ausfallend und beleidigend; er ertrage die Ungewissheit nicht. Dadurch lebten die Kläger bisher in einem ständigen inneren Stress; ständig würden sie ausspioniert, müssten die Brüder auseinanderhalten und auch einzeln seien beide immer noch sehr schwierig, auch wenn es kein Vergleich mehr sei mit Anfang 2015. Dies zeige, wie tief die Überlebensstrategie bei A. und C. immer noch sitze, obwohl schon so viel erreicht worden sei.
Auch Frau Dr. J. führt in ihrer aktuellen jugendpsychiatrischen Stellungnahme vom … … … aus, dass sich das Verhalten von A. zwar zum Positiven verändert habe. So habe er es geschafft, sich sozial adäquat zu verhalten, mit Lehrern und Mitschülern auszukommen und passable Noten zu erreichen. Auch habe sich seine Anstrengungsbereitschaft so stabilisiert, dass er auch in der Freizeit kontinuierlichen Beschäftigungen nachgehen könne. All dies könne er aber noch nicht altersgemäß allein bewerkstelligen, sondern brauche kontinuierlich die Betreuung und Kontrolle durch die Klägerin zu 1) als seiner Hauptbezugsperson. A. und sein Umfeld, also die Kläger, bedürften deshalb weiter intensiver Beratung, die sie bisher in sehr hilfreicher Weise bei Frau Dr. B. erhalten hätten. Diagnostisch stellte Frau Dr. J. bei A. auf Achse 1 eine Anpassungsstörung vor dem Hintergrund einer Bindungsstörung und Frühtraumatisierung sowie mehrere psychosoziale Belastungsfaktoren und eine deutliche Einschränkung des psychosozialen Funktionsniveaus fest.
Ebenso bestätigen die Fachkräfte des Beklagten in ihrer sozialen Diagnose vom … … 2019 in Bezug auf A., dass aufgrund der diagnostizierten Anpassungsstörung sowie der Bindungsstörung und Frühtraumatisierung ein deutlicher Bedarf hervorgehe, auf den einzugehen sei; als Zielsetzungen im Hilfeprozess wurden neben einer therapeutischen Anbindung die Erhöhung des Selbstbewusstseins, die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, der Aufbau und Erhalt von Freundschaften, die Erarbeitung eigener Werte und Normen, die Erweiterung der Selbstständigkeit, die Ermöglichung einer altersangemessenen Freizeitbeschäftigung sowie die Erarbeitung einer Zukunftsperspektive formuliert.
Da somit sowohl das Gericht als auch die Beteiligten davon ausgehen, dass bei A. erzieherischer Bedarf i.S.v. § 27 Abs. 1 SGB VIII vorliegt, war den vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisanträgen auf Einvernahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Frau Dr. J., soweit sie sich auf die Feststellung des Hilfebedarfs und seiner Ursachen richten (Antrag Nr. 1 Spiegelstrich 1, 2 und 4) mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachzukommen.
Inwieweit im Übrigen für A. (auch) ein Hilfebedarf nach § 35a SGB VIII besteht, kann im vorliegenden Verfahren offenbleiben. Denn der Anspruch nach § 35a SGB VIII auf Eingliederungshilfe steht dem Kind oder Jugendlichen selbst und nicht den Eltern zu. Im vorliegenden Verfahren wird jedoch der Anspruch der Eltern auf Hilfe zur Erziehung geltend gemacht. Dies zeigt sich zum einen darin, dass durchgängig die Kläger als Anspruchsberechtigte benannt werden; zum anderen kommt es auch darin zum Ausdruck, dass die begehrte „sozialpädagogische Begleitung“ durch Frau Dr. B. – sofern man sie unter eine jugendhilferechtliche Maßnahme subsumieren mag – eine Form der Familienhilfe darstellt, die sich primär als Hilfeleistung an die Eltern minderjähriger Kinder richtet (vgl. VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4953 – Rn. 106 ff., n.v.).
Allerdings scheinen die Unterschiede der beiden Anspruchsgrundlagen dem Beklagten (ebenso wie dem Bevollmächtigten der Kläger) weiterhin – wie bereits im „Altverfahren“ – nicht hinreichend verständlich zu sein (vgl. VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4953 – Rn. 102 ff., n.v.). Dementsprechend forderte der Beklagte im vorliegenden Verfahren auch ein jugendpsychiatrisches Facharztgutachten, welches jedoch nur im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs nach § 35a SGB VIII zwingend erforderlich ist, andererseits beruft sich auch der Bevollmächtigte der Kläger mehrfach auf § 35a SGB VIII und stellt auch dementsprechend den Beweisantrag auf Feststellung der Abweichung der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII (Antrag Nr. 1 Spiegelstrich 5). Nachdem der Beklagte jedoch – auch wenn er das Facharztgutachten im Übrigen zum Teil in Zweifel zieht – zumindest die Wertung der Fachärztin, nach der beim Kläger eine seelische Behinderung im Sinne des § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII vorliegt, seiner Bedarfsermittlung zu Grunde gelegt hat (wie bereits in der Vergangenheit – siehe hierzu bereits im „Altverfahren“ BayVGH a.a.O. Rn. 47), war auch diesem Beweisantrag – unabhängig von seiner Relevanz für das vorliegende Verfahren – nicht nachzukommen.
Gemäß § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII wird die Hilfe zur Erziehung insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt; Art und Umfang richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall, wobei das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden soll (§ 27 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB VIII). Aus der Gesetzesformulierung ergibt sich, dass der Verweis auf die in den §§ 28 ff. SGB VIII genannten Hilfearten nicht abschließend ist, sondern dass es sich um einen offenen Katalog von Hilfen handelt, also auch spezielle, auf den Einzelfall entwickelte Hilfen anwendbar sind (vgl. Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 27 SGB VIII Rn. 72). Nach § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII umfasst die Hilfe zur Erziehung insbesondere die Gewährung pädagogischer, aber auch damit verbundener therapeutischer Leistungen (vgl. dazu z. B. NdsOVG, B.v. 25.3.2020 – 10 LA 292/18 – juris). Liegt neben dem erzieherischen auch ein behinderungsspezifischer Bedarf vor, kommt in Kombination bzw. neben der Hilfe zur Erziehung ggf. auch Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Betracht (zum Verhältnis vgl. z. B. Nellissen a.a.O. § 27 SGB VIII Rn. 116 ff.; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 27 Rn. 9; DIJuF-Rechtsgutachten v. 23.04.2018 – JAmt 2018, 204).
Nach herrschender Meinung stellen die Geeignetheit und insbesondere auch die Notwendigkeit der Hilfe neben dem Vorliegen eines Erziehungsdefizits tatbestandliche Voraussetzungen des § 27 SGB VIII dar (vgl. BayVGH, B.v. 9.4.2003 – 12 ZB 02.2728 – BeckRS 2003, 31044; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 27 Rn. 1 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, U.v. 9.12. 2014 – 5 C 32/13 – BVerwGE 151, 44 Rn. 14; a.A. z.B. Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 27 Rn. 25a: die geeignete und notwendige Hilfe sei die diesem Bedarf entsprechende Rechtsfolge).
Geeignet ist die Hilfe zur Erziehung, wenn sie – bezogen auf die konkrete Form – in ihrer Art grundsätzlich tauglich ist, den bestehenden erzieherischen Bedarf im Hinblick auf die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen zu decken; notwendig ist sie, wenn andere Leistungen oder Maßnahmen des SGB VIII, die Hilfe Dritter oder Eigenhilfe der Eltern nicht ausreichen, um den festgestellten erzieherischen Bedarf zu decken (vgl. z. B. Nellissen a.a.O. § 27 SGB VIII Rn. 54 und 57 m.w.N.).
Bei der Auswahl der konkreten Hilfeleistung ist dem Träger der Jugendhilfe im Rahmen seiner Steuerungsverantwortung ein gerichtlich nur begrenzt überprüfbarer Einschätzungsspielraum zuzuerkennen (vgl. BVerwG, U.v. 9.12.2014 – 5 C 32/13 – juris Rn. 29).
Auch unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsspielraums kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung des Beklagten auf sozialpädagogischer Fachlichkeit beruht. Zudem wurde das Hilfeplanverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt.
Vorab ist festzuhalten, dass der Beklagte hier – anders als im „Altverfahren“ (vgl. insoweit VG München, U.v. 6.12.2017 – M 18 K 16.3069 – unter 3.2.1) – zunächst umfassende tatsächliche Erhebungen zur Feststellung des erzieherischen Bedarfs bei A. durchgeführt hat. Er führte ein intensives Gespräch mit den Klägern, um sich deren Ansichten und Bewertungen aufzeigen lassen. Auch A. persönlich wurde einbezogen und zu seinen Wünschen befragt. Ferner hat der Beklagte Informationen zur Qualifikation und zum Konzept von Frau Dr. B. eingeholt und sich ihren Entwicklungsbericht zu A. vorlegen lassen, um beurteilen zu können, welche Maßnahmen bisher ergriffen wurden und welchen Erfolg sie erzielten. Außerdem hat er insbesondere zu den Fragen des Verhaltens des A. im Unterricht, seiner Integration in der Klasse und seiner persönlichen und leistungsmäßigen Entwicklung Kontakt zu diversen Lehrern und Lehrerinnen aufgenommen. Zudem wurde – obgleich nur im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII erforderlich – ein aktuelles jugendpsychiatrisches Gutachten angefordert sowie schließlich auch Erkenntnisse aus früheren Jahren über das Wesen und Verhalten von A. herangezogen.
In der aufgrund dieser tatsächlichen Feststellungen erstellten sozialen Diagnose vom … … 2019 erkennt der Beklagte – wie ausgeführt – unter Formulierung diverser Zielsetzungen bei A. auch zutreffend einen Hilfebedarf i.S.v. § 27 Abs. 1 SGB VIII. Insoweit wird ausgeführt, dass A. an einem hohen Mangel an Selbstvertrauen leide und sehr verschüchtert wirke. A. erscheine als tendenziell isolierter Jugendlicher, der deutlich jünger wirke. Da A. in der Lage sei, Anforderungen nachzukommen, wenn entweder der Druck sehr hoch sei bzw. er eigenmotiviert sei, spreche dies durchaus von einer gewissen Reflexions- und Regulationsfähigkeit und auch Anstrengungsfähigkeit, wenn das Bedürfnis intrinsisch motiviert sei. Positiv hervorzuheben sei auch, dass A. im schulischen Kontext integriert sei und Leistungen eigenständig erbringen könne. Wichtig scheine zwar zu sein, dass er von den Lehrkräften engmaschig begleitet und bei Bedarf entsprechend zurückgeführt werde. Ihm sei es jedoch unter diesen Rahmenbedingungen möglich, sich altersgemäß zu verhalten und Leistungen zu erbringen. Im Elternhaus hingegen werde A. nahezu gänzlich mittels einer 1:1 Betreuung begleitet. Altersgemäße Freiräume erhalte A. nicht. Aus fachlicher Sicht schienen A.´s Auffälligkeiten (z.B. provokantes/ablehnendes Verhalten) in direkten Zusammenhang mit einem schlechten Selbstwertgefühl und einem Umfeld zu stehen, welches ggf. nicht ausreichend wertschätzend und annehmend sei. Den Kindeseltern scheine es trotz bisher geleisteter Unterstützungsmaßnahmen noch nicht gelungen zu sein, A. entsprechend zu stabilisieren. Die aktuelle Familiendynamik (keine altersangemessene Begleitung, hohe Anspruchs-/Erwartungshaltung der Eltern) erscheine äußerst ungesund und nicht altersangemessen. Bei einer weiteren Aufrechterhaltung dieses Systems bestehe durchaus die Gefahr, dass sich die beschriebenen Verhaltensweisen verfestigten. Aus fachlicher Sicht scheine es dringend notwendig, dass A. zum einem therapeutisch angebunden werde, um seine ggf. bestehende Anpassungsstörung zu bearbeiten, und zum anderen benötige er ein wertschätzendes, annehmendes Umfeld. Da es den Eltern trotz der bereits geleisteten Unterstützungsmaßnahmen und ihrer vielfachen Bemühungen nicht gelungen sei, auf die Besonderheiten des Jungen bedarfsgerecht einzugehen, erscheine ein Wechsel in eine therapeutische Jugendwohngruppe dringend erforderlich.
Aufgrund der extrem engmaschigen Betreuungs- und Erziehungsleistung sowie der beobachtbaren Verhaltensweisen von A. innerhalb der Familie könnten auch bei den Klägern große Ängste und eine Orientierungslosigkeit bezüglich ihrer Kinder festgestellt werden. Diese wirkten sich im Erziehungsverhalten dahingehend aus, dass eine Loslösung und altersangemessenen Begleitung kaum möglich sei. Somit wäre es als zielführend anzusehen, die Maßnahmen der Kinder mit einer Therapie der Eltern zu flankieren, um eine ganzheitliche Auflösung der Problematik anzustreben.
Hinsichtlich des jugendpsychiatrischen Facharztgutachtens wird ausgeführt, dass das Gutachten ambivalent formuliert und bezüglich A.´s Bedarf kritisch zu betrachten sei. Zudem gehe aus dem Gutachten keine klare Diagnose, jedoch ein eindeutiger therapeutischer Bedarf hervor.
Aus den Konzeptangaben von Frau Dr. B. sei eine detaillierte Methodik nicht zu entnehmen. Gemäß den Erzählungen der Kläger und den Stundenabrechnungen sei die Maßnahme durchaus sehr kritisch zu betrachten, da zum einen die Zielorientierung (Hauptziel sei die Bearbeitung der Anstrengungsverweigerung) fraglich sei und die Durchführung (sehr lange Interventionen zwischen 5 bis 15 Stunden pro Tag) als unangemessen zu betrachten sei.
Als Zielsetzungen im Hilfeprozess wurden neben einer therapeutischen Anbindung die Erhöhung des Selbstbewusstseins, die Steigerung der Konzentrationsfähigkeit, der Aufbau bzw. Erhalt von Freundschaften, die Erarbeitung eigener Werte bzw. Normen, die Erweiterung der Selbstständigkeit, die Ermöglichung einer altersangemessenen Freizeitbeschäftigung sowie die Erarbeitung einer Zukunftsperspektive gelistet.
Als Maßnahmen wurden im Folgenden eine psychiatrische Differenzialdiagnostik im stationären Setting, systemische Familientherapie sowie eine therapeutische Jugendwohngruppe vorgeschlagen.
Der Beklagte hat an dieser Beurteilung – zumindest soweit aus den Akten erkennbar – unverändert festgehalten, ohne sich in irgendeiner Weise mit der mit Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 13. Februar 2020 vorgelegten fachärztlichen Stellungnahme vom … … … auseinanderzusetzen. Dementsprechend wiederholt auch der ablehnende Bescheid vom 2… … lediglich die bisherigen Ausführungen, ohne weiter auf die Stellungnahme einzugehen.
Der Beklagte hat in Bezug auf die vorgelegten jugendpsychiatrischen Facharztgutachten bereits hinsichtlich der Kritik an dem Gutachten vom … … … seine eigene Kompetenz überschritten, indem er eine eigene medizinische Diagnose hinsichtlich der seelischen Behinderung des A. vorgenommen hat. Sofern der Beklagte ein Facharztgutachten als nicht hinreichend substantiiert beurteilt, hat er keine eigene Diagnose zu erstellen, sondern eine entsprechende Ergänzung des Gutachtens durch den jeweiligen Facharzt einzufordern bzw. ein weiteres Facharztgutachten in Auftrag zu geben (vgl. § 35a Absatz 1a Satz 1 SGB VIII). Dieses Verhalten mag noch als unschädlich betrachtet werden, da im vorliegenden Verfahren nicht der Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII gegenständlich ist – der im Übrigen jedoch durch den Beklagten im vorliegenden Verfahren gegebenenfalls zusätzlich zu prüfen gewesen wäre (s.o.). Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie nimmt jedoch in der Stellungnahme vom … … … explizit Stellung zu den bisherigen Ausführungen des Beklagten. Diese Ausführungen stellen zwar überwiegend lediglich – im Widerspruch zu den Feststellungen des Beklagten stehende – Beobachtungen und Bewertungen außerhalb der Fachkompetenz der Fachärztin dar. Soweit sie jedoch (nochmals) eine Anpassungsstörung vor dem Hintergrund einer Bindungsstörung und Frühtraumatisierung (ICD-10 F 43.2) diagnostizierte und darauf hinwies, dass eine Aufnahme von A. in eine therapeutische Wohngruppe angesichts des dann notwendigen Beziehungsabbruchs zu seinen Eltern und seiner Familie und der Herausnahme aus seinem gewohnten Umfeld aus ihrer Sicht eine Kindeswohlgefährdung bedeuten würde, hat sich der Beklagte mit dieser fachlichen Bewertung zumindest sachgerecht auseinanderzusetzen. Dies ist jedoch völlig unterblieben.
Ebenso hat der Beklagte im Rahmen seiner Bewertung nicht berücksichtigt, dass sämtliche angehörte Lehrkräfte von A. ausgeführt haben, dass das Verhalten von A. altersgemäß sei und eine deutlich positive Entwicklung – auch unter Bezugnahme auf die Förderung durch Frau Dr. B. – vollzogen habe. Auch diese Aussagen hätten jedoch Anlass gegeben – insbesondere vor dem Hintergrund der Aussage der Fachärztin – weitere Maßnahmen abseits der therapeutischen Jugendwohngruppe hinsichtlich der Geeignetheit zu überprüfen.
Zudem ist das Hilfeplanverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Auswahl der Hilfeart durch den Beklagten ist nicht Ergebnis eines kooperativen Entscheidungsprozesses gewesen. Die Kläger als Leistungsadressaten wurden nicht ausreichend beteiligt.
Gemäß § 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII soll als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen ein Hilfeplan aufgestellt werden. Aus dieser Regelung folgen ein subjektiv-rechtlicher Anspruch des Leistungsberechtigten auf qualifizierte Beteiligung im Hilfeplanverfahren und dem korrespondierend eine Pflicht zur Beteiligung auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Die Einbeziehung der Personensorgeberechtigten, Kinder oder Jugendlichen ist ein entscheidendes Element der Leistungsgewährung im Kinder- und Jugendhilferecht. Beteiligung meint nicht nur die Mitwirkung bei der Feststellung bzw. Ermittlung von etwaigen Tatbestandsvoraussetzungen, sondern setzt eine aktive Mitwirkung, eine Partizipation der Betroffenen im Rahmen eines interaktiv gestalteten Prozesses voraus. Die Betroffenen sollen aktiv an der Leistungsgewährung mitgestalten und mitarbeiten, weil dies einen wesentlichen Garant für den Erfolg von Leistungen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilferechts darstellt. Es geht nicht darum, einseitig Leistungen „zu verordnen“, sondern darum, unter Einbezug der Betroffenen zu einer gemeinsamen, konsentierten und dann akzeptierten Entscheidungsfindung zu gelangen (vgl. zum Ganzen: von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII Rn. 51 m.w.N.).
Nach diesen Maßgaben ist die hier lediglich erfolgte Information der Kläger über den von dem Beklagten festgestellten jugendhilferechtlichen Bedarf sowie die vorgeschlagenen Maßnahmen ausschließlich über das – sehr knapp gehaltene – Schreiben vom 7. Januar 2020 an ihren Bevollmächtigten nicht ausreichend. Es enthielt keine ausreichend nachvollziehbare Begründung, die den Klägern eine umfassende Auseinandersetzung mit der durch den Beklagten eruierten Mangelsituation und dessen Lösungsvorschlägen ermöglicht hätte. So ist für das Gericht auch unverständlich, dass der Beklagte diesem Schreiben nicht wenigstens seine ausführliche soziale Diagnose beifügte, um die Kläger umfassend über die gewonnenen Erkenntnisse zu informieren.
Neben dem Kriterium des erzieherischen Bedarfs für die Auswahl der geeigneten Hilfe besteht nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 SGB VIII die Verpflichtung, bei der Entscheidung für eine bestimmte Hilfe das engere soziale Umfeld des Kindes oder Jugendlichen einzubeziehen. Mit dieser Verpflichtung trägt der Gesetzgeber dem Gedanken der Lebensweltorientierung Rechnung. Gemeint ist damit nicht nur die (formale) Beteiligung von Bezugspersonen aus dem sozialen Umfeld des Kindes oder Jugendlichen, sondern auch die Berücksichtigung der konkreten sozialen Lebenslage, der Verhältnisse und der Biographie des Kindes oder Jugendlichen. Das bedeutet, dass die Auswahl der Hilfeart in einem engen Bezug zur komplexen individuellen Lebenssituation der betroffenen Kinder und Jugendlichen stehen muss und sich am Lebensfeld der Adressaten zu orientieren hat (vgl. Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 27 SGB VIII Rn. 77 ff.).
Die Kläger haben in ihrer Reaktion auf das Anhörungsschreiben mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 13. Februar 2020 gegenüber dem Beklagten geltend gemacht, die vorgeschlagene Aufnahme von A. in eine therapeutische Jugendwohngruppe sei absurd, da gerade Adoptivkinder unter starken Verlustängsten litten, und dies durch die kinder- und jugendpsychiatrische Stellungnahme von Frau Dr. J. vom … … … untermauert.
Mit diesen Einwänden hat sich der Beklagte nicht ansatzweise auseinandergesetzt. Er hat weder schriftlich noch persönlich eine weitere Kommunikation mit den Klägern gesucht, sondern stattdessen bereits am … … … den streitgegenständlichen Bescheid erlassen. Auch dessen Begründung erschöpft sich im Wesentlichen in dem Hinweis, dass die von den Klägern begehrte Hilfemaßnahme nicht geeignet sei, A.‘s Bedarf gerecht zu werden, und der Empfehlung einer stationären Differenzialdiagnostik und seiner Aufnahme in eine therapeutische Wohngruppe. Diese Empfehlung ist mitnichten das Ergebnis eines gebotenen interaktiven Prozesses und gemeinsamer Überlegungen zur Situationsveränderung im Rahmen einer Verständigung auf anzustrebende Ziele und die dazu notwendigen Schritte.
Allein die Tatsache, dass die Kläger aus Sicht des Beklagten möglicherweise von vornherein ausschließlich auf eine Fortführung der Erziehungshilfe durch Frau Dr. B. „fixiert“ und bereits seit dem ersten Seminarwochenende in Bonn für keine andere Jugendhilfemaßnahme mehr zugänglich schienen, konnte ihn nicht von der Verpflichtung entbinden, sich zumindest mit den Einwendungen der Kläger und der Kinder- und Jugendpsychiaterin auseinanderzusetzen und unter Berücksichtigung der besonderen Situation des A. als frühtraumatisiertes Adoptivkind nach alternativen fachlichen Möglichkeiten – jenseits der Heimunterbringung – gemeinsam mit den Klägern zu suchen bzw. diese zumindest an die Kläger heranzutragen.
Dies gilt umso mehr, als die erforderliche Mitwirkung der Leistungsberechtigten bei der Auswahl der geeignete Hilfeart dazu führen kann, dass eine aus fachlicher Sicht richtige Hilfeart ausscheidet, weil sie von den Mitwirkungsberechtigten nicht akzeptiert wird. Die Hilfe ist in diesem Fall nicht geeignet („subjektive Unmöglichkeit“), weil sie nicht tauglich ist, die Zielerreichung, nämlich die Behebung des Defizits, zu fördern (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 40; Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 27 SGB VIII Rn. 55).
Auch wenn es das Ziel der Fachkraft sein wird, eine aus ihrer Sicht optimale Gestaltung des Hilfeprozesses zu initiieren, bleibt sie jedoch auf Konsens und Akzeptanz auf der Seite der Leistungsberechtigten und -adressaten angewiesen. Diese müssen von Sinn und Zweck der einzelnen Schritte überzeugt sein und die Abmachungen auch mittragen, da andernfalls die Eignung der Hilfe aus subjektiven Gründen verneint werden muss. Dies kann bedeuten, dass die Verständigung und Einigung nicht auf der Ebene des Optimums fachlicher Möglichkeiten, sondern auf der Ebene einer anderen Alternative erfolgt (Wiesner/Schmid-Obkirchner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 36 SGB VIII Rn. 13).
Wenn etwa eine Fremdunterbringung des Kindes von den personensorgeberechtigten Eltern abgelehnt wird, ist diese Hilfeart aus subjektiven Gründen nicht geeignet. Der Jugendhilfeträger muss dann andere Möglichkeiten eruieren und ggf. die effektivste der verbleibenden geeigneten Hilfen anbieten und gewähren, auch wenn diese keine optimale Sicherung des Kindeswohles gewährleistet (VG Hannover, U.v. 4.3.2008 – 3 A 6111/07 – juris Rn.37 f.).
Nach alledem litt zum einen das Hilfeplanverfahren an erheblichen Defiziten, zum anderen war die von vom Beklagten gegebene Maßnahmeempfehlung insbesondere ohne hinreichende Berücksichtigung der fachärztlichen Stellungnahme sowie mangels klägerischer Akzeptanz nicht geeignet und daher sachlich nicht vertretbar.
Dem Beweisantrag auf die Feststellung der „Tatsache“, dass die vom Jugendamt des Beklagten vorgeschlagene Hilfe in Form der Heimunterbringung ungeeignet – weil nicht erfolgsversprechend – erscheint (Antrag Nr. 2 Spiegelstrich 1 Unterspiegelstrich 8 Unterfall 2), war daher nicht mehr nachzukommen. Im Übrigen kann ein Zeuge grundsätzlich nur über seine eigenen Wahrnehmungen vernommen werden. Soll aus seinen Wahrnehmungen auf ein bestimmtes weiteres Geschehen geschlossen werden, ist nicht dieses weitere Geschehen, sondern nur die Wahrnehmung des Zeugen tauglicher Beweisgegenstand. Wertungen und rechtliche Subsumtionsergebnisse sind kein zulässiges Thema für einen Zeugenbeweis (Dahm NVwZ 2000, 1385); die Schlüsse aus den Wahrnehmungen des Zeugen muss vielmehr das Gericht ziehen (Eyermann/Schübel-Pfister, 15. Aufl. 2019, VwGO § 86 Rn. 55). Zudem wurde nicht substantiiert dargelegt, inwieweit die beantragte Beweiserhebung andere bzw. bessere Erkenntnisse bringen würde, als diejenigen Erkenntnismittel, die zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurden, insbesondere die bereits im Verfahren vorgelegten Stellungnahmen der Fachärztin und von Frau Dr. B.
b) Die Kläger durften auf Grund dieses Systemversagens eine aus ihrer (Laien-)Sicht geeignete und erforderliche Maßnahme gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ab … … … auf Kosten des Beklagten selbst beschaffen.
Der Beklagte war über den Hilfebedarf hinreichend informiert, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Hilfe zur Erziehung lagen – auch aus Sicht des Beklagten – vor und die aufgrund des Systemversagens verweigerte Hilfe zur Erziehung duldete keinen zeitlichen Aufschub bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel.
Unstreitig lag ein Hilfebedarf vor, der auch aus Sicht des Beklagten ein umfangreiches Hilfsangebot erforderlich machte. Nachdem der Beklagte vorliegend jedoch kein hinreichendes Hilfsangebot unterbreitet hatte, durften die Kläger im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Beklagten den sonst diesem zustehenden Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Die selbstbeschaffte Hilfe ist sodann im Hinblick auf ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit lediglich einer fachlichen Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leitungsberechtigten zu unterziehen.
Die Beurteilung der Kläger über die Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Maßnahme Ende Februar 2020 stellt sich in der Gesamtschau (gerade noch) als tragfähig dar, um den erzieherischen Bedarf bei A. zu decken.
aa) Geeignet ist eine Hilfe zur Erziehung in einer der in §§ 28 bis 35 SGB VIII ausdrücklich genannten oder einer unbenannten gleichwertigen Hilfeart dann, wenn sie generell tauglich ist, die Behebung der Mangellage im individuellen Fall zu fördern (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 27 Rn. 8 m.w.N.).
Dies ist hier in Bezug auf die Begleitung und Beratung durch Frau Dr. B. aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht der Kläger anzunehmen.
Aus der Konzeptbeschreibung sowie dem Entwicklungsbericht vom 1. September 2019 zu A. geht hervor, dass das Angebot von Frau Dr. B. konkret auf Adoptiv- und Pflegefamilien zugeschnitten ist.
Frau Dr. B. führt aus, dass sie seit über 30 Jahren mit frühtraumatisierten Adoptiv- und Pflegekindern und deren Familien arbeite. Nach einer Ausbildung zur Erzieherin und einer Kindergartenleitung habe sie ein Medizinstudium mit abschließender Promotion angeschlossen und anschließend als Assistenzärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Sie halte wissenschaftliche Vorträge, schreibe Artikel in psychiatrischen Fachzeitschriften und Bücher. Ihre Hilfe sei konkret, sowohl in der Krise als auch in der längerfristigen Begleitung. Als Spezialistin auf Basis einer Doppelqualifikation als Erzieherin und mit medizinisch-psychiatrischen Kenntnissen sowie durch Nutzung ihrer jahrzehntelangen Berufserfahrung helfe sie den Eltern, akute Krisen zu entschärfen und eine grundlegende Veränderung anzugehen. Hierzu zählten die sofortige Krisenintervention ebenso wie die begleitende Beratung. Wichtig sei es, die Adoptiv- und Pflegeeltern zu stärken und ihre Kompetenz zu erweitern. Hierbei geschehe nichts ohne Einverständnis der Adoptiv- oder Pflegeeltern; alles werde vorab detailliert besprochen. Sie arbeite mit dem Kind, um seine individuelle Überlebensstrategie, aber auch die nicht betroffenen Anteile des Kindes kennen und einschätzen zu lernen. Mit diesem Wissen, welches ein ständiges Arbeiten mit dem Kind erfordere, um die vielen Nuancen zu erfassen, die sich schon gebildet hätten oder noch bilden würden, begleite und berate sie dann anschließend die Pflege- oder Adoptiveltern, um sie immer kompetenter im Umgang mit der Überlebensstrategie ihres Pflege- oder Adoptivkindes zu machen. Es handle sich um eine pädagogische Beratung und Begleitung der Pflege- und Adoptivfamilie und nicht um ein therapeutisches Setting und auch nicht um eine Krankenkassenleistung.
Selbst wenn man auf der Basis dieser Konzeptangaben mit dem Beklagten sowohl die Methodik als auch die Zielorientierung und die Durchführung der Maßnahme durch Frau Dr. B. kritisch betrachten mag, ist aus Sicht der Kläger nachvollziehbar, dass sie diese „Hilfe zur Selbsthilfe“ speziell für ihr Familiensystem für geeignet hielten (und halten) und von einer entsprechenden Kompetenz bei Frau Dr. B. ausgingen (und ausgehen).
Für die Geeignetheit der Beratung und Begleitung der Familie durch Frau Dr. B. sprechen aus Sicht der Kläger vor allem die von ihnen wahrgenommenen und von verschiedenen Seiten bestätigten Fortschritte in A.‘s Entwicklung. Die Kläger konstatieren, sie hätten in den vergangenen fünf Jahren hart an sich gearbeitet, selbst viel dazugelernt und verstünden A.‘s Problem, das nur sehr langsam aufzuweichen sei. Dennoch seien viele kleine Erfolge zu sehen, wie die Lehrer und auch die Gutachten zeigten. Ebenso sehe man dies an den schulischen Leistungen sowie an den Fortschritten von A. in Sport und Musik. An diesen Nachweisen sei eine Verbesserung festzumachen. Durch die einwöchigen Kurse habe A. nie etwas versäumt, sondern im Gegenteil viel mehr Antrieb bekommen und er sei von Schuljahr zu Schuljahr besser geworden. Dies werde sowohl durch die Lehrer als auch durch seine Leistungen bestätigt. Frau Dr. B habe eine sehr effektive Methode, den Kindern zu helfen, ihre Anstrengungsverweigerung aufzulösen und ihnen die Angst zu nehmen, Dinge selbst zu tun. Die Konzentrationsfähigkeit sei bei A. von fünf Minuten auf sechs bis sieben Stunden gestiegen und müsse nur erhalten werden. A. sei ein sehr kluges Kind mit einer hohen Auffassungsgabe und Merkfähigkeit. A. werde in der Schule immer besser. Er habe gute Pläne und Eltern, die ihn liebten.
Die Einschätzung der Kläger wird gestützt durch die Ausführungen von Frau Dr. B. zu A.‘s Entwicklung. Danach habe er sich 2015 noch schwer misstrauisch, demonstrativ dominant und oppositionell-verweigernd gezeigt und bis 2017 seien sie nur damit beschäftigt gewesen, erst einmal ein normales Setting herzustellen. So habe sich A. etwa einfach so auf den Fußboden gelegt und sei eingeschlafen oder er habe einfach nicht mehr mitgemacht. Im Laufe des Jahres 2017 sei die positive Beziehung zwischen A. und Frau Dr. B. immer besser geworden und so schaffe sie es heute in den meisten Fällen, ihn schon beim Versuch zu stoppen, sich hinzulegen. Selbst wenn er dann einmal wirklich liege, sei es mittlerweile möglich, aufgrund ihrer sehr positiven Beziehung und weil sich A. einfach durch die Beratung und Begleitung enorm habe weiterentwickeln können, dass er binnen fünf Minuten wieder mit ihr im Arbeits-/Anstrengungssetting sei. Bis heute aber sperre sich A., trotz hoher Intelligenz wirklich in ein Arbeiten einzusteigen, sondern er öffne sich nur kurze Zeit, meist zum Schluss der Intensivwochen. A. sei mittlerweile zu einem sehr sympathischen, verständigen Jugendlichen herangewachsen. Wenn man aber genauer hinsehe, bemerke man schon die risikoreichen Feinheiten. Das heiße, sie seien schon weit gekommen, aber es bleiben noch eine Menge zu tun. Zusammenfassend empfiehlt Frau Dr. B. eine weitere Begleitung von 30 Stunden im Monat unter Einbeziehung der sehr notwendigen Intensivstunden in Bonn.
Auch die Ausführungen der Kinder- und Jugendpsychiaterin in den Stellungnahmen vom … … … und … … … unterstützen die Einschätzung der Kläger über die Eignung der Hilfe durch Frau Dr. B. Laut Frau Dr. J. habe sich bei A. im Vergleich zu den Voruntersuchungen eine große Veränderung seines Verhaltens und Befindens gezeigt. Dies zeige sich unter anderem auch im Ergebnis des Intelligenztests. Er habe es geschafft, sich auf dem staatlichen Gymnasium sozialadäquat zu verhalten, mit Lehrern und Mitschülern auszukommen und passable Noten zu erreichen. Die Anstrengungsbereitschaft, die damals praktisch nicht vorhanden gewesen sei, habe sich inzwischen so stabilisiert, dass er auch in der Freizeit kontinuierlichen Beschäftigungen nachgehen könne. Er habe tatsächlich in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht, habe viele seiner Entwicklungsnachteile aufholen können und sein Rückstand in der sozial-emotionalen Entwicklung gegenüber Gleichaltrigen habe sich bedeutend verringert. In der projektiven Testung zeige sich, dass zum einen die guten Fortschritte vor allem externer Einflussnahme zu verdanken seien, zum anderen auf der Ebene der Persönlichkeit und emotionalen Entwicklung doch noch deutliche Auffälligkeiten zu sehen seien. A. und sein Umfeld, also die Kläger, bedürften deshalb weiter intensiver Beratung, die sie bisher in sehr hilfreicher Weise bei Frau Dr. B. erhalten hätten.
Auch können die Kläger sich bei der Einschätzung der Geeignetheit der von ihnen gewählten Hilfe auf die positive Resonanz hinsichtlich A.‘s Entwicklung von Seiten seiner Lehrerinnen und Lehrer stützen, welche die Maßnahmen durch Frau Dr. B. mehrheitlich ausdrücklich befürworten. Zwar lagen den Klägern im Zeitpunkt ihrer Entscheidung die gegenüber dem Beklagten gemachten und in der sozialen Diagnose angeführten Stellungnahmen der Lehrer nicht vor, es ist jedoch davon auszugehen, dass die Kläger entsprechende Rückmeldungen auch selbst von den Lehrern des A. erhalten haben. So sei nach den Angaben des Schulrektors die erbrachte Hilfe bisher zielführend gewesen, da A.‘s Leistungsbereitschaft, seine Konzentrationsfähigkeit und sein Verhalten eine deutlich positive Entwicklung vollzogen hätten. Ebenso berichtet Herr Dr. L. (Geographie und Englisch) von einer erfreulich positiven Entwicklung, auch wenn A. ggf. noch aufgefordert werden müsse, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren; seinem Eindruck nach habe A. von der Förderung von Frau Dr. B. profitiert, da sich sein Verhalten und seine Leistungsbereitschaft deutlich verbessert hätten. Auch Herr R. (Deutsch, Geschichte, Geographie) beschreibt eine deutlich positive Entwicklung; er habe das Gefühl, dass A. viel an sich gearbeitet und ggf. gelernt habe, mit seiner „Krankheit“ umzugehen; auch Herr R. befürworte daher ausdrücklich die Weitergewährung der Hilfe. Die Klassenlehrerin nimmt A. als gut in die Klassengemeinschaft integriert wahr, sieht aber noch Unterstützungsbedarf im Bereich der Konzentration.
Auch diese Ausführungen sprechen dafür, dass die Kläger aus ihrer Sicht im Februar 2020 die bisherige Begleitung und Beratung durch Frau Dr. B trotz der großen Entfernung nach Bonn und des Fehlens im Unterricht als erfolgreich und damit auch als für die weitere erzieherische Stabilisierung ihres Sohnes geeignet einschätzen durften.
Vor diesem Hintergrund war auch mangels Entscheidungserheblichkeit den weiteren vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung hilfsweise gestellten Beweisanträgen auf Einvernahme von Frau Dr. J. und Frau Dr. B. als sachverständige Zeuginnen nicht nachzukommen, soweit sich die Anträge im Kern auf die Feststellung der Eignung der Maßnahmen von Frau Dr. B. zur Deckung des erzieherischen Bedarfs bei A. richteten. Dies gilt für die Anträge Nr. 1 Spiegelstrich 3 und 6 sowie Nr. 2 Spiegelstrich 1 Unterspiegelstrich 1 bis 8 mit Unterfall 1, die sich zum einen auf die Feststellung der bereits durch die Unterstützung von Frau Dr. B. erzielten und sich in verschiedensten Lebensbereichen des A. manifestierenden Erfolge sowie zum anderen auf eine Prognose weiterer zu erwartender Fortschritte abzielten. Darüber hinaus scheint Frau Dr. B. als Zeugin „in eigener Sache“ für eine Aussage über die Erfolgsaussichten ihres eigenen Tuns ungeeignet (vgl. insoweit auch die gesetzliche Wertung in § 35a Abs. 1a Satz 4 SGB VIII).
Schließlich lagen bei A. nach den fachärztlichen Gutachten auch keine derart schwerwiegenden psychischen Störungen mit der Folge, dass die Jugendhilfe geeigneter Weise nur im Anschluss oder flankierend zu psychiatrischer Behandlung oder einer Psychotherapie hätte eingesetzt werden können, vor (vgl. dazu BeckOGK/Bohnert, Stand: 1.10.2020, SGB VIII § 27 Rn. 33).
bb) Auch die Einschätzung der Kläger hinsichtlich der Erforderlichkeit der Maßnahme ist aus ihrer maßgeblichen ex-ante Sicht gerade noch sachlich vertretbar.
Notwendig ist die Hilfe zur Erziehung, wenn sie zur Bedarfsdeckung erforderlich ist, weil andere Leistungen oder Maßnahmen des SGB VIII, die Hilfe Dritter oder Eigenhilfe der Eltern nicht ausreichen, um den festgestellten erzieherischen Bedarf zu decken. Nicht notwendig ist sie, wenn eine weniger intensive Hilfe zur Bedarfsdeckung ausreichend ist. Sind mehrere Hilfen gleich geeignet, diejenige zu wählen, welche weniger belastend auf die Familie einwirkt (Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 27 SGB VIII, Rn. 57; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 27 Rn. 10).
Niedrigschwellige Hilfen kamen vorliegend nicht in Betracht (vgl. schon die Ausführungen des Verwaltungsgerichts im „Altverfahren“, U.v. 6.12.2017 – 18 K 16.3069 – n.v. Ziff. 3.2.2.2). Die vom Beklagten vorgeschlagene Heimunterbringung nach § 34 SGB VIII war aus Sicht der Kläger von vornherein ungeeignet und hätte zudem den deutlich intensiveren Eingriff in das Familiensystem bedeutet.
Auch der extrem hohe Stundensatz der Beratung und Begleitung von Frau Dr. B. schließt im Rahmen einer Gesamtschau die Erforderlichkeit der Maßnahme nicht aus (vgl. auch dazu schon VG München, U.v. 6.12.2017 a.a.O.). Zwar muss sich der Selbstbeschaffer den Mehrkostenvorbehalt grundsätzlich entgegenhalten lassen; dies kann jedoch – bis zur Grenze der Unwirtschaftlichkeit der selbst beschafften Leistung – dann nicht gelten, wenn aus Sicht des Leistungsberechtigten keine Alternative der Bedarfsdeckung offensichtlich war oder vom Jugendhilfeträger aufgezeigt worden ist (LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 18). Finanzielle Gesichtspunkte spielen also letztlich nur dann eine Rolle, wenn mehrere, unterschiedlich teure Hilfearten gleich gut zur Deckung des (erzieherischen) Bedarfs geeignet sind; in diesem Fall ist die kostengünstigere Hilfeart auswählen (Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 27 SGB VIII, Rn. 79).
Alternative, gleich geeignete Hilfearten standen jedenfalls aus der maßgeblichen Sicht der Kläger nicht zur Verfügung; im Übrigen wäre auch die vom Beklagten empfohlene Heimunterbringung mit extrem hohen Kosten verbunden gewesen.
c) Schließlich duldete die Inanspruchnahme der Hilfe zur Bedarfsdeckung auch keinen zeitlichen Aufschub i.S.v. § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b SGB VIII.
Nach dieser Vorschrift kann eine Unaufschiebbarkeit der Leistungserbringung die Selbstbeschaffung auch dann rechtfertigen, wenn – wie hier infolge eines fehlerhaften Hilfeplanverfahrens – die Hilfegewährung zu Unrecht abgelehnt wurde; in diesem Fall setzt die Zulässigkeit der Selbstbeschaffung aber voraus, dass eine Entscheidung über ein gegen die Ablehnung der Hilfegewährung eingelegtes Rechtsmittel nicht abgewartet werden konnte.
Die Deckung des erzieherischen Bedarfs bei A. und die darauf gerichtete Unterstützung der Kläger war aufgrund der nach wie vor latent eskalationsgefährdeten familiären Situation und insbesondere im Hinblick auf die fortbestehenden Rivalitäten der Söhne eilbedürftig.
Die Entscheidung über die vorliegende Klage vom 1. Oktober 2019 bzw. über die Klage M 18 K 20.1374 vom 27. März 2020 konnten die Kläger angesichts der regelmäßigen gerichtlichen Laufzeiten nicht abwarten. Auch der Verweis um das Nachsuchen um vorläufigen Rechtsschutz ist den Klägern im vorliegenden Fall (noch) nicht zumutbar gewesen. Da die Kläger bereits in früheren Jahren umfangreich die Kosten für die Hilfemaßnahme vorverauslagte haben, bestand die hinreichende Gefahr, dass im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens die Dringlichkeit für eine Anordnung nach § 123 VwGO bezweifelt worden wäre (vgl. dazu z.B. vgl. Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36a Rn. 52 f.; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 20 jeweils m.w.N.).
d) Nach alledem ist der Beklagte nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII verpflichtet, die den Klägern für die Beratung und Begleitung durch Frau Dr. B. ab … … … bis 15. Dezember 2020 entstandenen Aufwendungen für A. zu erstatten. Das Gericht geht hierbei über den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung und Entscheidung hinaus, da davon auszugehen ist, dass das bisher vorliegende Systemversagen, das zu dem Erstattungsanspruch führt, sachgerecht erst ab diesem Zeitpunkt mit der Durchführung eines ordnungsgemäßen Hilfeplanverfahrens, zu dem der Beklagte weiterhin aufgerufen ist – vgl. dazu nachfolgend unter II. – beendet ist.
II.
Über den tenorierten Zeitraum hinaus besteht für die Zukunft kein Anspruch der Kläger aus §§ 27, 31 SGB VIII auf Gewährung der Jugendhilfe in Form der konkret beantragten Beratung und Begleitung durch Frau Dr. B. bis 1. April 2022.
Ein Anspruch auf Bewilligung einer konkret begehrten Hilfemaßnahme kommt nur in Betracht, wenn sich der Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der Hilfe auf eine oder mehrere gleichermaßen geeignete und notwendige Maßnahmen verengt hat (BayVGH, B.v. 31.3.2004 – 12 CE 03.3431 – juris Rn. 14; OVG NRW, B.v. 9.7.2020 – 12 A 2816/17 -juris Rn. 14 jeweils m.w.N.).
Dies ist hier für die Zukunft nicht der Fall.
Vielmehr steht der Einschätzungsspielraum bezüglich der Notwendigkeit und Geeignetheit einer zu installierenden Jugendhilfemaßnahme (wieder) dem Beklagten zu. Dieser ist nunmehr gehalten, das Hilfeplanverfahren ordnungsgemäß fortzuführen, insbesondere ein Hilfeplangespräch mit den Klägern unter Einbeziehung auch von A. durchzuführen und im Rahmen eines kooperativen Prozesses unter Einbeziehung sämtlicher Erkenntnisse nach dem Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit eine Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation zu finden. Sofern im Rahmen eines solchen Hilfeplanverfahrens jedoch keine einvernehmliche, fachlich vertretbare Lösung gefunden werden kann, kann der Beklagte ggf. auch berechtigt sein, eine Hilfeleistung mangels Mitwirkungsbereitschaft insgesamt abzulehnen.
Im Übrigen könnte eine Verpflichtung auch lediglich für einen abschnittsweise zu betrachtenden Zeitraum erfolgen, der die weitere Entwicklung des A. berücksichtigt. Die beantragte Verpflichtung bis zur Volljährigkeit des A. über einen Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahren übersieht diese Voraussetzung der Gewährung von Maßnahmen der Jugendhilfe gänzlich.
Die Verpflichtungsklage war daher insoweit abzuweisen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 2. Alt. VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
IV.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 709 ff. ZPO.


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